Buch lesen: «Gabriele Reuter – Gesammelte Werke», Seite 8

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»Moh­ren ge­hen – die ge­hen im­mer … Jä­ger mit Hun­den wer­den auch gern ge­kauft.«

Frau von Wo­szens­ka be­kam ei­nes ih­rer Bil­der von der Mün­che­ner Aus­s­tel­lung zu­rück. »Das Zeug will sich ja kei­ner in die Stu­be hän­gen – na – es war ’mal so ’ne Idee«, sag­te sie phi­lo­so­phisch, in­dem sie es aus­pack­te. Ein Turm­fens­ter, das in dem Be­schau­er den Ein­druck von schwin­deln­der Höhe, von Er­den­fer­ne und Him­mels­nä­he er­weck­te. Im Hin­ter­grun­de die Um­ris­se der großen Kir­chen­glo­cke. Und ein Kind blickt im Bo­gen des Fens­ters, den Kopf auf das run­de di­cke Ärm­chen ge­legt, ru­hig hin­ab. Über ihm, an ei­nem der­ben Ha­ken, hängt eine tote Gans, auf ih­rem flau­mi­gen, mit der größ­ten künst­le­ri­schen De­li­ka­tes­se be­han­del­ten Ge­fie­der glän­zen still die letz­ten Son­nen­strah­len.

»– Tan­te Ma­rie­chen«, frag­te Aga­the, »woll­test Du da­mit sa­gen, dass ein voll­kom­me­ner Frie­de nur durch eine Gans und ein Kind dar­ge­stellt wer­den kann?«

Frau von Wo­szens­ka lach­te. »So klu­ge Be­mer­kun­gen musst Du den Häss­li­chen über­las­sen, dazu bist Du viel zu hübsch«, ant­wor­te­te sie er­freut.

Aga­the wur­de es viel leich­ter, ihre Ge­dan­ken Wo­szens­kis aus­zu­spre­chen als ih­ren El­tern. In der un­si­cher tas­ten­den Zag­heit ih­rer Emp­fin­dun­gen ver­wirr­te sie schon die Ah­nung ei­nes Wi­der­spruchs. Zu Hau­se war sie noch im­mer von Päd­ago­gik um­ge­ben. Hat­te Frau Wo­szens­ka eine ab­wei­chen­de An­sicht, dann stell­te sie sie als eine mensch­li­che An­schau­ung ei­ner an­de­ren ge­gen­über. Und Kas war noch fein­füh­li­ger als sei­ne Frau. Wo sie Phi­lis­ter­haf­tig­kei­ten be­merk­te, wur­de ihr gan­zes Ge­sicht gleich grau­sa­mer Hohn, auch wenn sie kein Wort sprach.

Nun ge­sch­ah das selt­sa­me, dass Aga­the un­ter ih­rem an­ge­lern­ten Ge­schmack et­was in sich fand, das da­mit gar nicht zu­sam­men­hing, das selbst­stän­dig, wenn auch sehr be­schei­den und ängst­lich, ein ihr selbst nur halb be­wuss­tes Da­sein ge­führt hat­te. Sie be­merk­te mit fro­hem Er­stau­nen, dass ihr Wi­der­wil­le ge­gen die Lan­ge­wei­le, Gleich­för­mig­keit und Enge der ge­sell­schaft­li­chen Sit­ten ih­res Krei­ses, ja ge­gen die Grund­sät­ze ih­rer ei­ge­nen El­tern von Wo­szens­kis völ­lig ge­teilt wur­de.

Vie­les, was ihr Va­ter als ab­surd und ma­nie­riert ver­damm­te, stand hier in ho­hen Ehren.

So hat­te Aga­the ganz aus ei­ge­ne Hand ent­deckt, dass es einen großen Künst­ler gab, der Böck­lin hieß, und des­sen Bil­der je­des Mal Sehn­sucht und Glück in ihr weck­ten. Mit un­be­hag­li­chem Schwei­gen, als ver­leug­ne sie et­was Hei­li­ges, hat­te sie Wal­ters und Eu­ge­nies Wit­ze über ihn an­ge­hört. Die Trä­nen schos­sen ihr in die Au­gen, als sie Wo­szen­ski zum ers­ten Mal sei­nen Na­men nen­nen hör­te und er, was sie dun­kel emp­fun­den, mit geist­rei­chem Ver­ständ­nis pries. Ihr We­sen streck­te sich gleich­sam und wuchs und brei­te­te sich aus in die­sen Wo­chen.

Aber am meis­ten lern­te sie doch von Lutz. Wie er war, und was er lieb­te, und wo­von er be­wegt wur­de, such­te sie lis­tig und müh­sam zu er­fah­ren. Es dünk­te sie, als käme sie ihm auf eine ge­heim­nis­vol­le Wei­se nä­her, in­dem sie ihn ver­ste­hen lern­te.

