Die Rhetorik-Matrix

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Die Rhetorik-Matrix
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Georg Nagler

Die Rhetorik-Matrix

Erfolgreich reden mit neurolingualer Intervention

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8463-5025-6

Inhalt

  Vorwort

 GrundlagenI. Einleitung: Wozu reden in Zeiten von WhatsApp und Twitter?II. Strukturen unseres Denkens1. Zwei Sinnes- und Aktionssysteme2. Zwei Regelkreise3. Drei wichtige Instrumente der neurolingualen Intervention4. Rhetorik für „Econs“ (Vernunftmenschen) oder „Humans“ (Alltagsmenschen)?III. Der Hörer ist das Ziel: Was ein Redner bei seinen Hörern voraussetzen kann – und wie er an sie herankommt1. Die Interaktion Redner – Hörer2. Kommunikation als Transaktion3. Auf dem Weg zur neurolingualen Intervention (NLI)

 VorbereitungIV. Die richtige Strategie für eine Rede = die richtige Vorbereitung einer Rede1. Vier Schritte für die Vorbereitung einer Rede2. Die kluge Vorbereitung – sammeln, prüfen und sortierenV. Der Redeaufbau – die richtige Gliederung für den richtigen Redetyp1. Die Gelegenheitsrede – nutzen Sie die Gelegenheit!2. Die Sachrede/das Referat: Information geht vor rhetorischen Spielchen3. Die Überzeugungsrede – die Königin der Reden4. Der Diskussionsbeitrag5. Der richtige Gliederungstyp für die individuelle Rede

 Strategien der ArgumentationVI. Vom Standpunkt des Redners zur Überzeugung des Zuhörers1. Reden, um zu überzeugen2. Reden mit Gefühl – mental-emotionale Hörerführung3. Wahrscheinlichkeit und Plausibilität schlägt WahrheitVII. Die Argumentation und ihre unterschiedlichen Wirkungsniveaus1. Zwingende oder logische Argumente2. Argumente mit hohem Überzeugungswert3. Plausible Argumente: 11 klassische Argumente der Antike4. Manipulative Argumente oder reine Scheinargumente5. Destruktive Argumentationsführung6. Der ArgumentationsaufbauVIII. Der sprachliche Inhalt der Rede1. Allgemeines: Aktiver Wortschatz und rhetorische Stilmittel2. Besondere rhetorische Stilmittel und Instrumente3. Die rhetorischen Stilmittel im Einzelnen4. Die rhetorische Optimierung der Einleitung5. Der Schluss – ein unvergessliches FinaleIX. Die rhetorische Gestaltung des Hauptteils

 HaltenX. Der richtige Auftritt – innerlich und äußerlich1. Der richtige psychische Tonus oder: Spannung tut dem Redner gut!2. Die Redeschwäche oder der „innere Schweinehund“3. Das Lampenfieber – der rhetorische KolbenfresserXI. Die Körpersprache – ganzheitlich erfolgreich als Körperredner1. Erkenntnisse der Psychologie – Erfahrungen der Rhetorik2. Die wichtigsten Elemente des Codes der Körpersprache3. Das richtige ÄußereXII. Sprechen – aber richtig1. Die physiologischen Grundlagen2. Wesentliche Empfehlungen für den verbesserten Einsatz von Sprache und StimmeXIII. Welcher Rednertyp sind Sie?XIV. Resümee: Auf dem Weg zu einem neuen wissenschaftlichen Verständnis der angewandten Rhetorik

  Literaturverzeichnis

Ich widme dieses Buch meiner Frau Kerstin

in Liebe

und

Dankbarkeit für viele – auch rhetorische – Einsichten

Vorwort

Gute und erfolgreiche Rhetorik: Seit Jahrtausenden wissen Redner, Zuhörer und die Rhetorik als Wissenschaft um die enorme Bedeutung des überzeugenden Redens. Eine erfolgreiche Rede kann sowohl an der Hochschule, etwa in einem Seminar, als auch im Berufsleben, etwa bei einer Projektpräsentation, entscheidende Vorteile bringen. Gute Redner sammeln daneben viele Pluspunkte im gesellschaftlichen Leben. Erfolgreichen Rednern wird viel Vertrauen gerade in ihre charakterlichen Eigenschaften und ihre Führungsfähigkeiten entgegengebracht. Dabei bieten sich dem Redner in unserer Zeit umwälzender wissenschaftlicher Erkenntnisse neue Chancen, aber auch enorme Herausforderungen. Immer deutlicher zeigt sich, dass neben der klassischen Rhetorik auch die neuen Ergebnisse neurolingualer Forschung eine wichtige Rolle für Erwerb und Anwendung rhetorischen Könnens spielen. Wer sie nicht verinnerlicht, wird das anspruchsvolle Ziel eines erfolgreichen Redners künftig kaum mehr erreichen können.

