Buch lesen: «Versehrte Seelen»
© 2020 – e-book-Ausgabe
RHEIN-MOSEL-VERLAG
Zell/Mosel
Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel
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Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-89801-907-1
Ausstattung: Stefanie Thur
Titelfoto: Zapylaieva Hanna/shutterstock.com
Autorinnenfoto: Sandra Jungen
Gabriele Keiser
Versehrte Seelen
Kriminalroman
Rhein-Mosel-Verlag
Willst du deine Vergangenheit kennen, dann betrachte dich selbst in der Gegenwart, denn sie ist das Resultat deiner Vergangenheit. Buddha (Siddhartha Gautama)
Bonn-Bad Godesberg
Prolog
Er steht vor dem Spiegel und starrt in das Gesicht eines gealterten Mannes mit todtraurigen Augen.
Wer bist du? Wer? Ein Gespenst aus der Vergangenheit?
Hast du jemals gewusst, wer du wirklich bist?
Hitze kriecht in ihm hoch, als verstörende Erinnerungen sein Hirn durchdringen, die weiterwandern bis tief in sein Herz. Im Zeitlupentempo kristallisieren sich einzelne Splitter heraus.
Da sind endlose Korridore mit glänzend gebohnerten Fußböden. Das Geräusch von Schritten. Trippeln von Kinderfüßen, denen schnelle Erwachsenenschritte folgen. Über allem liegt der durchdringende Geruch von Desinfektionsmitteln.
Dann sind da der Mann und die Frau, die er Eltern nennen soll. Zwei wohlgenährte Menschen irgendwo draußen im Dorf beim Sonntagsspaziergang mit dem zierlichen Kind in der Mitte. Grüßen nach rechts und nach links. Stolz in den Gesichtern. Unser Junge!
Er will sich unsichtbar machen. Will weg. Irgendwohin, er weiß nur nicht, wo. Nur weg von hier.
Der Junge – etwas größer nun – in der gekachelten Futterküche. Immer in Bewegung. Stets getrieben von einer fahrigen Unruhe. Vor den stampfenden Kühen an klirrenden Ketten hat er Angst. Der Hofhund bellt ihn wütend an, wenn er in seine Nähe kommt. Und dieser Gestank von Mist und Fäkalien ist nicht zum Aushalten.
Der Mann, den er Vater nennen soll, trägt eine Gummischürze. In der Hand hält er den Bolzenschussapparat. Das Schwein, das der andere Mann festhält, quiekt und zappelt wie verrückt.
Nein, will er schreien, nein!
Komm Junge, stell dich nicht so an. Soll doch mal was werden aus dir.
Vater setzt den Apparat an und jagt dem Tier das Metall ins Hirn. Sofort sackt das Schwein in sich zusammen.
Er kann nicht hinsehen. Seine Beine drohen ihm wegzuknicken. Er zittert am ganzen Leib, wendet den Kopf.
Blut tropft aus der Schnauze des Tiers. Der andere Mann versetzt dem Schwein einen schnellen Stich in die Halsschlagader.
Der Junge spürt, wie ihm die Galle hochkommt. Dreht sich um. Rennt. Scharfe Worte werden ihm nachgeschleudert.
Willst du wohl hier bleiben, du Bengel!
Kann nicht. Muss raus, weg, nur weg. Draußen vorm Stall übergibt er sich.
Komm sofort her! Wer soll denn das Blut rühren?
Jeder Schritt kostet Überwindung. Doch er kehrt zurück. Gehorsam sein, das hat man ihm eingebläut. Sonst passiert was ganz Schlimmes.
Zögerlich taucht seine Hand in die Schüssel. Er schließt die Augen, will das nicht sehen, aber dem metallischsüßlichen Geruch kann er nicht ausweichen. Er spürt das warme Blut, das soeben noch durch den Körper des Tieres geflossen ist und nun zwischen seinen Fingern hindurchrinnt.
Schon wieder wird ihm übel. Er reißt die Augen auf, die Hand schnellt vor den Mund. Die Schüssel fällt, Blut fließt auf den Boden.