Ihrem ers­ten Ge­lieb­ten ver­dank­te Aga­the den Na­tur­rausch, der sie bei je­dem Son­nen­un­ter­gang in mys­ti­sche Ex­ta­sen ver­setz­te – das Ver­ständ­nis für die großen Kon­tu­ren der Din­ge und die schwär­me­n­de Be­geis­te­rung für eine weit, weit von al­lem Er­den­weh ent­fernt woh­nen­de Frei­heit.

Der Don Juan, der sie durch sei­ne Iro­nie ver­letz­te, und den sie bis auf we­ni­ge Stel­len nicht lei­den moch­te, hat­te ihr den­noch den Blick für die Lä­cher­lich­keit der Kon­ven­ti­on ge­schärft.

Von ih­rem zwei­ten Ge­lieb­ten er­lausch­te sie nun den raf­fi­nier­ten Ge­nuss an den Me­lo­di­en der Far­ben, an ih­ren ferns­ten Ab­tö­nun­gen, und der Wir­kung von Licht und Schat­ten – an den selt­sa­men Be­zie­hun­gen zwi­schen Far­be und See­len­stim­mung.

Adri­an Lutz be­deu­te­te ihr: in ei­nem wei­ten Dun­kel mit den be­ängs­ti­gen­den Um­ris­sen un­ge­heu­rer, un­be­stimm­ter Ge­stal­ten ein schma­ler wei­ßer Licht­streif – eine zart­leuch­ten­de grün­blas­se Wal­dorchis.

Aus drei Ra­die­run­gen und ein Paar Land­schafts­stu­di­en, die Wo­szen­ski von Lutz be­saß und sehr hoch hielt, bil­de­te Aga­the sich eine Ge­schmacks­rich­tung: Mo­d­erns­te fran­zö­si­sche Schu­le mit et­was ner­vö­ser Ro­man­tik, die der Künst­ler aus dem ihm Ei­ge­nen hin­zu­ge­tan.

Das war ein frem­des, schar­fes Ge­würz in ih­rer bis­he­ri­gen Nah­rung. Ob der Re­gie­rungs­rat Heid­ling ge­ra­de die­se bei­den Män­ner zu Er­zie­hern sei­nes Kin­des ge­wählt ha­ben wür­de?

Vor­sich­ti­ge El­tern pfle­gen sich wohl einen Plan für die Bil­dung ih­rer Töch­ter zu ent­wer­fen. Aber die heim­li­chen Ein­flüs­se, die am stärks­ten auf einen jun­gen Frau­en­geist wir­ken – die kön­nen sie nicht be­rech­nen.

*

Ein­mal noch wäh­rend ih­res Auf­ent­hal­tes bei Wo­szens­kis sah Aga­the Lutz von wei­tem in ei­ner men­schen­lee­ren Stra­ße. Sie war dort auf und nie­der ge­gan­gen, um die Zeit zu er­war­ten, wo sie ihm zu be­geg­nen hoff­te. Es war das ers­te Mal, dass sie so et­was tat, und sie konn­te es auch nicht wie­der­ho­len – es zer­riss sie zu sehr.

Er kam, die Zi­ga­ret­te zwi­schen den Lip­pen, aus sei­nem Ate­lier, traf auf den Post­bo­ten und nahm ihm einen Brief ab. Mit sei­nen has­ti­gen Be­we­gun­gen riss er den Um­schlag auf und schritt le­send ihr nä­her. Aga­the ging lang­sam an ihm vor­über, ohne dass er sie be­merk­te. Er blick­te in die Höhe, sein be­weg­tes Ge­sicht strahl­te vor Freu­de über die Nach­richt, die er so­eben emp­fan­gen hat­te. Da fühl­te sie tief, dass er mit­ten in ei­nem rei­chen Da­sein voll man­nig­fa­cher Er­leb­nis­se stand – und sie hat­te kei­nen An­teil dar­an – ihr war es ganz fremd.

Als fünf Wo­chen ver­flos­sen wa­ren, reis­te sie nach Haus zu­rück.

XI.

