Buch lesen: «Паук. Уровень 3 / Die Spinne»
© Матвеев С. А., адаптация текста, коммент., упражнения и словарь, 2023
© ООО «Издательство АСТ», 2023
Hanns Heinz Ewers
Die Spinne
Als der Student der Medizin Richard Bracquemont sich entschloß, das Zimmer Nr. 7 des kleinen Hotel Stevens, Rue Alfred Stevens 6, zu beziehen, hatten sich in diesem Raume an drei aufeinanderfolgenden Freitagen1 drei Personen am Fensterkreuze erhängt.
Der erste war ein Schweizer Handlungsreisender. Man fand seine Leiche erst Samstag Abend. Der sagte, dass der Tod zwischen fünf und sechs Uhr Freitag nachmittags eingetreten war. Die Leiche hing an einem starken Haken. Der Haken war in das Fensterkreuz eingeschlagen. Und er diente zum Aufhängen von Kleidungsstücken. Das Fenster war geschlossen. Der Tote hatte die Gardinenschnur als Strick benutzt. Das Fenster war sehr niedrig. Die Beine lagen auf dem Boden. Der Selbstmörder musste also eine starke Energie in der Ausführung seiner Absicht betätigt haben2.
Er war verheiratet. Er war Vater von vier Kindern. Er befand auskömmlicher Lebensstellung. Und er war von heiterem, fast stets vergnügtem Charakter. Irgend etwas Schriftliches3, das auf den Selbstmord Bezug hatte, fand man nicht vor, ebensowenig ein Testament. Auch hatte er keinem seiner Bekannten gegenüber jemals eine dahingehende Äußerung getan.
Nicht viel anders lag der zweite Fall. Der Artist Karl Krause war Fahrradverwandlungskünstler4 in dem ganz nahe gelegenen Cirque Médrano. Er bezog das Zimmer Nr. 7 zwei Tage später. Am nächsten Freitag erschien er zur Vorstellung nicht. Der Direktor schickte den Theaterdiener in das Hotel. Der Theaterdiener fand den Künstler in dem nicht verschlossenen Zimmer am Fensterkreuz erhängt vor. Und zwar unter den durchaus gleichen Umständen5!
Dieser Selbstmord schien rätselhaft. Der beliebte Artist bezog hohe Gagen. Er war ein fünfundzwanzigjähriger junger Mann. Auch hier nichts Schriftliches, keinerlei verfängliche Äußerungen. Die einzige Hinterbliebene war eine alte Mutter. Der Sohn schickte ihr an jedem Ersten6 200 Mark für ihren Lebensunterhalt.
Frau Dubonnet war die Besitzerin des billigen kleinen Hotels. Für ihr war dieser zweite seltsame Todesfall in demselben Zimmer von sehr unangenehmen Folgen. Ihren Kundschaft pflegte sich fast nur aus den Mitgliedern der nahegelegenen Montmartrevarietés zusammenzusetzen. Schon waren einige ihrer Gäste ausgezogen. Andere regelmäßige Klienten waren nicht wiedergekommen. Sie wandte sich an den ihr persönlich befreundeten Kommissar des IX. Bezirkes. Er sagte ihr, alles für sie zu tun, was in seinen Kräften liege. So betrieb er die Nachforschungen nach irgendwelchen Gründen für die Selbstmorde der beiden Hotelgäste mit besonderem Eifer. Und er stellte ihr auch einen Beamten zur Verfügung, der das geheimnisvolle Zimmer bezog.
Es war dies der Schutzmann Charles-Maria Chaumié, der sich freiwillig hierzu erboten hatte. Er war ein alter Marsouin7, Marineinfanterist mit elfjähriger Dienstzeit. Er erschien wohl geeignet, den» Gespenstern«, von denen sich die Rue Alfred Stevens erzählte, zu begegnen. Er bezog also bereits am Sonntag Abend das Zimmer. Er legte sich befriedigt schlafen.
Jeden Morgen und Abend machte Chaumié dem Polizeirevier einen kurzen Besuch, um Bericht zu erstatten. Diese beschränkten sich in den ersten Tagen darauf, dass er erklärte, auch nicht das allergeringste bemerkt zu haben. Dagegen sagte er am Mittwoch Abend, er glaube eine Spur gefunden zu haben. Aber bat er, einstweilen schweigen zu dürfen. Er hat keine Ahnung, ob das, was er glaube entdeckt zu haben, wirklich mit dem Tode der beiden Leute in irgendeinem Zusammenhang steht. Und er fürchte sehr, sich zu blamieren und dann ausgelacht zu werden. Am Donnerstag war sein Austreten ein wenig unsicherer. Doch hatte er wieder nichts zu berichten.
