Tollhaus

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Gabriele Bärtels

Tollhaus

Absurder Roman

Berlin 2021, Gabriele Bärtels

Umschlaggestaltung Gabriele Bärtels

gabriele-baertels.de

Alle Rechte vorbehalten.

1. Kapitel

Es ist halb acht. Die Frau mit dem Staubtuch betritt den Flur.

Sie wischt ein Fensterbrett ab und sagt mechanisch: "Wir sind allein geblieben. Man hat uns verlassen. Wir kriegen nichts mehr zu essen, und in ein paar Tagen sind wir alle tot."

In einem Zimmer stehen zwei Betten dicht nebeneinander. Zwei schlafende Gestalten träumen den letzten Traum der Nacht. Die Pracht sieht sich in einer weißen Kutsche über eine Brücke fahren. Mitten auf der Brücke halten die Pferde und sie steigt aus. Der Wind weht und ihr Seidenschal flattert. Sie stellt sich breitbeinig an das Geländer und schaut hinab. Unter ihr rasen Pferde vorbei, von Soldaten gepeitscht.

"Ja," schreit sie gegen den Lärm: "Kommt. Kommt nur. Ich bin bereit."

Albert schnarcht. Er hat im Traum eine Rede gehalten.

"Du hast recht," toben die Massen im Chor, "Du hast recht."

Albert verbeugt sich tief und fühlt sich sehr bescheiden. Man gibt ihm zu Ehren ein Konzert.

Beide wachen gleichzeitig auf. Sie wenden einander die Köpfe zu, reichen sich über den Abstand zwischen den zwei Betten die Hände und himmeln sich an.

"Es befindet sich ein verstecktes Auge im Zimmer, das fühle ich," sagt die Pracht.

Sie richtet sich auf und ordnet ihre Haare. Unter jedem Auge hat sich Wimperntusche in einem schwarzen Bogen abgedrückt.

"Wie sehe ich aus?"

"So frisch wie der Tau auf den Gräsern," sagt Albert. "Die Öffentlichkeit steht vor der Tür. Ich muss mir den Mund mit Seife auswaschen. Man schreibt ja alles mit."

Die Pracht schüttelt ihre Haare, steigt aus dem Bett und streckt sich dekorativ. Sie trägt ein zerdrücktes, paillettenbesetztes Abendkleid und hohe Sandaletten in Schuhgröße 44.

"Wo ist das Auge“, fragt sie, "ich weiß gar nicht, wohin ich meine Schokoladenseite halten soll."

"Ich werde Ruhm ernten gehen, wie alle Tage," antwortet Albert und schwingt die Beine über die Kante.

"Schön gesagt, Liebling," antwortet die Pracht. "Soll ich neben Dir stehen, wenn Du Deine Rede hältst?"

"Es wäre eine Hilfe. Wo ist mein Schlafrock?"

Über dem Gitter des Bettes liegt ein alter Bademantel. Albert zieht ihn an sich.

"Soll ich gleich so?"

"Warum nicht?“sagt die Pracht und rückt ihr Kleid zurecht. "Du siehst so herrlich zerzaust aus, wie ein echter Philosoph."

"Ich bin ein echter Philosoph."

"Sag ich doch." Die Pracht macht eine Pause. "Ich muss auf die Toilette, aber ich kann nicht wegen des Auges."

Albert zuckt mit den Schultern, es ist ihm egal. "Bist Du bereit?“fragt er.

Die Pracht fährt sich noch einmal durch die Haare, dann tritt sie neben Albert. Sie nimmt seinen Arm und beide schreiten zur Tür. Die Pracht drückt die Klinke herunter, Albert dankt und hält kurz die Luft an. Die ersten Sätze müssen sitzen. Die Tür geht auf, und das Paar tritt auf den langen Flur.

Dort steht die Frau mit dem Staubtuch. Der Anblick der beiden erleichtert sie.

"Man hat uns allein gelassen," sagt sie und wischt sich mit dem Tuch den Mund.

Dann fällt sie auf die Knie und wischt den Fußboden. Zentimeter für Zentimeter, in den Ecken besonders gründlich.

Albert und die Pracht schauen nach rechts und nach links. Bis auf die Frau mit dem Staubtuch ist niemand zu sehen.