»Weißt Du, Aga­the, wenn die­se Wo­szens­kis Dir so viel in­ter­essan­ter sind, als Dei­ne ei­ge­nen El­tern, dann ist es am bes­ten, wir tre­ten Dich ih­nen ganz ab. Dein Herz ist ja doch bei ih­nen ge­blie­ben.«

»Ach, Papa – so mein’ ich’s ja nicht …«

»Aber lie­ber Ernst«, sag­te die Re­gie­rungs­rä­tin ent­schul­di­gend, »es ist doch hübsch, dass un­ser Kind uns von der Rei­se er­zählt …«

»Das woll­t’ ich mir auch aus­ge­be­ten ha­ben«, sag­te Heid­ling ver­stimmt, »vor­läu­fig las­se ich sie nicht wie­der fort, sonst fin­det sie uns nach­her zu spieß­bür­ger­lich und lang­wei­lig.«

»Glau­be mir nur, mein Kind«, re­de­te der Re­gie­rungs­rat wei­ter, »was Dich da ge­blen­det hat, ist ein We­sen, in das Du mit Dei­ner so­li­den Na­tur Gott sei Dank gar nicht hin­ein­passt – es wür­de Dir bald ge­nug zum Be­wusst­sein ge­kom­men sein. So – nun gib Dei­nem al­ten Papa einen Kuss, wenn er auch kein Künst­ler ist, er meint es doch bes­ser mit Dir, als Dei­ne Wo­szens­kis und wie die Leu­te da alle hei­ßen.«

Frau Heid­ling kam ei­nes Abends in ih­rer Toch­ter Schlaf­zim­mer. Sie setz­te sich und sah zu, wie Aga­the ihr lan­ges brau­nes Haar kämm­te.

»Mama, steht es mir bes­ser, wenn ich die Flech­te nicht mehr über den Schei­tel lege, son­dern so im Na­cken tra­ge? Eu­ge­nie sagt, es wäre viel mo­der­ner.«

Mut­ter und Toch­ter ver­such­ten die neue Haar­tracht. Da­bei sah die Rä­tin dem Mäd­chen in die Au­gen, wie sie es frü­her ge­tan, wenn sie her­aus­be­kom­men woll­te, ob Aga­the oder Wal­ter ge­nascht hat­ten, und frag­te scherz­haft oben­hin:

»Sag mal – Du – war denn Herr von Wo­szen­ski so sehr in­ter­essant?«

Aga­the lach­te.

»Sehr, Mama – wirk­lich – sehr – ach, er ist ent­zückend. Ich hab’ ihn zu gern!«

»Aber Kind – er ist doch ein ver­hei­ra­te­ter Mann …«

Die lie­be Mama seufz­te und sah ganz sor­gen­voll aus. »Du bist so ver­än­dert, seit Du zu­rück­ge­kom­men bist …«

»Mama – nein!«

Aga­the lach­te noch viel über­mü­ti­ger. »Du denkst, ich habe mich in Herrn von Wo­szen­ski ver­liebt?«

»Ein biss­chen – na­tür­lich nur ein biss­chen!«

Frau Heid­ling leg­te die Arme um ihre Toch­ter und zog sie an sich, um ihr das Ge­ständ­nis zu er­leich­tern.

»Sag’ mir’s, mein Kind!«

Aga­the wand sich la­chend los.

»Wirk­lich, Mama, da­von ist ja kei­ne Spur! Aber ge­wiss nicht! Ich schwär­me ja nur für sie alle bei­de. Es sind so lie­be, lie­be Men­schen!«

»Wenn Du’s sagst, glau­be ich Dir ja – und – und – er hat sich doch nie eine Frei­heit er­laubt?«

»Nie­mals, Mama«, rief Aga­the em­pört. »Du machst Dir eine ganz falsche Vor­stel­lung von ihm. Er ist ja so de­li­kat. Nein – nein.«

Und nach ei­ner Pau­se ganz lei­se, in­dem sie ihre Mut­ter küss­te:

»Es war ein an­de­rer, Mama – ich kann nicht … ver­lan­ge doch nicht, dass ich dar­über re­den soll.«

Mama strei­chel­te schwei­gend ihr Haar und ging mit dem Licht hin­aus.

*

Nach­dem Aga­the an Frau von Wo­szen­ski ge­schrie­ben hat­te, war­te­te sie täg­lich in atem­lo­ser Span­nung auf de­ren Ant­wort. Vi­el­leicht wür­de sie ir­gend et­was über Lutz schrei­ben. Oder wenn auch das nicht – Aga­the ver­lang­te so sehr da­nach, von ihr zu hö­ren – den Post­stem­pel der lie­ben, merk­wür­di­gen Stadt zu se­hen, wo ein neu­es Le­ben für sie be­gon­nen hat­te.

End­lich be­kam sie einen Brief von Frau von Wo­szen­ski – sehr freund­lich – aber viel zu kurz für ihre Wün­sche.

Und spä­ter schrieb sie nur noch ein­mal wie­der: sie hät­te zu viel zu tun – nach dem Ma­len wä­ren ihre Au­gen zu an­ge­grif­fen, um zu kor­re­spon­die­ren – Aga­the wis­se doch, dass sie sie trotz­dem nicht ver­ges­sen wer­de, und dass sie bald wie­der­kom­men müs­se.