Das gibt’s ja wohl nicht! Jetzt sieh dir das mal an. Nichts kann man dir auftragen, aber auch gar nichts. Was soll bloß aus dir werden? Geh mir aus den Augen!
Er hat es vermasselt. Wie so oft.
Böse Blicke treffen ihn. Wieder einmal wird er weggescheucht.
Er verkriecht sich irgendwohin, wo ihn keiner findet. Versucht, sich abzuschotten, einzuspinnen in seine eigene Welt. Dem Raunen zu entkommen, das ihm in die Ohren dringt, egal, wo er ist. In der Küche. Im Stall: Man kann sagen was man will, er hört einfach nicht. Jede Nacht das nasse Bett. Das geht so nicht mehr. Ich hab alles probiert. Wirklich alles. Irgendwann muss einfach mal Schluss sein.
Hat es damals angefangen? Diese Seelenqual? Oder viel früher? Als er in seinem Gitterbett stand und mit großen Augen in die Welt blickte, die an der Wand hinter den anderen Bettchen endete.
So sehr wollte er ein gutes Kind sein. Doch nie war es genug. Nie.
Jetzt steht er vor dem Spiegel und betrachtet sein fleckiges, schlecht rasiertes Erwachsenengesicht.
Du bist niemand und niemand wird dich vermissen.
Die Erkenntnis schießt wie ätzende Säure durch sein Hirn. Hinterlässt eine brennende Bahn. Ein wütender Komet.
Niemand wird mich vermissen. Niemand. Das ist das Schlimmste.
Wie von fern hört er eine mahnende Stimme: Du musst zur Besinnung kommen, Junge.
Ha! Zur Besinnung kommen!
Schon wieder überrollt ihn eine Erinnerung. Seine Hände beginnen unkontrolliert zu zittern. Sein ganzer Körper schlottert. Höllische Schmerzen jagen durch sein Hirn. Er will die Wand einrennen, den Kopf dagegen knallen. Mit einem Ruck reißt er die Spiegeltür auf, wühlt hektisch in dem Schränkchen. Einzelne Arzneimittelpackungen fallen heraus auf den Boden. Er bückt sich, hebt eine davon auf, starrt darauf.
Tot sein heißt, nicht mehr denken müssen, nicht mehr grübeln, warum und weshalb die Dinge sind wie sie sind. Und welchen Sinn das Ganze hat, das man Leben nennt.
Das deine ist doch sowieso nur ein Drecksleben. Mach endlich Schluss! Dann hast du’s hinter dir.
Ein allzu verlockender Gedanke, der ihn nicht zum ersten Mal streift: Frei sein. Für immer.
Der Boden unter seinen Füßen bekommt Risse. Will ihn verschlingen. Sein Herz schlägt schneller.
Abtauchen, denkt er, untergehen. Wegtreten. Ja, wegtreten. Bei dem Wort lacht er auf. Nicht mehr erreichbar sein für diese Welt und dieses ganze Elend. Aber vor allem: Das pochende Toben hinter seiner Stirn wird er dann ein für allemal los sein.
Seit drei Nächten hat er nicht mehr geschlafen. Seitdem dieser Student angerufen hat, wütet in seinem Inneren ein Krieg. Alles, was er vergessen wollte, ist wieder da. Übergroß und leuchtend wie Höllenfeuer.
Eine Schlinge legt sich um seinen Hals. Angst drückt auf sein Herz. Er muss etwas tun. Irgendwas.
Er denkt an Thomas, seinen einzigen Freund. Den man vor vielen Jahren an einem sonnigen Tag aus dem Rhein fischte. Weil er nicht mehr klargekommen war. Zwölf Jahre war er geworden. Dann war Schluss. Ein für allemal.
So lange her und doch scheint es ihm, als wäre es erst gestern gewesen. Weil dieser Student all das aufgewühlt hat, was er so mühsam hatte vergessen wollen. Unmögliches verlangte er von ihm. Völlig absurd, das Ganze.
Oder war es doch nicht so unmöglich?