"Das ist ungewöhnlich," sagt die Pracht. "Nur ein Zuhörer. Lohnt sich das? Wenigstens gibt es noch das Auge."

Albert antwortet nicht. Er will den Anfang seiner Rede nicht verwässern. Er zieht den Gürtel des Bademantels fester und ruft den Flur hinauf und hinab: "Unser heutiges Thema ist das Spiegelbild und das Echo."

"Hört, hört!“, ruft die Menge in seinem Kopf.

"Spiegelbild und Echo existieren nur so lange, wie wir ein Bild auf eine reflektierende Oberfläche werfen oder einen Ton in einen Resonanzkörper. Ein Ton in einem Spiegel dagegen erzeugt kein Bild. Er erzeugt auch kein Echo. Und wir können uns vor einen Resonanzkörper stellen und uns drehen und wenden, wie wir wollen, es wird uns kein Ton zurückgeworfen und ein Bild auch nicht."

Die Pracht nickt gewichtig.

Die Frau mit dem Staubtuch rutscht auf allen vieren den Flur entlang. Sie ist beschäftigt.

Albert kommt in Fahrt und erhebt die Stimme: "Der Grad der genauen Wiedergabe hängt von der Beschaffenheit der reflektierenden Oberfläche und des Resonanzkörpers ab."

Die Frau mit dem Staubtuch hat das Ende des Flures erreicht, stellt sich ächzend auf die Beine und sagt: "Es ist doch schon so spät."

Die Pracht prüft ihre Fingernägel und flüstert: "Hunger habe ich. Aber man sollte nicht essen, wenn man beobachtet wird. Es macht sich nicht gut. Niemand ist attraktiv, während er isst."

Albert hört Stimmen rufen: "Offenbarung!" Er senkt sein Haupt.

"Genug. Ich habe alles gesagt. Die Philosophie der Primzahl wird mein nächstes Thema sein."

Die Pracht haucht: "Du bist so klug,“ und schaut ihn bewundernd an.

"Und Du bist so schön," schmachtet Albert und winkt den vielen Leuten.

Weitere Zimmertüren öffnen sich.

In einem Gitterbett liegt ein Mann. Sein Schädel hat kreisrunde, kahle Stellen, seine Augen sind sehr groß. Er trägt um beide Handgelenke eine Ledermanschette und wartet darauf, dass ihn jemand losbindet. Niemand kommt. So singt er sich wieder zurück in den Schlaf. Sein Körper schaukelt im Takt hin und her. Seine Windeln sind voll.

Die Nonne beugt sich über das Bett des kahlen Mannes. "Mein armer Junge," sagt sie. "Hat man Dich vergessen? Es ist immer das Gleiche. Wenn ich nicht wäre. Und das Himmelreich."

Eine weiße Dame streckt die Hände nach dem kahlen Mann aus und klammert sich um seine Handgelenke.

"Lass mich," sagt er und zappelt, soweit die Fesseln es zulassen. Seine Stimme ist hoch und flach. "Ich bin nur ein Bauer."

Die Nonne schnallt dem kahlen Mann die Manschetten ab und sagt: "Ärmster. Was redest Du da. Du bist mein kleiner Prinz", und greift nach den Windeln.

Der kahle Mann stößt die weiße Dame weg. Er zieht sich die Windeln herunter und die Nonne schaut schnell weg.

"Ich will Dir doch nur helfen," sagt sie mit abgewandtem Gesicht.

"Mir kannst du helfen," dröhnt da eine Stimme aus der anderen Ecke des Zimmers. "Hol mir mal meine Schuhe, aber dalli," sagt der Boxer. "Ich habe keine Hände."

Er hält seine groben, ledernen Boxhandschuhe hoch.

"Wo stehen sie denn?", fragt die Nonne mit kleiner Stimme.

"Wo sie immer stehen. Unter dem Bett. Bücke Dich halt ein bisschen, dann habe ich was zu gucken." Der Boxer lacht gewaltig.

Die Nonne schlägt ein Kreuzzeichen. "Ich helfe ja gerne,“ sagt sie und presst die Tränen zurück, "aber ein Bitte oder Danke würde ich schon mal gerne hören."