Die Rhetorik durchlebt in den letzten 20 Jahren eine tiefgreifende Revolution. Was früher als sogenannte klassische Rhetorik für Jahrhunderte galt und auch heute noch weitgehend an den Universitäten gelehrt wird, steht aktuell auf dem Prüfstand. Ausgangspunkt dieser Umwälzung sind die modernen Forschungsergebnisse der messenden, analytischen Psychologie. Sie führen zu neuen, sehr plausiblen Modellen dafür, welche psychologischen Prinzipien in vielen Kommunikationssituationen auf die Adressaten wirken. Denken Sie nur an das sogenannte Neuro-Marketing, die Psychometrie oder die modernen Aussagen der Verhaltensökonomie. Es gibt zunehmend neue wissenschaftliche Erkenntnisse auch dazu, wann ein Zuhörer bei vielen Rednern und Reden schlichtweg seine Aufmerksamkeit abschaltet oder gelangweilt weghört – aber bei anderen gebannt zuhört und sich zu dem ver-führen lässt, was dieser Redner beabsichtigt. Für viele Studierende, aber auch Praktiker in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft stellt sich daher eine zentrale Frage: Sind die Regeln der klassischen Rhetorik heute noch ausreichend, um eine gute Rede zu schreiben, ein guter Redner zu werden? Oder kann ich auch moderne Ansätze für meine eigene Redepraxis nutzen?

Die klassischen Leitlinien und Lehrmeinungen von 2500 Jahren rhetorischer Wissenschaft können heute wirkungspsychologisch unterlegt werden. Die Ziele der Kommunikation bleiben zwar an sich unverändert: Es geht darum, im wissenschaftlichen Disput argumentativ die Oberhand zu behalten, den Zuhörer zu einer politischen Entscheidung in einer Wahl zu motivieren oder ihn zu einem Kauf oder einer zentralen Meinungseinstellung zu bringen. Aber was als rhetorische Strategie oder als Wirkmechanismus schon lange bekannt war, das kann nunmehr mit den sogenannten Urteils- und Kognitionsheuristiken psychologisch sehr genau analysiert und beschrieben werden.

Bislang glaubte man, es sei für eine Rhetorik-Ausbildung ausreichend, wenn man auf der Grundlage der klassischen Rhetorik eine Selbstanalyse des Redners durchführen und dann das Wesentliche an rhetorischer Wirkung durch Üben der einzelnen Teilbereiche verbessern würde. Wichtig war es dabei, den Verstand des Einzelnen als Ausgangspunkt und Zielwert im Auge zu behalten: Was logisch und vernünftig war, das sollte im logisch-vernünftigen Vortrag unter Verwendung der rhetorischen Stilmittel verbal und nonverbal an den Adressaten weitervermittelt werden. Wer etwa an der Universität im akademischen Disput unter Verwendung korrekter Argumentation überzeugender wirkte, der sollte logischerweise der erfolgreichere Redner sein (s. dazu beispielhaft den Bericht zum Münchner Debattier-Club der Universität „Ein Leben für Argumente“, SZ vom 23.10.2017, S. R 6).

Donald Trump steht (aktuell) an der Spitze einer neuen – zwar total „unkorrekten“, aber dennoch enorm wirkmächtigen – Rhetorik-Strategie: Sprich nicht an, was logisch und vernünftig ist! Sprich an, wovon du subjektiv eigentlich überzeugt bist, auch wenn es nicht logisch und nicht objektiv vernünftig ist. Und weil es sehr viele gibt, die das Gleiche tun (nicht nur in den USA, sondern auch in Europa), wirst du dann erfolgreich sein, wenn du bei den Hörern ihre tief im Unterbewusstsein verankerten und daher schon unbewusst wirkmächtigen subjektiven Überzeugungen adressierst. Verstärke diese emotional verankerten Einstellungen gezielt und so auch deinen Standpunkt, zumindest wenn du ihn der relativen Mehrheit deiner Sympathisanten vermitteln willst. Praktiziere das in einem Ausmaß, dass gerade diese Klientel sich vom Redner bestärkt fühlt und ihn deswegen umso mehr unterstützt.