Bonn, Polizeipräsidium
1. Kapitel
»Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Rosenberg, na, bereit zu frischen Taten?«
Forschen Schrittes ging Konrad Wieland auf Helena zu und drückte ihre Hand so fest, dass es schmerzte. Freundlich wirkende braune Augen, unter denen schwere Tränensäcke hingen, fixierten sie.
»Morgen«, murmelte Helena und zog schnell ihre Hand zurück.
Argwöhnisch betrachtete sie das runde Gesicht ihres Chefs, seine Glatze mit dem graumelierten Haarkranz. Die Lesebrille baumelte an einem Band vor seiner nicht allzu schmalen Brust, der Bauch unter dem dezent gestreiften Hemd wölbte sich durch die gerade Haltung noch mehr nach vorn.
Mit seiner gesamten Präsenz strahlte Kriminalkommissar Konrad Wieland eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein aus und damit die Überzeugung, dass die eigenen Entscheidungen die richtigen sind. Er war einer, der, unangefochten von allen Widrigkeiten, die das Polizistenleben bereithielt, mit sich zufrieden war, einer, der gern in seiner Wirkungsstätte, dem Polizeipräsidium arbeitete, aus dem einfachen Grund, weil er hier etwas galt. Bereits bei ihrem ersten Gespräch hatte er mit unverhohlenem Stolz verlauten lassen, dass er in mehr als dreißig Dienstjahren beinahe alle seine Fälle gelöst habe. »Was ja nicht jeder von sich behaupten kann, nicht wahr?«
»Haben Sie sich denn schon ein bisschen in unserem schönen Bonn eingelebt?«, fragte er jetzt.
Helena musste an sich halten. Gegen bestimmte Sprüche war sie allergisch. Bereits zwei davon hatte ihr Chef innerhalb weniger Minuten geäußert. Insofern war ihre Antwort eher eine gemäßigte Verlegenheitsäußerung.
»Nun ja«, antwortete sie gedehnt. »Gestern war ich auf dem Alten Friedhof.«
Wieland lachte auf. »Die Toten lassen Sie wohl auch in Ihrer Freizeit nicht los, was? Aber stimmt schon, der Alte Friedhof ist wirklich sehenswert. Schillers Frau liegt da begraben, Beethovens Mutter und …«
»Die Berühmtheiten interessieren mich nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »Dort ist es grün und es gibt viel Schatten. Aber vor allem ist es ruhig.« Und man wird nicht behelligt vom Geschwätz seiner Mitmenschen, fügte sie im Stillen hinzu.
In ihrer Wohnung war es am gestrigen Sonntag unerträglich heiß gewesen, und sie hatte sich zu träge gefühlt, irgendetwas zu unternehmen. Die ausladenden Baumkronen waren von ihrem Wohnzimmerfenster aus zu sehen. Das Areal wirkte ein wenig wie der Dorotheenstädter Friedhof in der Nähe ihrer ehemaligen Berliner Wohnung. In der Kapelle war es schön kühl gewesen. Dort hatte sie eine Weile gesessen und über Gott und die Welt nachgedacht. Und sich zum hundertsten Mal gefragt, ob die Entscheidung, Berlin zu verlassen, richtig war. Die Königswinterer Straße war nicht die Keithstraße. Und der Rhein war weder die Spree noch die Havel. Wahrhaftig nicht.
»Klar. Berühmtheiten habt ihr in eurem Berlin genug. Ich kann mir gut vorstellen, dass Bonn dagegen ein bisschen mickrig wirkt. – Aber immerhin waren wir auch mal Hauptstadt. Wenn auch ein paar Nummern kleiner.« Er zwinkerte ihr zu und lachte lauthals.
Sie atmete tief durch, widerstand dem Impuls, genervt mit den Augen zu rollen und wartete ab, bis sein Lachanfall vorbei war und er sich wieder beruhigt hatte. Sagte sich, dass dieser ältere Herr, der wahrscheinlich eine geduldige Frau zu Hause, nette Kinder und einen Stall voller Enkel hatte, eine vollkommen andere Sozialisation als sie selbst genossen hatte und folglich auch einen anderen Blick auf die Welt.