Am Freitag Morgen war er ziemlich aufgeregt. Er sagte, halb lachend, halb ernst, dass dieses Fenster jedenfalls eine seltsame Anziehungskraft hat. Aber steht das mit dem Selbstmorde in gar keiner Beziehung. An dem Abend dieses Tages kam er nicht mehr ins Polizeirevier. Man fand ihn an dem Haken des Fensterkreuzes aufgehängt.
Auch hier waren die Indizien bis auf die kleinste Einzelheit dieselben wie in den anderen Fällen. Die Beine baumelten auf den Fußboden. Als Strick war die Gardinenschnur benutzt. Das Fenster war zu, die Türe waren nicht verschlossen. Der Tod war in der sechsten Nachmittagsstunde eingetreten. Der Mund des Toten war weit offen. Die Zunge hing heraus.
Dieser dritte Tod im Zimmer Nr. 7 hatte zur Folge, dass noch am selben Tage sämtliche Gäste aus dem Hotel Stevens auszogen. Aber mit Ausnahme eines deutschen Gymnasialprofessors auf Nr. 16, der aber die Gelegenheit benutzte, den Mietpreis um ein Drittel zu kürzen8. Es war ein geringer Trost für Frau Dubonnet, als am anderen Tage Mary Garden in ihrem Rénault vorfuhr. Sie war der Star der Opéra-Comique. Und sie abhandelte ihr die rote Gardinenschnur um zweihundert Franken. Einmal weil das Glück brachte und dann – weil es in die Zeitungen kam.
Die Affäre der Rue Alfred Stevens war wenig besprochen, als sie es wohl verdiente. Die Berichte wiedergaben, knapp und kurz, meist sachlich den Polizeibericht. Diese Berichte waren das einzige, was der Student der Medizin Richard Bracquemont von der Angelegenheit wusste.
Eine weitere kleine Tatsache kannte er nicht. Sie schien so unwesentlich. Erst später, nach dem Abenteuer des Mediziners, erinnerte man sich wieder daran. Als nämlich die Polizisten die Leiche des Sergeanten Charles-Maria Chaumié von dem Fensterkreuze abnahmen, kroch aus dem offenen Munde des Toten eine große schwarze Spinne heraus.
Der Hausknecht knipste sie mit dem Finger fort, dabei rief er:
«Pfui Teufel, wieder so ein Biest!9«
Im Verlaufe der weiteren Untersuchung sagte er dann aus, dass er, als man die Leiche des Schweizer Handlungsreisenden abgenommen hat, auf seiner Schulter eine ganz ähnliche Spinne hat laufen sehen. Aber hiervon wusste Richard Bracquemont nichts.
Er bezog das Zimmer erst zwei Wochen nach dem letzten Selbstmord, an einem Sonntag. Was er dort erlebte, hat er täglich gewissenhaft in einem Tagebuche vermerkt.
Das Tagebuch des Richard Bracquemont, Studenten der Medizin
Montag, 28. Februar.
Ich bin gestern Abend hier eingezogen. Ich habe meine zwei Körbe ausgepackt und mich ein wenig eingerichtet. Dann bin ich zu Bett gegangen. Ich habe ausgezeichnet geschlafen. Es schlug gerade neun Uhr, als mich ein Klopfen an der Türe weckte. Es war die Wirtin, die mir selbst das Frühstück brachte. Sie ist besorgt um mich. Das merkt man aus den Eiern, dem Schinken und dem ausgezeichneten Kaffee, den sie mir brachte.
Ich habe mich gewaschen und angezogen. Ich habe zugeschaut, wie der Hausknecht das Zimmer machte. Dabei habe ich meine Pfeife geraucht.
So, nun bin ich also hier. Ich weiß recht gut, dass die Sache gefährlich ist. Aber ich weiß auch, dass ich auf den Grund kommen will. Ich kann mein bisschen Leben aufs Spiel setzen10. Hier ist eine Chance. Nun gut, ich will sie versuchen.
Übrigens waren andere auch so schlau, das herauszufinden. Nicht weniger wie siebenundzwanzig Leute haben sich bemüht, das Zimmer zu bekommen. Es waren drei Damen darunter. Es war also genug Konkurrenz da. Wahrscheinlich alles ebenso arme Teufel11 wie ich selbst.
