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2. KAPITEL

Wenn die Vergangenheit dich einholt

Ich bin nun, im sintflutartigen Regen, auf dem Weg in die Kirche. Das klingt jetzt wohl in euren Ohren, nach allem, was ihr inzwischen bereits über mich wisst, eher ein bisschen komisch. Und seid versichert, außer wie heute zu einer Beerdigung oder vielleicht noch zu einer Hochzeit, werdet ihr mich dort auch garantiert nie antreffen!! Meine Eltern waren konfessionslose, dafür aber spirituell offene Freigeister gewesen. In ihren jungen Jahren, vor meiner Geburt, waren sie sehr viel auf Reisen und haben verschiedenste Lebensformen und Sitten erfahren und ge(er)lebt. Ihre offene, freidenkende Lebensphilosophie hatte schon sehr früh auf mich abgefärbt. Mein Vater beschäftigte sich in seiner Freizeit oft mit alten Mythen, den verschiedenen Religionen, Theosophie, Naturwissenschaften, Astrologie, Physik und vielem mehr. Viele Stunden verbrachte ich gemeinsam mit ihm in seinem Studierzimmer, in dem fast immer ein gemütliches Feuer im Kamin knisterte.

Versteht mich nicht falsch! Es ist absolut nicht so, dass ich keinen Glauben habe, aber in meinen Augen sind Glaube und Kirche zwei ganz verschiedene Themengebiete. Wie mein Lebensstil ist auch mein Glaube für mich absolut perfekt und passend! Und ein jeder möge für sich ebenfalls das für ihn Richtige finden und in Frieden damit leben. Das war Teil meiner Religion. Als ich 14 war, hatte ich meine Mutter mal gefragt, wie sie und mein Vater denn eigentlich vor meiner Geburt auf den Namen ALEA gekommen sind. Ihre lächelnde Antwort lautete: „Während deiner Geburt hat mir ein Engel diesen Namen für dich ins Ohr geflüstert, Liebes.“ Erst dachte ich, sie macht einen Witz, aber es war ihr völliger Ernst. Und Leute, heute bin ich sogar davon überzeugt, dass es genauso gewesen ist! Denn ich schließe inzwischen so gut wie nichts mehr aus. Ich bin überzeugt, dass Diverses um und in uns existiert, das wir mit den Augen nicht sehen oder mit dem (begrenzten) menschlichen Verstand nicht erfassen und erklären können.

Der Regen prasselt noch immer auf die Scheiben meines Wagens, während ich auf dem gut besetzten Friedhofsparkplatz nach einer freien Lücke Ausschau halte. Anscheinend wollen viele andere, wie ich ja auch, Lisa die letzte Ehre erweisen und nochmal Adieu sagen. Sie war eine allseits beliebte und fröhliche alte Dame gewesen und so erstaunt mich der Auflauf an Leuten ebenso wenig wie, dass sogar der Himmel zu ihrem Abschied mitweint …

Lisa, oder Elisabeth, wie sie eigentlich getauft wurde, war die Oma meiner Schulfreundin Sabrina gewesen. Als Kinder und Jugendliche haben wir viel Zeit in ihrer Küche, in der sie immer was Leckeres am Kochen oder Backen war, verbracht. Sie erzählte uns tolle Geschichten und wir durften in ihrem Garten von allem naschen, was an Bäumen, Sträuchern und im Boden wuchs. Es war ein Paradies für stets hungrige Kindermäuler wie Sabrina und mich.

Als Sabrina dann nach ihrer Ausbildung wegzog, hatte ich den Kontakt zu ihrer Oma aufrechterhalten. Sie war mir während der Zeit nach dem Tod meiner Eltern eine wundervolle Zuhörerin und Ratgeberin gewesen. Ich habe sie sehr geliebt und hatte erst vorletzte Woche noch während eines Spaziergangs mit Thor spontan bei ihr reingeschaut. Sie war mir so vital, rüstig und gesund wie stets erschienen. Ihre 85 Lebensjahre sah man ihr bei Weitem nicht an. Doch dann, vor vier Tagen, hat ganz überraschend und aus dem Nichts ihr Herz über Nacht aufgehört zu schlagen. Sie ist friedlich im Schlaf von uns gegangen. Ich finde, es gibt weitaus unangenehmere Arten, aus dem Leben zu scheiden, und bin überzeugt, dieses Szenario hätte ihr sicher auch gefallen. Obschon es natürlich ruhig noch viele, viele Jahre hätte dauern mögen bis dahin. Sie wird mir fehlen, das weiß und akzeptiere ich. Aber nach meinem Glauben ist sie ja nicht wirklich tot, sondern hat sich nur des Körpers entledigt und ist heimgegangen in die seelischen Sphären, wo es ihr bestimmt gut geht. Sicher schaut sie uns heute zu und ist unter uns.