Kurz dachte sie an eine seiner markanten Äußerungen bei ihrer ersten Begegnung: Wichtig ist Verständnis zeigen. Das gilt für Täter und Opfer gleichermaßen. Rumpoltern gibt’s bei uns nicht. Das können die im Fernsehen so machen meinetwegen. Aber im Umgang mit dem Verbrechen können wir zeigen, dass wir mehr sind als Polizisten. Nämlich Seelsorger oder Beichtvater, Sozialarbeiter oder auch Psychologe, je nachdem, was die Lage erfordert. Das ist ja gerade das Spannende an unserem Beruf.
Hehre Worte.
»Und wir zwei beide, wir werden es wohl jetzt eine Weile miteinander aushalten müssen.«
Manchmal sind wir ganz schöne Quatschbacken, nicht wahr, Herr Kriminalkommissar?
Helena Rosenberg aus Berlin. Bei der Nennung ihres Namens hatte er gestutzt. Nur ganz kurz. Aber sie hatte das kleine Zucken bemerkt, das er sofort überspielen wollte. Eine Reaktion, die sie nur allzu gut kannte. Sie hatte gehofft, dass nicht der übliche Kommentar folgen würde, wenn sie ihren Namen sagte. »Die schöne Helena. Und der Nachname – klingt irgendwie …«
Nein, Konrad Wieland hatte sich jeglichen Kommentar verkniffen, dafür war sie ihm dankbar. Obwohl sie durchaus darauf vorbereitet gewesen war.
Ja, mein Name klingt jüdisch. Und meine Vorfahren sind höchstwahrscheinlich Überlebende von Auschwitz. Aber in meiner Familie hat dies niemanden interessiert. Jedenfalls wurde nie darüber gesprochen. Ihr würde auch viel besser gefallen, sie sei ein Abkömmling von Julius und Ethel Rosenberg, die in New York auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurden. Unschuldig, wie sich danach herausstellte. Aber es gab keine Belege für irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen.
Ihr Chef kniff ein wenig die Augen zusammen. »So ganz klar ist mir allerdings immer noch nicht, warum Sie Berlin gegen Bonn ausgetauscht haben.«
Vorsicht, Helena. Überleg gut, was du antwortest.
»Ab und an sollte man seinen Horizont erweitern.« Sie lächelte gequält und hoffte gleichzeitig, dass dies nicht zu schnippisch geklungen hatte. Dieser Mann, von dem gleichzeitig etwas Väterliches und Überhebliches ausging, meinte es wahrscheinlich gut mit ihr, jedenfalls hatte er ihr dies bereits wortreich zu verstehen gegeben. Und sich gleich am Anfang alles durch forsches Auftreten zu verscherzen, war nicht besonders klug. Diesmal galt es in besonderem Maße, ihre manchmal etwas vorlaute Klappe im Zaum zu halten.
Ralf hatte mal geäußert, dass sie das Aussehen eines Welpen hätte, den man behüten und vor der bösen Welt beschützen möchte, aber sobald sie den Mund aufmache, erinnere sie an einen kläffenden herrenlosen Straßenköter. Und sie solle sich dringend abgewöhnen, ständig mit dem Mittelfinger herumzufuchteln. Ralfs Worte hatten Gewicht und gaben ihr zu denken. Sie war in sich gegangen und hatte an ihrer Art zu kommunizieren und an ihrer Gestik gearbeitet. Die Arbeit dauerte an. Immerhin gelang es ihr jetzt besser, in gewissen Situationen den Mund zu halten, wo sie früher einfach losgeblökt hätte.
»Den Horizont erweitern?« Wieland grinste. »Och nee. Geben Sie es ruhig zu: Sie denken doch sicher, Sie sind hier in der tiefsten Provinz gelandet.« Wieder zwinkerte er ihr zu. »Aber Sie werden sehen, auch die hat ihre Herausforderungen.« Mit diesen Worten legte er eine Pistole auf den Schreibtisch. »Passen Sie gut drauf auf.«
Sie quittierte den Erhalt der Waffe, er verabschiedete sich. »Bis nachher.«
Es war eine Walther P99. Sie nahm sie in die Hand. Strich über das schwarze Metall. Etwas ungewohnt fühlte sie sich an. Ihre Berliner Dienstwaffe war eine SIG Sauer P225 gewesen. Sie würde baldmöglichst zum Schießkino gehen müssen, um sich mit der Handhabung der neuen Waffe vertraut zu machen.