"Du wüsstest gar nicht, was Du damit anfangen sollst, Du kranke Schwester. Du lebst doch nur von dem, was Du nicht kriegst. Also mach schon, Du wirst Dich gut fühlen, wenn Du Dich gebückt hast."

Die Frau mit dem Staubtuch ist durch alle Zimmer gegangen. Überall hat sie die Ecken ausgewischt und die Fensterbretter und immer dasselbe vor sich hin gemurmelt: "Man hat uns allein gelassen. Wir werden sterben."

Die weiße Dame dreht sich weg und ihre obere Hälfte bricht ab. Der kahle Mann stößt einen Schrei aus.

Die Nonne, rot im Gesicht vom Bücken, wendet sich nach ihm um. Da steht er in kurzen Hosen, den Blick starr auf ihre Beine gerichtet.

Die Nonne erschauert vor Mitgefühl. "Armer Junge. Er hat Hunger." Sie macht einen Schritt auf den kahlen Mann zu.

Der sieht sie wild an und wankt auf unsicheren Beinen aus dem Zimmer. Im Flur stehen lauter Schachfiguren. Er drängt sich am schwarzen Pferd vorbei und zwischen zwei Läufern durch, stolpert über einen weißen Bauern und fällt beinahe dem schwarzen König vor die Füße.

"Schach," zischt dieser ihm zu, als er vorüber taumelt. Er versteckt sich hinter zwei Türmen.

"Was ist hier los?“fragt die Frau mit dem Staubtuch und poliert einen Kerzenhalter an der Wand. "Es ist nicht so wie alle Tage. Um diese Uhrzeit wird der Morgenbrei verteilt. Ich komme um acht Uhr, da ist er noch heiß. Einmal bin ich um zehn nach acht gekommen, da gab es keinen mehr. Ich konnte es an diesem Tag nicht wieder gut machen."

Sie schaut auf. Viele Menschen laufen durcheinander. Ihre Hand bewegt sich immer schneller.

"Bitte in einer Reihe aufstellen," ruft sie. "Nach Schuhgrößen sortiert."

Die Nonne stellt sich mit dem Gesicht zur Wand.

"Braucht jemand Hilfe?“fragt sie leise. Als keine Antwort kommt, fängt sie an zu beten.

Der Körper geht durch den Gang. Seine Augen blicken nicht. Alles an ihm hängt, auch seine Hände. Ein Fuß wird hochgezogen und wieder fallengelassen. Daneben fällt der andere. Fünfzig Meter bis zur Tür am anderen Ende.

"Den haben sie gestern abgeschossen," sagt der Boxer. Er hat eine Pfeife zwischen seine Boxhandschuhe geklemmt und raucht.

"Das darf man hier nicht," flüstert eine blasse Gestalt in einem langen weißen Nachthemd. Ihr Kopf ist mit einem weißen Schal verhüllt. Sie hat kein Gesicht. Sie weht weiter.

Der Boxer zuckt die Schultern und klopft die Pfeife über dem Steinfußboden aus. Die blasse Gestalt dreht sich um und kommt zurück. Sie huscht an der Wand lang.

"Wissen Sie, was ein Wahrnehmungsfehler ist? Ich kann es Ihnen sagen. Wenn Sie an einem Menschen zuerst etwas subjektiv Positives entdecken, dann sind Sie geneigt, alles Weitere ebenfalls positiv zu bewerten."

 

Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und haucht dem Boxer ins Ohr: "Sagen Sie, ist Liebe nur ein Wahrnehmungsfehler?"

Der Boxer hebt die Fäuste in Abwehr über den Kopf und duckt sich. "Ich habe mit Liebe nichts zu tun. Das ist was für Leute mit zu viel Zeit. Ich bin beschäftigt. Ich habe alle geboxt. Ich bin der Beste, falls Sie wissen, was das heißt. Es tut weh, der Beste zu werden. Man muss viele Schläge einstecken. Alles schmerzt. Man braucht Tage, um sich zu erholen. Man geht in den Kampf und keiner kommt unversehrt heraus. Die Ringrichter richten nicht über Recht oder Unrecht. Sie messen nur die Stärke, die Schlauheit, die Schnelligkeit und die Treffsicherheit. Man kämpft ohne Grund. Ein Kampfhund. Ein Kampfhahn. Eine Kampfmaschine. Ich hasse aus Prinzip. Ich kämpfe, weil sie mir meinen Titel wegnehmen wollen. Wozu sollte ich sonst die Fäuste gegen sie erheben? Das ist doch dumm von ihnen, finden Sie nicht? Ich wäre ein friedlicher Mensch, wenn ich nicht kämpfen müsste. Glauben Sie mir einfach, dann tue ich Ihnen auch nichts."