Inzwischen bin ich in der Kirche angekommen, habe viele Hände geschüttelt, Lisas fast komplett anwesender Familie mein Mitgefühl ausgesprochen und meine Tränen bisher tapfer zurückgehalten. Sabrina ist auch da. Wir haben losen Kontakt gehalten, uns aber schon länger nicht mehr gesehen. Und da sie rund vier Stunden Fahrzeit entfernt lebt und inzwischen als dreifache Mutter voll in ihrer Rolle aufgeht, haben wir nicht mehr sehr viele gemeinsame Interessen. Was angesichts unserer doch ziemlich verschiedenen Lebensstile absolut verständlich ist. Aber ich freue mich sehr, sie wieder mal zu treffen. Auch wenn die Umstände nicht sehr erfreulich sind, und ich hoffe, dass sich später noch Gelegenheit für ein persönliches Gespräch ergibt.

Während ich mir überlege, ob ihr fast vier Jahre älterer Bruder Alex (das Ekel) wohl auch noch aufkreuzen wird, höre ich hinter mir Schritte. Ich spüre, wie meine Nackenhaare sich aufrichten und mir ein kalter, aber nicht unangenehmer Schauer den Rücken herunterrieselt. Zeitgleich sehe ich, wie sich vor mir die Augen von Sabrinas Mutter erfreut weiten und ehe ich noch hinter mich schauen kann, sagt sie auch schon: „Alex, mein Junge! Wie schön, dass du es doch noch geschafft hast, zu kommen.“ Ohne einen Blick auf ihn erhaschen zu können, liegt seine Mutter auch schon in seinen Armen und ihre Tränen fließen ungehemmt. Sie schluchzt herzzerreißend an seiner Brust, während Alex sich zu ihr hinunterbeugt und tröstend auf sie einredet. Ich suche mir derweil eine Sitzgelegenheit, denn der Pfarrer schaut sich schon ein bisschen angespannt um, da noch lange nicht alle seine Schäfchen brav am Platz sitzen. Die Trauerfamilie sitzt auf den vordersten Bänken und so sehe ich auch während der nächsten Stunde nur den breiten, muskulösen Rücken und die dunklen, zerzausten und leicht gelockten Haare von Alex, dem einstigen Ekel. Und während der Geistliche ziemlich monoton seine übliche Litanei abspult, schweifen meine Gedanken Jahre in die Vergangenheit zurück …

Ich war, wie Sabrina damals auch, neun Jahre alt gewesen, als sie und ihre Familie in den Ort zogen. Sie kam zu Beginn des neuen Schuljahres in meine Klasse. Wir freundeten uns sehr schnell an und waren danach bis zum Schulabschluss so unzertrennlich wie Zwillinge. Wir teilten all unsere geheimen Gedanken und Fantasien. Malten uns in den schönsten Farben aus, wie die Zukunft, die offen vor uns lag, sein könnte. Etliche Nachmittage verbrachten wir nur mit Quatschen und gemeinsamen Tagträumen. Ihr einziger Bruder, der damals schon beinahe 13-jährige Alex, war ein gut aussehender, charmanter Rowdy und ein Großmaul dazu. Er scharte bald eine männliche Anhängerschaft um sich und war definitiv ein sogenanntes Alphamännchen. Zudem war er schnell mal das Hauptthema in jeder tuschelnden und kichernden Mädchenrunde auf dem Schulhof. Denn die meisten Mädchen waren total verknallt in ihn und er wechselte seine Freundinnen dadurch recht häufig.