Ja – ja – ja –. Aga­the ver­such­te, sich mit der Hoff­nung auf das Wie­der­se­hen zu trös­ten.

Gott im Him­mel! Wa­rum gab sie nur im­mer gleich so viel von ih­rem Her­zen? Die Leu­te woll­ten es ja gar nicht ha­ben! Wenn sie doch nur stol­zer wäre!

*

Am 5. Sep­tem­ber las Aga­the früh­mor­gens in der Zei­tung eine No­tiz: Fräu­lein Da­niel war als Nai­ve für das Thea­ter in M. en­ga­giert wor­den.

Sie hob das Blatt auf und barg es im Schreib­tisch bei ih­ren Re­li­qui­en: ei­ner Ca­li­can­thus­blü­te aus Bor­nau, die im­mer noch ein we­nig duf­te­te, der Man­schet­te ih­res Kon­fir­ma­ti­ons­bou­quets, Lord By­rons Fo­to­gra­fie und ei­ner Re­zen­si­on über die Ber­li­ner Aus­s­tel­lung, in der Lutz er­wähnt wur­de. Tau­send­mal hat­te sie den ge­druck­ten Na­men schon ge­küsst.

Ob Lutz am Ende sei­ne Freun­din be­wo­gen habe, nach M. zu ge­hen, um sie hier zu be­su­chen und Aga­the wie­der­zu­se­hen?

Aga­the hat­te viel über das Ver­hält­nis der bei­den zu ein­an­der ge­grü­belt. Es war doch höchst un­wahr­schein­lich, dass zwei Men­schen, die sich lieb­ten, sich nicht schleu­nigst hei­ra­te­ten. Also lieb­te Lutz je­den­falls Fräu­lein Da­niel nicht. Ir­gend et­was Be­son­de­res muss­te da­hin­ter­ste­cken – ein Ge­heim­nis. Konn­ten sie nicht Ge­schwis­ter sein? Sie sa­hen sich doch wirk­lich ähn­lich. – Wie schön – wie edel von Lutz, eine Schwes­ter, die er aus Ach­tung vor der Ehre sei­nes Va­ters oder sei­ner Mut­ter nicht öf­fent­lich an­er­ken­nen durf­te, mit so heim­li­cher, zar­ter Sor­ge zu um­ge­ben, in ih­rer ge­fähr­li­chen Lauf­bahn rit­ter­lich über sie zu wa­chen! Ja – er wür­de kom­men – si­cher, si­cher!

Die mat­te, trü­be Zeit war zu Ende! Er wür­de kom­men!!

*

Zu­erst hör­te sie bei Wu­trows von ihm re­den.

»Ich bin heu­te dem Ma­ler be­geg­net, der der Da­niel nach­ge­reist ist«, sag­te Eu­ge­nie, wäh­rend Aga­the ihr half, die Braut­wä­sche mit blau­en Bän­dern zu um­knüp­fen, denn die Hoch­zeit soll­te nun bald sein. »Her­t­ha Hen­ning zeig­te ihn mir. Sie will bei ihm Un­ter­richt neh­men. Ihre Mut­ter ist froh, dass sie sie nun nicht nach Ber­lin zu schi­cken braucht – wenn sie mit­ein­an­der hun­gern, kos­tet’s doch we­ni­ger. Ich fin­de es ziem­lich un­pas­send – er ist noch ganz jung – höchs­tens acht­und­zwan­zig – na – und der hat schon man­ches hin­ter sich.«

»Wie­so meinst Du?« frag­te Aga­the be­klom­men.

»Ach, das sieht man doch. Aber was ist Dir denn? Mäd­chen – Du bist ganz blass! Kennst Du denn Herrn von Lutz?«

»Ich war mit Wo­szens­kis in sei­nem Ate­lier«, stieß Aga­the in ih­rer Fas­sungs­lo­sig­keit her­vor.

»So – warum hast Du mir da­von gar nichts ge­sagt? Aber so set­ze Dich doch – Du wirst wahr­haf­tig ohn­mäch­tig! Nein – dies Mäd­chen! – Er sieht sehr gut aus – so ein welt­män­ni­scher Chic, den die Her­ren hier bei uns im­mer nur imi­tie­ren. Komm – trink ein Glas Wein!«

Her­t­ha Hen­ning hat­te also Un­ter­richt bei ihm … Nein – ei­fer­süch­tig konn­te Aga­the auf Her­t­ha nicht wer­den – dazu war de­ren Nase zu lang und zu spitz.

Sie ver­such­te, einen Stuhl zu zeich­nen – eine Blu­me – es miss­glück­te voll­stän­dig. Sie hat­te gar kein Ta­lent – kei­nen Fun­ken. War das nicht jam­mer­voll? Zu nichts hat­te sie An­la­gen – konn­te nicht den kleins­ten Vers zu stan­de brin­gen. Sie war im Grun­de doch ein ganz ge­wöhn­li­ches Ge­schöpf.