Dem Boxer laufen Tränen über die Wangen. Er wischt sie mit den Boxhandschuhen ab. Das Leder der Handschuhe glitzert feucht.

Die Gestalt legt eine magere Hand auf des Boxers Arm. "Sie sind ein bedauernswerter Mann," flüstert sie.

Der Boxer nickt. "Ja, das bin ich. Alle wollen sich an mir reiben. Glauben Sie mir, ich könnte lieben. Ich fühle es. Es ist alles begraben in mir. Niemand lässt mir die Zeit und die Ruhe, meine schönen Seiten zu zeigen. Ich kann singen, wissen Sie? Aber wenn einer singt, ist er nicht in Deckung. Ich bin eine raue Schale. Das ist die Trauer, die mich antreibt. Der Ring ist ein Kreis. Mit Liebe habe ich nichts zu tun."

"Sie haben mit mir zu tun," haucht die blasse Gestalt durch den Schal, und der Boxer muss sein Ohr tief neigen, damit er die Worte versteht.

Der Körper kommt zurück. Ohne aufzusehen, hat er einen Meter vor der Tür angehalten und sich dann teilnahmslos umgedreht. Man geht ihm aus dem Weg.

Der Boxer schaut ihm entgegen. "Der läuft so automatisch wie ein Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat."

Die blasse Gestalt zieht den Schal enger um den Kopf und flüstert: "Das ist mein Körper. In einer Menschenmenge haben wir uns aus den Augen verloren."

Am anderen Ende des Ganges kriecht die Frau mit dem Staubtuch vor der Tür herum. Sie hat die Fußleisten abgewischt. Fünfzig Meter rechts und fünfzig Meter links. Auf der Tür sind viele Fingerabdrücke.

"Ich habe meine Bürste nicht", murmelt sie. "Ich versuch´s trotzdem."

Sie spuckt auf das Tuch und presst es gegen das Holz. Sie reibt hin und her, bis es quietscht. Sie beugt sich zurück und prüft das Ergebnis. Ärgerlich schüttelt sie den Kopf.

"Nur Streifen."

Wieder drückt sie das Tuch gegen die Tür und diese geht dabei langsam auf. Da kommt der Körper zurück. Er spaziert geradewegs durch die offene Tür hinaus.

Die Frau mit dem Staubtuch schaut ihm nach.

"Man hat uns allein gelassen," wiederholt sie. "Die Tür steht offen, das sollte sie nicht. Wir werden alle sterben."

Die blasse Gestalt wispert: "Mein Körper ist hinausgegangen."

Die Frau mit dem Staubtuch kann ihre Hände nicht mehr ruhig halten. Die zittern so, dass sie sie unter die Achselhöhlen steckt und mit den Oberarmen fest an den Körper presst.

"Das geht nicht. Dahinter ist nichts. Das Leben geht von hier bis da und nicht darüber hinaus. Mach sie zu, mach sie zu!"

Der Körper kommt nicht mehr zurück. Niemand sonst ist hinausgegangen. Sie drängen sich vor der Öffnung.

"Man könnte hinausgehen und siegen," sagt der Boxer. "Aber davor steht der Kampf."

Die Pracht reibt sich an ihm. Sie wirft ihr Haar zurück.

"Geh kämpfen. Tu's für mich. Trag mich über die Schwelle in die Freiheit. "

"Brauchen Sie Hilfe?“, fragt die Nonne die Wand.

Die blasse Gestalt flüstert: "Begraben Sie mich bitte. Mein Körper hat mich verlassen. Ich muss wohl tot sein."

"Man begräbt nur Körper, nicht Seelen. Die steigen an den Himmel, dort verdunsten sie und kommen als Regen wieder herunter," sagt Albert.