Diese Rhetorik-Trends zeigen etwas Revolutionäres: Der Schlüssel zum neuen Verständnis der Rhetorik liegt nicht im bewussten Verstand – er liegt im Unterbewusstsein! Die Neuroökonomiker um Daniel Kahneman und die Neurobiologen um David Eagleman haben eine tiefgreifende Erkenntnis herausgearbeitet: Eigentlich alles, wovon wir glauben, bewusst überzeugt zu sein, ist weit überwiegend ein Produkt unserer unbewussten Voreinstellungen und Vorbewertungen. Nicht nur bei den klassischen sogenannten optischen Täuschungen, sondern auch bei den argumentativen und rhetorischen Überzeugungen und Äußerungen bestimmt im Wesentlichen das, was der Mensch in vielen Jahren gelernt und im Unbewussten abgespeichert hat, sein Denken und Reden. Und zwar so umfassend, dass alles, was er letztlich bewusst als richtige Wahrheit auszusprechen glaubt, überwiegend vom Unterbewusstsein voreingestellt wurde. Selbst wenn der Mensch abstrakt zu denken glaubt, mit klarem Verstand und völlig unbeeinflusst – in den meisten Fällen gibt hier das unbewusste Denken mit abgespeicherten Beispielen, Bildern und Emotionen die Denkweise vor.

 

Wie findet der Mensch etwa die Beispiele für die Argumente und die Thesen, die er in einer abstrakten Erörterung anführt? Die klassische Rhetorik glaubt, dass der Redner nur eine vernünftige Argumentationsstrategie entwickeln müsse, dann füge sich alles automatisch ein. Dieses Credo dominiert auch heute noch weithin die Hörsäle. Aus der Sicht der Neuroökonomie ist es genau umgekehrt: Demnach werden die Beispiele und ihre Argumente im Unterbewusstsein aufbereitet. Diese vorfabrizierten Gedankengänge beeinflussen bereits messbar die Thesen sowie die Rede- beziehungsweise Antwortstrategie des Redners oder Diskutanten. In vielen Fällen gibt daher das Unterbewusstsein dem bewussten Reden Lösungstendenz und Argumentationsform vor – selbst wenn der Redner felsenfest davon überzeugt ist, aus vollem Bewusstsein heraus zu reden.

So stellt das neue Verständnis der Rhetorik die Prinzipien der klassischen Rhetorik teilweise auf den Kopf. Die provokante These, mit der wir uns in diesem Buch intensiv beschäftigen, lautet: Es kann nicht darum gehen, in erster Linie das Bewusstsein zu überzeugen. Wer den Zugang zu den unbewussten, lange vor der Rede abgespeicherten Bildern, Beispielen, Erfahrungen, Gedankenrahmen oder Denkmechanismen findet, der wirkt automatisch auch für das Bewusstsein überzeugend. Was als plausibel für das Unterbewusstsein und die dort neurobiologisch und neuroökonomisch abgespeicherten Denkweisen gilt, das findet das Bewusstsein plausibel. Und es geht sogar noch weiter: Es hält manches für wahr, obwohl man den Gegenbeweis führen könnte (wenn man Zeit hätte). Wir werden sehen, dass es für das Denken nicht nur optische Täuschungen gibt, sondern auch massive kognitive Irrtümer.