Aber ich habe die Stelle bekommen. Warum? Ah, ich bin wahrscheinlich der einzige, der der Polizei mit einer Idee aufwarten kann. Und das ist eine nette Idee! Natürlich war es ein Bluff.
Diese Rapporte sind auch für die Polizei bestimmt. Und da macht es mir Spaß, den Herren gleich im Anfang etwas zu sagen. Ich habe ihnen etwas hübsch vorgemacht. Wenn der Kommissar vernünftig ist, wird er sagen:
«Hm, gerade deshalb scheint der Bracquemont geeignet12!«
Übrigens ist es mit ganz gleichgültig, was er später sagt. Jetzt sitze ich ja hier. Und mir scheint es ein gutes Omen, dass ich meine Tätigkeit damit begonnen habe, die Herren so gründlich zu bluffen.
Ich war auch zuerst bei Frau Dubonnet. Sie schickte mich zum Polizeirevier. Eine ganze Woche lang habe ich jeden Tag da herumgelungert. Immer sagten sie:
«Sie sollen morgen wiederkommen.«
Der Kommissar war schon ganz ärgerlich über meine Hartnäckigkeit. Endlich sagt er mir kategorisch, dass mein Wiederkommen keinen Zweck hat. Er ist mir dankbar für meinen guten Willen. Aber man hat absolut keine Verwendung für dilettantische Laienkräfte.
«Wenn Sie nicht irgendeinen ausgearbeiteten Operationsplan haben…«
«Doch, ich habe einen solchen Operationsplan!«da sagte ich ihm.
Ich hatte natürlich gar nichts. Und konnte ich ihm kein Wörtchen erzählen. Aber ich sagte ihm:
«Ich will meinen Plan sagen. Er ist sehr gut, aber sehr gefährlich!«
«Ah, ich habe keine Zeit für das«, sagte er.
Aber ich sah, dass ich gewonnen habe. Er mich fragt, ob ich ihm eine Andeutung geben kann. Und das tat ich.
Ich erzählte ihm einen Unsinn, von dem ich selbst eine Sekunde vorher noch gar keine Ahnung hatte. Ich weiß gar nicht, woher mir plötzlich dieser seltsame Gedanke kam:
«Sehen Sie, unter allen Stunden der Woche gibt es eine, die einen geheimnisvollen seltsamen Einfluss hat. Das sei die Stunde, in der Christus aus seinem Grabe verschwunden ist, um niederzufahren zur Hölle. Das ist die sechste Abendstunde des letzten Tages der jüdischen Woche. Und das war Freitag zwischen fünf und sechs Uhr. Alle drei Selbstmorde waren da. Mehr kann ich jetzt nicht sagen, Herr Kommissar. Aber verweise ich Sie auf die Offenbarung St. Johannis13!«
Der Kommissar bedankte sich und bestellte mich für den Abend wieder. Ich trat pünktlich in sein Bureau. Vor ihm auf dem Tische lag das Neue Testament14. Ich hatte in der Zwischenzeit dieselben Studien gemacht wie er. Ich hatte die Offenbarung St. Johannis durchgelesen und nicht eine Silbe davon verstanden. Vielleicht war der Kommissar intelligenter wie ich.
«Ich verstehe Ihren Gedankengang«, sagte er.»Ich bin bereit, auf die Wünsche einzugehen und sie in jeder Weise zu fördern.«
Ich muss anerkennen, dass er mir in der Tat sehr behilflich gewesen ist. Er hat das Arrangement mit der Wirtin getroffen. Während der Dauer meines Aufenthaltes im Hotel habe ich alles frei. Er hat mir einen ausgezeichneten Revolver gegeben und eine Polizeipfeife. Die diensttuenden Schutzleute haben Befehl, durch die kleine Rue Alfred Stevens zu geben und auf ein Zeichen von mir hinaufzukommen.
Und er brachte mir ein Tischtelephon, durch das ich mit dem Polizeirevier in direkter Verbindung war. So kann ich die Hilfe haben. Bei alledem verstehe ich nicht recht, vor was ich Angst haben kann!
Dienstag, 1. März.
Vorgefallen ist nichts, weder gestern noch heute. Frau Dubonnet hat eine neue Gardinenschnur gebracht aus einem anderen Zimmer. Sie benutzt überhaupt jede Gelegenheit, um zu mir zu kommen. Jedesmal bringt sie etwas mit. Sie hat mir noch einmal die Vorkommnisse erzählt, aber ich habe nichts Neues erfahren. Bezüglich der Todesursachen hat sie ihre eigene Meinung.