Und Lutz er­kann­te sie auch nicht wie­der … Als er im Wan­del­gang des Thea­ters auf sie traf, sah er sie flüch­tig an und grüß­te nicht.

XII.

Eu­ge­nies und Wal­ters Hoch­zeit wur­de ein großes Fest, mit Pol­ter­abend­auf­füh­run­gen und all der sin­ni­gen Un­ru­he, die der Deut­sche bei ei­nem sol­chen Er­eig­nis ger­ne er­regt. Man schwelg­te in Fa­mi­li­en­ge­fühl – die ent­fern­tes­ten On­kels, die be­jahr­tes­ten Tan­ten wur­den ein­ge­la­den, wa­ren sehr ge­rührt bei der Trau­ung und wärm­ten nach­her in den Ecken mit spit­zen Be­mer­kun­gen alte Fa­mi­li­en­zwi­s­tig­kei­ten wie­der auf.

Aga­the muss­te un­ter ih­rem ro­sa­sei­de­nen Klei­de die gan­ze stum­me, hoff­nungs­lo­se Qual ver­ber­gen, die ihr Herz seit Mo­na­ten fol­ter­te. Wie leicht wäre es Eu­ge­nie ge­we­sen, die Be­kannt­schaft von Herrn von Lutz zu ma­chen und ihm eine Ein­la­dung zum Pol­ter­abend zu ver­schaf­fen. Das wäre dann ein Fest für sie ge­wor­den … Es war so un­recht von Eu­ge­nie – frei­lich – die dach­te im­mer nur an sich.

Sie würg­te fort­wäh­rend an ih­ren Trä­nen, aber bei ei­ner Hoch­zeit fiel das nicht wei­ter auf. Mar­tin Gref­fin­ger war ihr Braut­füh­rer. Er hat­te sich sehr ver­än­dert, seit sie ihn zu­letzt ge­se­hen. Nach­dem er das ju­ris­ti­sche Stu­di­um auf­ge­ge­ben hat­te, war er ein hal­b­es Jahr in Eng­land ge­we­sen. Was er dort ge­trie­ben, wuss­te nie­mand. Um Lord By­rons Wil­len war er ge­wiss nicht hin­ge­reist. Die höh­ni­sche Fal­te um sei­nen Mund hat­te sich noch ver­tieft. Schweif­te sein Blick feind­lich über die Hoch­zeits­ge­sell­schaft, so rich­te­te er ihn gleich wie­der vor sich nie­der – in eine Welt, die nur er selbst zu se­hen schi­en.

Trotz Aga­thes Auf­for­de­rung er­zähl­te er nichts von sei­ner Rei­se; was er drü­ben ge­tan und er­lebt habe, in­ter­es­sie­re sie ja doch nicht, sag­te er. Auch ver­such­te er kei­ne je­ner Ne­cke­rei­en, mit de­nen er sie sonst oft grau­sam zu quä­len pfleg­te – be­müh­te sich so­gar, freund­lich ge­gen sie zu sein. Aber die Ver­su­che ver­san­ken im­mer wie­der in ei­ner großen Gleich­gül­tig­keit, die sei­ne Hal­tung, jede sei­ner Be­we­gun­gen und vor al­lem sei­ne Stim­me be­herrsch­te. So schlepp­te sich das Ge­spräch trü­be und ge­zwun­gen, durch Pau­sen völ­li­gen Schwei­gens un­ter­bro­chen, wäh­rend des lan­gen Di­ners hin. Wie fremd sie sich ge­wor­den wa­ren, die sich doch einst so lieb ge­habt!

Al­les ging wäh­rend des gan­zen Fest­ta­ges glatt und gut von stat­ten. Nur ein­mal hör­te die Tisch­ge­sell­schaft Frau Wu­trow von der Kü­che her mit dem Lohn­die­ner we­gen des großen Wein­ver­brauchs zan­ken. Ihr Ge­sicht trug, als sie wie­der her­ein­kam, vor Är­ger fast die Far­be ih­res rot und blau chan­gie­ren­den Sei­den­klei­des. Aber, wie ge­sagt, mit Aus­nah­me die­ses klei­nen Zwi­schen­falls war es eine idea­le Hoch­zeit.

Die grü­ne Myr­ten­kro­ne saß Eu­ge­nie ta­del­los auf dem blon­den Kopf, der Braut­schlei­er fiel wohl zwei und einen hal­b­en Me­ter lang über die kö­nig­li­che Schlep­pe; Bei der Trau­ung hat­te er auch ihr Ant­litz ver­hüllt – das fand man so poe­tisch!