Sie legte die Pistole zurück auf den Schreibtisch und sah sich in ihrem Büro um. Ein kleiner Raum, kaum zehn Quadratmeter, etwas größer als eine Gefängniszelle. Immerhin eine Einzelzelle. Überschaubar, funktionell, schmucklos. Die einzige Dekoration bestand bisher aus einem Monatskalender an der Wand mit Fotos von Berlin, den sie aufgehängt hatte. Ein bisschen alte Heimat in ihrer neuen Wirkungsstätte.
Helena hatte auf einem eigenen Büro bestanden, die allzu große Nähe anderer Menschen machte sie nervös. Sie betrachtete die Dinge lieber aus der Distanz: Sachen, Fälle, Menschen. Mit dieser Haltung kam sie ganz gut klar, auch wenn sie öfter befremdliche Blicke trafen, wenn sie diese Einstellung laut äußerte.
Sie fuhr den Computer hoch. Packte die wenigen Gegenstände aus, die sich in einem mitgebrachten Karton befanden und räumte sie ein. Den lachenden Buddha, der sie ein wenig an ihren neuen Chef erinnerte, stellte sie auf den Schreibtisch. Dabei streifte sie die Walther. Sie nahm die Pistole und legte sie in die untere verschließbare Schublade ihres Schreibtischs.
Was beim Friseur der Kamm ist, ist beim Polizisten die Waffe. Diese Weisheit hatte einer ihrer Ausbilder gern mit glänzenden Augen von sich gegeben. Sie hatte nicht widersprochen, obwohl ihr eine entsprechende Antwort auf der Zunge lag. Das wunderte sie noch heute.
This is my rifle, this is my gun, one is for killing, the other’s for fun. Ein Lied der Soldaten im Vietnamkrieg, das Stanley Kubrick in seinem Film Full Metal Jacket zu neuem Leben erweckt hatte. Rifleman’s Creed, auf YouTube und in ihrem Kopf jederzeit abzurufen, hörte sich an wie eine Liturgie, vorgetragen von zackigen Männern, die sich abwechselnd in den Schritt fassten und ihre Gewehre reckten.
Dass man ein erotisches Verhältnis zu Waffen entwickeln konnte, hatte sie nie verstanden. Dann doch lieber ein erotisches Verhältnis zu dir, Dicker. Sie grinste den lachenden Buddha an.
Im Ablagekörbchen befanden sich einige Infozettel, Broschüren, Hausnachrichten und die Umlaufmappe. Daneben ein Stapel Akten, zum Eingewöhnen, wie ihr Chef mit seinem üblichen Augenzwinkern gesagt hatte.
Sie begann zu lesen. War ja doch allerhand los im kleinen Bonn. Auf dem Flur hörte man hin und wieder gedämpfte Stimmen, Telefonklingeln und Türenklappern. Sonst blieb alles ruhig.
Um die Mittagszeit holte Konrad Wieland sie zum Essen in der Kantine ab. Ein vertrauter Geruch empfing sie. Hier roch es nach Fritierfett und Fertigsoßen, nicht viel anders als in der Berliner Kantine. Ihr Chef stellte sie einigen Kollegen vor, deren Namen sie sofort wieder vergaß.
Wieland bestellte sich Schweinebraten mit Rotkraut und Knödeln, sie begnügte sich mit einem Salat.
»Noch nicht mal einen Nachtisch? Kein Wunder, dass Sie so dünn sind«, meinte er schmunzelnd.
Das hörte sich ja an, als ob er sie für magersüchtig hielt. Dabei brachte sie bei ihren 1,67 Metern immerhin 62 Kilo auf die Waage. Sie verkniff sich eine Antwort und lobte sich innerlich dafür, dass es ihr gelungen war, den Mund zu halten.
Eine halbe Stunde später saß sie wieder in ihrem Büro.