Damit stellt sich die Frage neu, wie Manipulationen in der Rhetorik funktionieren und wie man ihnen entgegentritt. Es geht darum, die nunmehr erforschten psychoneuronalen Mechanismen aufzudecken, vor allem um manipulative Rhetorik zu erkennen und ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Eines steht fest: Die neuen Arbeits- und Forschungsergebnisse der Neurobiologie und Neuroökonomie müssen in die Rhetorik ganzheitlich einfließen – nur so kann etwa die Wirkweise von rhetorischen Stilmitteln für das menschliche Denken im Zusammenspiel von unbewusstem „Vordenken“ und bewusstem „Nachdenken“ erklärt werden. Und je besser wir ihre Wirkung verstehen, desto gezielter können wir sie anwenden. Dadurch wird freilich der Grat zwischen Überzeugen und Manipulieren schmaler denn je. Dieser Gefahr wirkt man aber nicht entgegen, indem man sie verschweigt: Hier etwas vorschnell auszuklammern, weil es möglicherweise missbraucht werden könnte, das wäre schlicht unwissenschaftlich. Und es würde letztlich die neuen Erkenntnisse einer modernen neurolingualen Sichtweise auf die Rhetorik mit Denkverboten belegen, die sehr gefährlich wären. Die wissenschaftliche Kommunikation ist damit ganzheitlich herausgefordert.

Die aktuelle Problemstellung für die Rhetorik ist eindeutig: Fake-Rhetorik ist ein Fakt – man sollte daher die modernen Denkweisen und auch Techniken analysieren und adressieren, mit denen sie arbeitet. Das „Fake-Potenzial“ und den rhetorischen Umgang damit zeigen etwa die Beispiele von Donald Trump und anderen Zeitgenossen, die ich im Folgenden bei einzelnen Punkten eingearbeitet habe.

Dabei erleben wir aktuell ein Paradoxon: Zum einen können die Wirkprinzipien und damit die Grundsätze des erfolgreichen Redens und Argumentierens wissenschaftlich beschrieben werden; sie können damit viel leichter verstanden und erlernt werden. Man hat zum anderen aber das Gefühl, dass sich viele Menschen in Zeiten der „ein-Satz-Kommunikation“ von Twitter und WhatsApp zunehmend von der Option verabschieden, erfolgreich durch gutes Reden zu sein. Man lernt etwa lieber, Emojis am Smartphone zu bedienen als Emotionen wirkungsvoll auszusprechen. Und die Redakteure von Talkshows gestehen unumwunden zu, dass etwa die Zahl präsentabler Gäste, die eine Gesprächsrunde mit sprachlich fundierten Beiträgen bereichern und beleben können, sehr überschaubar ist.

Dieses Buch will die althergebrachten Prinzipien der Rhetorik mit den neuen Einsichten der Psychologie und der sogenannten Verhaltensökonomie verbinden. Wir können heute besser denn je verstehen und beschreiben, wie und warum gutes Reden „tickt und funktioniert“. Und daraus können wir ableiten, was zu einer guten Praxis als Redner gehört, und wie man gutes Reden lernen und praktizieren kann. Das ist für einen zeitgemäßen Dialog der Wissenschaften relevant, angefangen bei den erfahrenen Dozenten bis hin zum Erstsemester, aber auch in allen anderen beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen. An dieser Stelle möchte ich mich für die hervorragende Unterstützung bedanken, die ich durch meine Lektorin Frau Dr. Valeska Lembke und das Team des Verlages erhalten habe.

Wer ein guter Redner ist, der kann alle sprachlichen Herausforderungen besser beherrschen, sei es die angesprochene sogenannte ein-Satz-Kommunikation, die berühmt-berüchtigte Milieusprache oder das Reden im Dialekt. Rhetorik ist daher generationen- und schichtenübergreifend wichtig, und sie steht jedem offen, der bereit ist, sich mit ihr zu beschäftigen und ihre Möglichkeiten zu entdecken. Die digitale Revolution zeigt: In der Welt des 21. Jahrhunderts ist richtiges und gutes Reden wichtiger denn je. Nur dann, wenn der Auftritt, die Präsentation, das Gespräch oder die Rede glaubwürdig, authentisch und professionell vorgebracht wird, bürgt das für Erfolg. Auch im Internet und der digitalisierten Welt gilt diese Binsenweisheit stärker als je zuvor: Jeder kann online leicht Millionen von Menschen weltweit ansprechen – die Herausforderung besteht darin, sie tatsächlich zu erreichen. Wir alle wissen, dass wir im richtigen Reden und wirkungsvollen Überzeugen geschult sein sollten, um erfolgreich im Beruf, an den Hochschulen und in der Gesellschaft zu sein – doch wie viele lassen sich wirklich darauf ein?