Sie war fast die Mun­ters­te un­ter ih­ren Gäs­ten. Wal­ter da­ge­gen schi­en be­wegt und still.

Nach dem Di­ner nahm Eu­ge­nie ih­ren Kranz vom Haupt und setz­te ihn On­kel Gu­stav auf. Die meis­ten fan­den die­sen Scherz sehr an­stö­ßig. Mit ei­nem Myr­ten­kran­ze spaßt man nicht. Der di­cke ro­sen­ro­te On­kel sah au­ßer­or­dent­lich ko­misch in dem un­er­war­te­ten Schmu­cke aus. Es war das ein­zi­ge Mal, dass Gref­fin­ger in ein lau­tes La­chen ver­fiel. Eu­ge­nie blick­te aus ih­ren Schlei­er­fal­ten wie aus leich­tem Ge­wölk zu ihm hin­über. Mit der rau­schen­den milch­wei­ßen Schlep­pe, das Cham­pa­gner­glas in der Hand, ging sie um den Tisch und stieß mit ihm an. Ihre Li­der wa­ren ge­senkt, und die gol­di­gen Wim­pern zit­ter­ten ein we­nig, wie die ei­nes Kin­des, das um Ver­zei­hung bit­ten möch­te. Sie hob sie zö­gernd, in ih­ren Au­gen lag eine sanf­te Bit­te. Aga­the hör­te, wie sie lei­se zu ihm sprach: »Auf gute Freund­schaft!« Er mach­te ihr eine tie­fe stei­fe Ver­beu­gung.

Aga­the be­glei­te­te sie hin­aus, ihr beim Um­klei­den zu hel­fen, sie war auf­ge­reg­ter als die küh­le Braut, wel­che um­sich­tig die letz­ten An­ord­nun­gen für die Rei­se traf.

Nach­dem das jun­ge Paar ab­ge­fah­ren war, zog sich Aga­the in Eu­ge­nies Schlaf­zim­mer zu­rück und blieb dort mit dem aus­ge­dien­ten Hoch­zeits­staat, der auf den Stüh­len um­her­lag, al­lein. Sie schluchz­te recht von Her­zen. End­lich trock­ne­te sie ihre Au­gen, wusch sich das Ge­sicht und ging wie­der in die un­te­re Eta­ge hin­ab.

Die Ge­sell­schaft hat­te sich zer­streut, die Frem­de­ren wa­ren ver­schwun­den. Im Sa­lon fand Aga­the ihre El­tern und den al­ten Wu­trow müde und ein­sil­big zwi­schen ei­nem großen Krei­se von Ver­wand­ten sit­zen. Frau Wu­trow teil­te un­ter ihre Leu­te Ku­chen aus und be­gann das Sil­ber fort­zu­schlie­ßen. In dem Er­ker des Ess­saa­l­es hat­ten sich Cou­si­ne Mimi von Bär mit ih­rem Bru­der, Lis­beth Wend­ha­gen, die drit­te Braut­jung­fer, On­kel Gu­stav und der Pro­ku­rist des Ge­schäf­tes um einen Rest Bow­le ver­sam­melt. Jen­seits des lan­gen Kor­ri­dors, nach dem Gar­ten hin­aus lag Eu­ge­nies Bou­doir. Sie hat­te, als sie in den Wa­gen stieg, Aga­the ge­be­ten, dort ih­ren Schreib­tisch zu­zu­schlie­ßen und den Schlüs­sel in Ver­wah­rung zu neh­men. »Mama kramt sonst in al­len Schub­la­den her­um – Du bist dis­kre­ter, das weiß ich.«

Mü­den, lei­sen Schrit­tes ging Aga­the, ihr Ver­spre­chen zu er­fül­len. Sie hob den Vor­hang. Da stand Gref­fin­ger, dem Ein­gang den Rücken wen­dend, ne­ben dem klei­nen Sofa, wo er oft mit den bei­den Mäd­chen ge­ses­sen und ver­gnüg­ten Un­sinn ge­schwatzt – er hat­te den Kopf in die wol­le­ne Fens­ter­gar­di­ne ge­wühlt – sei­ne brei­ten Schul­tern zuck­ten, Aga­the hör­te sein stoß­wei­ses rö­cheln­des Wei­nen. Be­stürzt stand sie vor die­sem Schmerz – zum ers­ten Mal sah sie die Lei­den­schaft, die ihre ei­ge­ne Ge­sund­heit still und rast­los un­ter­grub, bei ei­nem kräf­ti­gen Man­ne aus­bre­chen. Sie mach­te eine Be­we­gung – sie hät­te ihn gern in den Arm ge­nom­men und mit ihm ge­weint, ihn ge­strei­chelt und ge­trös­tet. In ih­rer Schwä­che fühl­te sie sich jetzt stär­ker als er – ein sol­ches Elend pass­te bes­ser zu ihr, als zu dem der­ben Gref­fin­ger.