Der Artist? Sie glaubt, dass es sich um eine unglückliche Liebschaft handelt. Als er im letzten Jahre bei ihr war, war häufig eine junge Dame zu ihm gekommen. Was dem Schweizer Herrn seinen Entschluss eingegeben hat, kann sie nicht sagen. Man kann nicht alles wissen.
Aber der Sergeant hat den Selbstmord nur begangen, um sie zu ärgern.
Ich muss sagen, dass diese Erklärungen der Frau Dubonnet etwas dürftig sind. Sie hat geschwatzt. Immerhin unterbricht sie meine Langeweile.
Donnerstag, 3. März.
Noch immer gar nichts. Der Kommissar klingelt ein paarmal am Tage an. Ich sage ihm, dass es mir ausgezeichnet geht. Offenbar befriedigt ihn diese Auskunft nicht ganz. Ich habe meine medizinischen Bücher herausgenommen und studiere. So hat meine freiwillige Haft doch einen Zweck auf alle Fälle15.
Freitag, 4. März, 2 Uhr nachmittags.
Ich habe ausgezeichnet zu Mittag gespeist. Die Wirtin hat mir eine halbe Flasche Champagner gebracht. Es war eine richtige Henkermahlzeit16. Sie betrachtet mich als schon dreiviertel tot. Ehe sie ging, hat sie mich weinend gebeten mitzukommen. Sie fürchtete wohl, dass ich mich auch noch aufhängen kann, um sie zu ärgern.
Ich habe mir eingehend die neue Gardinenschnur betrachtet. Daran also soll ich mich gleich aufhängen! Hm, ich verspüre wenig Lust dazu. Dabei ist die Schnur rauh und hart und zieht sich sehr schlecht in der Schlinge.
Jetzt sitze ich an meinem Tisch. Links steht das Telefon. Rechts liegt der Revolver. Furcht habe ich gar nicht, aber neugierig bin ich.
6 Uhr abends.
Nichts ist passiert – leider! Die verhängnisvolle Stunde kam und ging. Sie war wie alle anderen. Aber kann ich nicht leugnen, dass ich manchmal einen gewissen Drangs verspürte, zum Fenster zu gehen. O ja, aber aus anderen Gründen17! Der Kommissar klingelte zwischen 5 und 6 wenigstens zehnmal an. Er war ebenso ungeduldig wie ich selbst. Aber Frau Dubonnet ist vergnügt. Eine Woche hat jemand auf Nr. 7 gewohnt, ohne sich aufzuhängen. Fabelhaft!
Montag, 7. März.
Ich bin nun überzeugt, dass ich nichts entdecken kann. Ich neige der Ansicht zu, dass es sich bei den Selbstmorden meiner Vorgänger nur um einen seltsamen Zufall gehandelt hat. Ich bin überzeugt, dass man schließlich doch die Gründe finden wird.
Ich werde hier bleiben. Ich lebe umsonst hier und esse ich hier sehr gut auch. Dazu studiere ich tüchtig. Und endlich habe ich noch einen Grund, der mich hier hält.
Mittwoch, 9. März.
Also ich bin einen Schritt weiter gekommen. Clarimonde…
Ach so, ich habe von Clarimonde noch nichts erzählt. Also sie ist – mein dritter Grund, hier zu bleiben. Sie ist es auch, wegen der ich in jener» verhängnisvollen «Stunde gerne zum Fenster gegangen war. Clarimonde – warum nenne ich sie nur so? Ich habe keine Ahnung, wie sie heißt. Aber denke ich, dass ich sie Clarimonde nennen kann. Und ich wette, dass sie sich wirklich so nennt. Irgendwann frage ich sie nach ihrem Namen.
Ich habe Clarimonde gleich in den ersten Tagen bemerkt. Sie wohnt auf der anderen Seite der sehr schmalen Straße. Ihr Fenster liegt dem meinen gerade gegenüber. Da sitzt sie hinter den Vorhängen. Übrigens muss ich feststellen, dass sie mich früher beobachtete, wie ich sie. Sie bewies ein Interesse für mich. Kein Wunder! Die ganze Straße weiß ja, dass ich hier wohne und weshalb. Dafür hat Frau Dubonnet schon gesorgt.
Der kostenlose Auszug ist beendet.