Ich lade Sie zu einer Reise in die moderne Rhetorik ein. Wir werden viele Einzelelemente kennenlernen, von nonverbaler Körpersprache bis hin zu den Kniffen, mit denen Fake-Rhetorik bedenklich wirksam argumentiert und funktioniert. Vieles fügt sich so zu einer hocheffektiven, komplexen Rhetorik-Matrix ineinander. Diese nur zu verstehen, wird dabei nicht ausreichen: Lernen Sie, die Rhetorik-Matrix selbst anzuwenden. Viele erfolgreiche Persönlichkeiten machen es uns vor – von Steve Jobs bis Mark Zuckerberg:

Schweigen ist nicht einmal mehr Silber! Gute rhetorische Kommunikation ist Gold!

Grundlagen
I. Einleitung: Wozu reden in Zeiten von WhatsApp und Twitter?

Die Nachfrage nach gutem Reden und guten Rednern ist heute konstant hoch. Gute Kommunikation spielt in einer als zunehmend komplizierter empfundenen sozialen und technischen Umwelt sowohl in Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch Politik eine unveränderte große Rolle. Durchaus seriöse Schätzungen gehen alleine bei den sogenannten „Keynote-speaker“-Reden in Deutschland von einem Marktvolumen in Höhe von 400 Millionen Euro aus – pro Jahr! (Vgl. www.keynotespeakers.eu unter Bezugnahme auf den bekannten Redner, Autor und Trainer Hermann Scherer.) Ich muss gestehen: Wäre ich nicht Professor, könnte ich wohl auch als Rhetorik-Trainer meinen Lebensunterhalt durchaus passabel verdienen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass viele Studierende ihre Chance auf rhetorische Ausbildung an der Hochschule nicht nutzen. Einige durchaus repräsentative Erfahrungsdaten von meinen bisherigen Hochschulen belegen, dass die Rhetorik als Lerndisziplin von vielen so lange unterschätzt wird, bis sie selbst in der Erfolgsfalle sitzen, eine Rede halten zu müssen: Obwohl fast alle Hochschulen Rhetorik-Seminare anbieten, liegt der Anteil der Studierenden, die ein solches Seminar belegen, bei maximal 5 bis 8 Prozent eines Studienjahrgangs. Das heißt, dass sich über 90 Prozent potenzieller künftiger Führungskräfte und Politiker, Manager und Forscher, aber auch Lehrer, Sozialarbeiter, Journalisten und Marketingfachleute während ihrer zentralen akademischen Ausbildung an der Hochschule nicht mit diesem Thema vertieft beschäftigen (wollen), vom Rest der deutschen, ach so hochentwickelten Zivilgesellschaft ganz zu schweigen.

Erfahrungsgemäß stellen sich im Berufsleben dann für viele der „Nicht-Rhetoriker“ die typischen Notlagen ein, in denen sie spüren, gerade in einer Redesituation weit unter den persönlichen Selbsterwartungen zu bleiben. Bereits bei Studierenden sind rednerische Defizite für jeden Prüfer ein Anlass, in Zweifelsfällen kritischer zu bewerten; dies sehen die meisten akkreditierten Prüfungsordnungen durchweg vor. Im beruflichen und gesellschaftlichen Alltag trennt sich nicht selten bei der Berufung zu Führungs- und Verantwortungspositionen die Spreu vom Weizen, wenn es darum geht, ob ein Kandidat gut reden, auftreten und präsentieren kann. In vielen Segmenten in Handel und Industrie bleibt das Kundengespräch der zentrale Point of Sale, egal ob für das Dax-Unternehmen oder den Existenzgründer. Und wer als Klassenlehrer einen Elternabend unbeschadet überstehen will, wird dankbar auf sein rhetorisches Rüstzeug zurückgreifen.

Beispiele: Wo ist gutes Reden heute notwendig?