Aber sie wag­te nicht, ih­rem Wun­sche nach­zu­ge­ben und schlich vor­sich­tig zu­rück. Er hat­te sie nicht be­merkt.

*

Nach der Hoch­zeits­rei­se zo­gen die jun­gen Heid­lings in die obe­re Eta­ge des Wu­trow’­schen Hau­ses, die für sie mit mo­der­nen Ta­pe­ten, alt­deut­schen Öfen und Par­quet­fuß­bö­den neu her­ge­rich­tet wor­den war.

Eu­ge­nie spiel­te nun ein rei­zen­des Haus­müt­ter­chen. Wal­ters Ka­me­ra­den fei­er­ten sie als das Mus­ter der deut­schen Of­fi­ziers­frau. Es bil­de­te sich ein Sport bei den jun­gen Her­ren aus: Heid­ling zum Dienst ab­zu­ho­len, nur um in der frü­hen Mor­gen­stun­de Eu­ge­nie in den neu­en Neg­ligés und dem ko­ket­ten Spit­zen­häub­chen an der Kaf­fee­ma­schi­ne zu se­hen und eine von ih­ren ge­schick­ten Hän­den schnell be­rei­te­te Tas­se Mok­ka im Ste­hen her­un­ter­zu­stür­zen.

Abends konn­te man re­gel­mä­ßig ein bis zwei Lieu­ten­ants, auch wohl einen un­ver­hei­ra­te­ten Haupt­mann bei Heid­lings fin­den.

Der fröh­li­che Ju­gend­ver­kehr zog nach Wal­ters Hei­rat ganz na­tür­lich zu den jun­gen Leu­ten hin­über. Man be­kam hier ein eben so gu­tes Abendes­sen und durf­te sich doch un­ge­nier­ter ge­hen las­sen, als un­ter den Au­gen des Re­gie­rungs­ra­tes.

Aga­the war zwar von Eu­ge­nie ein für al­le­mal ein­ge­la­den, aber sie moch­te die El­tern nicht viel al­lein las­sen. Papa hat­te es gern, wenn sie vor­las. Manch­mal frei­lich war er auch zum Hö­ren zu an­ge­grif­fen und saß schweig­sam, ver­stimmt mit sei­ner Zi­gar­re in der So­fae­cke. Oder er muss­te auch noch ar­bei­ten und lieb­te es dann, von sei­nen Ak­ten auf­bli­ckend, durch die ge­öff­ne­te Tür ih­ren brau­nen lo­cki­gen Kopf un­ter dem Lam­pen­licht zu se­hen, wie sie der Mama half Wä­sche stop­fen. Das wa­ren ein­tö­ni­ge Aben­de. Aga­the konn­te die Ein­sam­keit, in der sie frü­her end­lo­sen, glück­li­chen Träu­me­rei­en nach­hing, nicht mehr gut er­tra­gen.

Die El­tern hat­ten mit Wu­trows und den jun­gen Leu­ten zu­sam­men im Thea­ter abon­niert. Das Bil­let kam nur sel­ten an Aga­the – es war je­des Mal ein auf­re­gen­des Er­eig­nis. Frü­her hat­te sie nur Sinn und Be­geis­te­rung für Tra­gö­di­en ge­zeigt – das hat­te sich nun ge­än­dert. In den großen Dra­men gab es sel­ten Rol­len für die Nai­ve. Und nur wenn die Da­niel auf­trat, war Aga­the si­cher, Lutz im Thea­ter zu fin­den.

Eu­ge­nie wuss­te das frei­lich ganz ge­nau, aber sie und ihr Mann zo­gen auch Lust­spie­le und Pos­sen vor, und bit­ten konn­te Aga­the nicht um ein Bil­let – nein – es war furcht­bar, wie sie sich schäm­te und fürch­te­te, um die­ser un­glück­se­li­gen Lie­be wil­len.

Lutz stand meist im Hin­ter­grun­de der Pro­sze­ni­ums­lo­ge. Aga­the konn­te sei­nen Kopf nur se­hen, so­bald er sich vor­beug­te. Auf die­se flüch­ti­gen Se­kun­den war­te­te sie mit ei­ner be­ben­den Ge­spannt­heit.