Die blasse Gestalt schwebt hin und her.

"Eben konnte ich ihn wenigstens noch ansehen. Ich erinnerte mich, wie ich aussah, ich hatte sogar eine Idee, wie ich mich gefühlt habe. Wenn ich müde war oder traurig oder aufgeregt. Wie das Herz dann schlug und das Blut rauschte und die Tränen flossen oder der Schweiß. Nun ist er fort."

"Nehmen Sie sich einfach einen anderen," schlägt der Boxer vor. "Hier stehen doch genug davon herum."

Die Pracht klatscht in die Hände. "Das ist wunderbar. Suchen Sie sich den schönsten aus. Soll es ein Mann sein oder eine Frau? Nehmen Sie einen jungen, das könnte Ihr Leben glatt verdoppeln. Ach, ich wünschte, mir würde mal jemand so eine Chance geben." Sie raunt Albert zu: "Komme ich gut rüber?"

"Deine Seele hat Dich längst verlassen," sagt Albert, "und Du hast es nicht einmal bemerkt. Du bist eine Pracht. Du isst nicht, du scheißt nicht. Du musst nie niesen. Du bist immer schön. Das ist verdächtig."

Die blasse Gestalt haucht: "Mit den Jahren haben wir uns einander angepasst wie ein Schuh und ein Fuß. Ihr Körper würde mir Druckstellen verursachen."

Der Boxer wirft ein: "Meine Liebe, Sie haben ihn nicht gut dressiert. Meiner würde nicht so unkontrolliert davonlaufen. Den habe ich im Griff." Er fällt auf die Boxhandschuhe und pumpt dreißig Liegestütze. "Sehen Sie," sagt er von unten. "Ob es ihn schmerzt oder nicht. Der macht alles mit."

Die Frau mit dem Staubtuch mischt sich ein: "Ich würde sagen, der Körper hat die Seele verlassen, weil die Tür offen stand."

Sie wischt mit dem Tuch über ihren Mund. "Ich bin so dumm."

Die Nonne nimmt ihren Blick von der Wand und stürzt sich auf die Gelegenheit: "Um Gottes Willen, bleiben Sie friedlich. Brauchen Sie Hilfe?"

Dem kahlen Mann sind die Türme weggelaufen. Vor ihm häufen sich Schachfiguren auf dem quadratisch verlegten Linoleumboden. "Bin ich weiß oder bin ich schwarz?“fragt er.

Die blasse Gestalt klammert sich an die Nonne: "Ja. Ich brauche Hilfe. Ohne Körper weht mich der Wind in jede Richtung."

Die Nonne blüht auf. "Wir werden zum Heiligen Antonius beten." Sie fällt auf die Knie, faltet die Hände und murmelt vor sich hin.

Der Boxer lässt die Arme baumeln.

Die blasse Gestalt greift nach seiner Lederfaust: "Kann ich mich an Ihnen festhalten? Sie haben große Hände."

Der Boxer kommt ins Stottern. "Ich gehe nicht durch diese Tür. Draußen wird gekämpft."

"Gekämpft, sagen Sie?" Die blasse Gestalt fällt zu einem Häufchen Stoff zusammen. "Kann sich ein Körper ohne Seele wehren? Ist er nicht schon halbtot?"

Der kahle Mann starrt auf die Figuren und murmelt: "Weiß fängt an."

"Massen, hört mir zu." Albert stellt sich vor die anderen. "Man hat uns verlassen. Wir sind allein geblieben."

"Meine Worte," sagt die Frau mit dem Staubtuch und wischt Albert den Mund ab. Albert muss niesen.

"Mein Gott, wie peinlich," sagt die Pracht und reicht Albert ein blütenweißes Taschentuch.

"Es ist der Tagesablauf, der fehlt," sagt die Frau mit dem Staubtuch. "Es ist doch ganz klar. Jeden Morgen bin ich aufgestanden. Saß am selben Tisch. Dann wurde das Licht ausgeblasen. Jeden Tag. Heute ist das Licht nicht angegangen. Nur die Sonne. Ich stehe herum und warte auf meinen Tagesablauf, aber er kommt nicht."

"Es ist ja nicht so," sagt Albert, "dass es nur darum ginge, ob und wer durch diese Tür geht. Vielmehr muss man doch bedenken, wer oder was hereinkommen kann."