Ihr Telefon klingelte zum ersten Mal. Eine noch ungewohnte Tonfolge. Sie nahm ab.
»Na, wie ist es denn so in Bonn am Rhein, schöne Helena?«, flötete eine rauchige Baritonstimme.
»Chris!«, rief sie freudig aus. Er war der Einzige, der sie ungestraft so nennen durfte. Ihr Lieblingsmensch aus Berlin, den sie am meisten vermisste. »Hier ist der Hund begraben.« Sie lachte.
»Hab ich dir doch gleich gesagt. Wärste mal bei uns geblieben. Alle vermissen dich und fragen nach dir.«
»Das ist schön zu hören.« Sie sah Chris vor sich, seine weichen Züge. Ein Verwandlungskünstler, mal Mann, mal Frau, ganz so wie es zu seiner Stimmung passte. Um seinen sinnlichen Mund und die tiefblauen Augen mit den langen Wimpern beneidete ihn jede Frau. Und wenn er sich aufbrezelte und perfekt gestylt im Glitzerfummel den Po schwang, sah ihm garantiert jeder Mann nach.
Chris, der Paradiesvogel, der auf den ersten Blick äußerst kokett und ein wenig verrucht wirkte, war, wenn man ihn näher kannte, ein loyaler Freund, dem man alles anvertrauen konnte. Auch das Unaussprechliche. Der ein großes Herz und für alles Verständnis hatte. Und einen Drang zur grenzenlosen Offenheit. Vor ihm konnte man einfach keine Geheimnisse haben.
»Chris, du weißt, weshalb ich gehen musste. Gerade du weißt das am allerbesten.«
»Ich hätte dich halt gern dabeigehabt, wenn wir unseren Club eröffnen.« Sie konnte sich seine schlanken Hände vorstellen, die beim Reden immer in Bewegung waren.
»Seid ihr schon so weit?«, fragte sie.
»Ein bisschen dauert es schon noch, ein paar Wochen vielleicht. Wenn alles gut geht. Ist noch ’ne Menge zu tun. Aber du, wir haben eine neue Diseuse aufgetan. Eine Stimme, so ein bisschen wie Romy Haag, ganz nah dran am Leben. Die würde dir auch gefallen.«
Sie sah alles lebhaft vor sich: Den Glitzer, den Glamour, diese Alternativwelt, zu der sie sich bisweilen stark hingezogen fühlte und die in Berlin einen Gegenpol zu ihrer seriösen Arbeit dargestellt hatte.
»Kann sie auch das ›Blaue Klavier‹?«
»Natürlich! Willst du mal hören? Warte, ich spiel’s dir vor.«
… Und der Wind singt mir ein Lied. Von Meer und Sand in den Haaren. Von Heimkehr und Abschied …« Etwas verzerrt klang die Stimme einer Sängerin mit tiefer Stimme aus dem Telefonhörer. »Wenn die Wunden längst verheilt sind, tun die Narben weh. Du brauchst dein ganzes Leben, um die Kindheit zu verstehn …«
Wilde Sehnsucht pochte in ihrer Brust. Sie atmete tief durch. »Ich will sehen, was sich machen lässt, Berlin ist ja nicht aus der Welt. Und diese Sängerin würde ich sehr gern live hören.«
Als sie nach einer Weile auflegte, umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Ein Anruf von Chris, und die Welt war in Ordnung. So einfach waren die Dinge manchmal.
Heute Abend würde sie die CD von Rosenstolz auflegen. Die ältere mit den verrückten, zweideutigen Liedern, die Anna und Peter oft vor kleinem Publikum performt hatten und für die sie nicht selten ausgebuht worden waren. Aber sie hatten unbeirrt ihr Ding weitergemacht, bis sie schließlich als das erfolgreichste Pop-Duo Deutschlands gefeiert wurden. Doch Helena gefielen die alten Lieder besser. Die neuen waren ihr zu kommerziell und angepasst.
Sie freute sich auf den Abend. Da würde sie in dieser Musik schwelgen und von Berlin träumen. Denn träumen durfte sie, das konnte ihr niemand verbieten.