Un­be­greif­lich blieb es ihr, wo Fräu­lein Da­niel bei ih­rer frag­wür­di­gen Er­zie­hung die­se leich­te und an­mu­ti­ge Vor­nehm­heit des We­sens hat­te er­wer­ben kön­nen. Die an­de­ren Büh­nen­da­men er­schie­nen ne­ben ihr plump und roh. Selbst eine ge­wis­se Af­fek­ta­ti­on ver­zieh man ihr, sie klei­de­te sich gut. War ihr Näs­chen, ihr aus­drucks­vol­ler Mund ganz geist­rei­che Schel­me­rei – die Au­gen blie­ben im­mer ernst, sie konn­ten ge­müt­voll und trau­rig bli­cken. Aga­the be­griff es nicht, warum Lutz oft nur zu ei­ner Sze­ne kam und bald wie­der ver­schwand. Nein – er lieb­te die Da­niel nicht … Ap­plau­dier­te er auf eine nach­läs­si­ge, dis­kre­te Wei­se, so tauch­ten sei­ne schma­len, wei­ßen, un­ru­hi­gen Hän­de gleich­sam kör­per­los aus dem Dun­kel der Loge her­vor.

Dann hör­te Aga­the Be­mer­kun­gen un­ter ih­ren Nach­barn über sei­ne Be­zie­hun­gen zur Da­niel.

»… Er soll ihr schon seit Jah­ren den Hof ma­chen, aber sie weist ihn kon­se­quent ab.«

»– So – so – da wer­den doch auch an­de­re Din­ge ge­re­det. Eine Zeit lang war sie ganz auf­fäl­lig von der Büh­ne ver­schwun­den – es ist üb­ri­gens schon lan­ge her.«

»Ja – da­mals hat­te sie ein Hals­lei­den.«

»Ach – die Hals­lei­den der Schau­spie­le­rin­nen …«

»Im üb­ri­gen hat er im letz­ten Som­mer der Pro­fes­sor Wal­lis in Nor­der­ney ra­send die Cour ge­macht …«

»Lie­ber Gott, was will denn das be­sa­gen?«

Sol­che Re­dens­ar­ten be­rei­te­ten Aga­the ein un­er­träg­li­ches Weh. Wie konn­ten die Leu­te nur über ihn re­den wie über einen be­lie­bi­gen jun­gen Mann?

*

In­zwi­schen wur­de die Be­geg­nung mit ihm, die das Mäd­chen sich zu je­der Stun­de fie­ber­haft wünsch­te, Eu­ge­nie zu teil. Sie er­zähl­te ih­rer Schwä­ge­rin da­von, ein spöt­ti­sches Lä­cheln husch­te um ih­ren Mund.

»Ich habe heu­te Dei­nen Lutz ge­spro­chen.«

»Du –? Wo?« frag­te Aga­the atem­los.

»Höchst ko­misch war’s. Ich hole mir bei dem Mu­sik­schmidt neue No­ten … Au­ßer­dem habe ich noch zwei Pa­ke­te, Muff – Schirm. Dazu mein Kleid auf­zu­neh­men. Ich ver­such­te, das al­les mit mei­nen zwei ein­zi­gen Hän­den fest­zu­hal­ten. Wer kommt, als ich die Stu­fen run­ter­stei­ge? Lutz! – be­merkt mei­ne Be­mü­hun­gen – lä­chelt. Er hat üb­ri­gens ein ent­zücken­des Lä­cheln. Und den­ke Dir – ich Gans! Las­se mei­ne No­ten­blät­ter un­ter dem Arm her­vor­rut­schen – ihm ge­ra­de zu Fü­ßen – alle aus­ein­an­der ge­flat­tert. Er bück­te sich na­tür­lich und wir ha­ben sie dann ganz ar­tig vom Schnee wie­der auf­ge­sucht. – Ich dank­te ihm für sei­ne Mühe und er ant­wor­te­te: ›O – bit­te sehr!‹ – Wenn er die­ses bit­te sehr zu Dir ge­sagt hät­te – was Aga­the?«

Sie brach in Trä­nen aus.

»Mein Gott – geht’s Dir denn so tief?« rief Eu­ge­nie er­schro­cken.

»– Ich habe ihn mir um Dei­net­wil­len ziem­lich ge­nau an­ge­se­hen«, be­gann sie ver­stän­dig. »Es ist ei­ner von den Ge­fähr­li­chen – das ist kei­ne Fra­ge. Aber Kind – glaubst Du denn, dass Du auch nur einen Ge­dan­ken mit dem Man­ne ge­mein hast?«

»Ich hab’ ihn lieb«, mur­mel­te Aga­the lei­se. Eu­ge­nie seufz­te. Sie schnipp­te zier­lich mit den Fin­gern ein Bro­säm­lein von ih­rer neu­en Tisch­de­cke und ihre Be­we­gung deu­te­te an, sie lege nicht viel mehr Wert auf das Ge­fühl, von dem Aga­the be­wegt wur­de, als auf die­sen spär­li­chen Über­rest ei­nes ge­nos­se­nen und ab­ge­tra­ge­nen Mah­les.