 PersonalführungMitarbeiter motivieren: für neue Projekte begeistern – Krisensituationen meisternMitarbeiter integrieren, lenken und auch das Controlling gewährleisten

 Mit Mitarbeitern verhandeln: von der Gehaltsverhandlung über die Abmahnung bis zur Betriebsvereinbarung und den TarifvertragAls Mitarbeiter verhandeln, einen Redebeitrag bei einer Projektdiskussion einbringen, sich bei einer Betriebsversammlung positiv durch einen Diskussionsbeitrag präsentierenWissenschaftliche TätigkeitenErfolgreich präsentieren: von der Keynote Speech eines Professors bis zum Referat eines BachelorstudentenGut und wirkungsvoll argumentieren im wissenschaftlichen Seminar, einem Planspiel oder einer FallstudieMotivieren – in vielen Situationen hängt der nächste Pitch für ein wissenschaftliches Projekt von der exzellenten Vorstellung eines Projektes ab

 MarketingÜberzeugen im Kundengespräch: gezielt und interessenkonform informieren, den Kunden geschickt überzeugen, unmittelbar zur Kaufentscheidung motivieren

 ÖffentlichkeitsarbeitStatements zu Firmendaten und Unternehmensereignissen sowie InnovationenKrisenmanagementPodiumsdiskussionen und Interviews

 GesellschaftslebenFeiern im „circle of life“: Taufe, Geburtstag (von eins bis zum hohen „runden“), Konfirmation/ Erstkommunion, Hochzeit, TodesfälleAnlässe im „circle of the year“: Weihnachtsfeiern, Mutter- und Vatertag, JahreswechselVeranstaltungen im Vereinsleben: Jahreshauptversammlungen, Vereinsjubiläen, Festreden

Gutes Reden ist ein unverzichtbares Instrument für das moderne Management, die Politik, die Wissenschaft und das Gesellschaftsleben

Gleichwohl: Die Rhetorik als „Kunst gut zu reden“ (lat. ars bene dicendi) halten viele Zeitgenossen auch und gerade im deutschsprachigen Raum nach wie vor für sehr verdächtig, seitdem auch zwei Titanen der deutschen Geisteswissenschaft sie als eher minderwertig eingestuft haben: Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe. So schimpft etwa Kant: „Rednerkunst ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen) gar keiner Achtung würdig“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790). Und Goethe äußert sich in „Maximen und Reflexionen“ (Nr. 1251) vergleichbar abschätzig: „Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vorteile der Poesie, auf alle ihre Rechte; sie bemächtigt sich derselben und missbraucht sie, um gewisse äußere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vorteile im bürgerlichen Leben zu erreichen“ (vgl. Schlüter, Grundkurs, S. 9f., eingehend Kramer, Goethe und die Rhetorik). Der fürchterliche Missbrauch, den die Rhetorik im Nationalsozialismus in Deutschland und vielen anderen totalitären Staatssystemen des 20. Jahrhunderts erlitten hat, lieferte einen weiteren Beitrag dazu, sie zu diskreditieren. So muss man sich auch nicht wundern, dass die Redekunst in den Lehrplänen der deutschen Schulen seit Generationen ein Schattendasein führt.

 

Dies ändert aber nichts an der objektiven Notwendigkeit der Rhetorik für die Kommunikation einer modernen Gesellschaft in allen Bereichen. Ein guter Beleg sind die Manöverkritiken zum Medienverhalten der beiden Kanzlerkandidaten im Bundestagswahlkampf 2017 in Deutschland (vgl. SZ vom 4.9.2017, „Duell versemmelt“). Auch die Schlammschlachten in den sozialen Medien während des Wahlkampfs zum österreichischen Nationalparlament 2017 zeigen, wie wichtig rhetorische Analysen und eine gute rhetorische Praxis wären. Es gibt aber offensichtlich noch vieles, was richtigzustellen ist. Der fundamentale Irrtum, dem etwa Kant erlag, war auf sein damaliges Unvermögen zurückzuführen, die Rhetorik als wissenschaftlich fundiertes Instrumentarium überhaupt begreifen zu können (vgl. zu den Nachweisen Plett, Systematische Rhetorik, S. 248ff.). Die moderne Psychologie, die sogenannte Verhaltensökonomie und die Neurobiologie haben mit ihren Erkenntnissen dazu beigetragen, dass unser Verständnis von Rhetorik komplett neu zu bewerten ist. Dies gilt für die Performance von Reden in allen Medien, vom klassischen Podium bis hin zum selbstproduzierten Redebeitrag in Youtube (vgl. dazu die wirklich sehenswerten Beiträge des ehemaligen kalifornischen Gouverneurs Arnold Schwarzenegger gegen Präsident Donald Trump, z.B. Message on Charlottesville violence).