"Es geht immer alles durch dieselbe Tür." Stellt die Frau mit dem Staubtuch fest und versucht, mit den Fingerspitzen eine verstaubte Deckenlampe zu erreichen.

"Mich friert," sagt die blasse Gestalt und lässt den Boxer nicht los.

"Ich bringe Ihnen etwas zum Überziehen," sagt die Nonne und glüht vor Begeisterung. "Krisen produzieren Unmengen an Hilflosigkeit. Man braucht mich."

"Sie können einer Seele keinen Mantel umhängen," sagt Albert streng. "Und außerdem: Krisen wie diese erzeugen von allem ein bisschen mehr. Nicht nur Hilflosigkeit. Auch Mut. Sie sind so einseitig."

Die Pracht ruft: "Lächeln bitte, lächeln. Wir wollen uns doch nicht von unserer schlechtesten Seite zeigen. Denken Sie, was Sie wollen, aber sagen Sie zwischendurch immer 'Cheese'."

Die Pracht sucht einen Spiegel, kramt in einem Täschchen mit goldenem Verschluss. Eine Puderdose kommt zum Vorschein. Sie klappt die Dose auf und stiert in den Deckel.

"Ich habe einen Mitesser," sagt sie. "Aus dem mache ich einen Schönheitsfleck. Das ist alles. Der Rest ist tadellos."

Sie holt einen Stift heraus und setzt sich einen dicken, schwarzen Punkt rechts neben die Nase.

"Genial," sagt Albert.

"Ja," sagt die Pracht.

Die Frau mit dem Staubtuch stellt sich auf die Zehenspitzen und entfernt den schwarzen Punkt sorgfältig aus dem Gesicht der Pracht.

Die Nonne sagt: "Das hätte ich doch machen können."

Das Glühen in ihrem Gesicht hat etwas Fiebriges bekommen. Ihr Blick irrt umher. Er fällt auf den kahlen Mann.

Der sagt: "G7", und springt erschreckt auf. "Die weiße Dame."

"Du armes Geschöpf Gottes," sagt die Nonne und eilt auf ihn zu.

Der kahle Mann geht einen Schritt zurück, einen zweiten. Er achtet darauf, in der Diagonale zu bleiben.

"Hier ist der Rand", wimmert er. "Und ich bin nur ein Bauer. Ich bin längst geschlagen worden. Du kannst nicht "Schach" zu mir sagen."

Draußen läutet eine Kirchenglocke neunmal.

"Der schwarze König," flüstert der kahle Mann und hält sich die Augen zu.

Der Boxer tänzelt hin und her. Neun Schritte, keiner ist wieder andere.

Die blasse Gestalt flattert zu Boden. "Ein Wind," flüstert sie. "Ich brauche einen Aufwind."

"Ich wusste, ich bin eine Fata Morgana," schnurrt die Pracht und ist zufrieden.

Beim fünften Glockenschlag streichelt die Nonne das Kreuz, das über ihrer Brust baumelt.

Die Frau mit dem Staubtuch sagt: "Die Zeit schlägt zu."

Albert überlegt: "Sieben ist eine Primzahl."

Der achte. Der neunte. Stille.

Ein jeder versinkt in seinem Gedanken und in eine seltsame Starre des Gesichtsausdrucks. Man wendet der offenen Tür den Rücken zu und schlendert zurück in das eigene Zimmer. Zurück bleibt die Frau mit dem Staubtuch. Sie hebt die blasse Gestalt vom Boden auf und schüttelt sie.

"Das ist ja nur ein zerknülltes Bettlaken", sagt sie, faltet es und hängt es über einen Stuhl. "Wer hat das wohl verloren?"

In den nächsten Tagen arbeitet sich die Frau mit dem Staubtuch durch alle Räume. Rücksichtslos und schweigend wischt sie über Füße, Hände, Wände und Bettgestelle. Sie guckt nicht auf.

Ganz hinten im Gang kommt sie wieder an die nur angelehnte Tür. Der Schlüssel liegt auf der Erde.

"Ordnung muss sein," erklärt die Frau dem Schlüssel und steckt ihn wieder in das Schloss.

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