Mir gegenüber verhielt er sich jedoch meist herablassend, patzig und fies. Er spielte mir oft üble Streiche und außerdem neckte er mich andauernd, sodass mir peinliche Röte ins Gesicht schoss. Dafür hasste ich ihn, obwohl mein Herz jedes Mal wild klopfte, wenn ich ihn sah! Ich war für ihn wohl bloß die nervige Freundin seiner ebenso nervigen kleinen Schwester. Und als er direkt nach der Schule ein Auslandjahr einlegte und danach nicht mehr in unseren Ort heimkehrte, vermisste ich ihn nicht sonderlich. Und bis heute hatte ich, ehrlich gesagt, eigentlich auch keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet.

Bei den Worten, „… und nun lasst uns ein Gebet sprechen“, beende ich meinen geistigen Ausflug in die Vergangenheit und falte, wie alle anderen auch, meine Hände. Verzeih mir die Abschweifung liebe Lisa, bitte ich innerlich und richte mein Bewusstsein wieder in die Gegenwart und den Moment. Nach der Trauerfeier geht es weiter ins gegenüberliegende Gasthaus mit dem passenden Namen „Zum ewigen Licht“. Auf dem Weg dahin gerate ich mit Sabrina ins Plaudern und drinnen bittet sie darum, mich doch am Familientisch neben sie zu setzen, damit wir unser Gespräch fortsetzen können. Lukas, ihr Mann, ist ungeplant mit den Kindern zu Hause geblieben, weil das Jüngste seit heute Morgen Fieber hat und der Platz neben ihr ist somit eh frei. Die restlichen Trauergäste strömen weiter in den großen Saal und verteilen sich an den gedeckten Tischen. Dann nimmt jemand zu meiner rechten Seite Platz und als ich meinen Kopf neugierig wende, schaue ich direkt in Alex stahlblaue Augen.

Es ist, als würde die Zeit stehen bleiben. Der Lärm all der gedämpften Gespräche verschwindet plötzlich völlig im Hintergrund und es ist, als existierten nur noch wir beide. Wir versinken in der Tiefe unseres innigen Blicks und ein weiterer angenehmer Schauer durchfährt mich von Kopf bis zu den Zehenspitzen, während mein Herz dazu freudig jubelt und heftig klopft. Was zum Teufel ist denn hier grad los, denke ich, bevor ich mich beherrsche und mich, mit einer spürbaren Röte im Gesicht, von seinem intensiven Blick und dem verführerischen Lächeln löse und verlegen auf mein Weinglas starre. Während ich mir einen großen Schluck genehmige, schaue ich mich kurz um, hoffe, dass die Szene vorhin niemandem aufgefallen ist, und höre ihn dann mit seiner sehr erotischen Stimme sagen: „Na, wie geht’s denn meiner kleinen Wildkatze? Schön, dich wieder mal zu sehen. Du bist übrigens zu einer hinreißenden Frau herangereift, genau wie ich vermutet hatte.“ Seine Stimme klingt verdammt sexy, so schön tief und verführerisch …

Beim Wort Wildkatze, so hat er mich damals immer genannt, kommen erneut Erinnerungen in mir hoch und ich denke an unsere letzte Begegnung einen Tag, bevor er damals wegflog. Der KUSS!!! Er hatte mich geküsst! Das hatte ich irgendwie völlig aus meinen Gedanken verbannt all die Jahre, aber jetzt fällt es mir siedend heiß wieder ein und ich werde erneut knallrot und schweife gedanklich in die Vergangenheit zurück … Mein allererster Kuss war das damals gewesen und es hatte mich alles andere als kalt gelassen! Aber im Nachhinein war ich dann davon überzeugt gewesen, dass das nur ein weiterer fieser Streich beziehungsweise eine Laune von Alex gewesen sein konnte …

 

Ich schaue ihn erneut an und antworte dann ein bisschen heiser: „Nenn mich nicht immer Wildkatze, du Ekel.“ Aber meine nach oben gezogenen Mundwinkel signalisieren ihm, dass ich es nicht wirklich allzu ernst damit meine. Verdammt, er sieht unverschämt gut aus und mein Herz rast schon wieder. Ob er ebenfalls an den Kuss denkt? Ob meine Vorliebe für dominante Männer auf diesem damaligen Erlebnis beruht? Diese Querverbindung des Kusses zu meinen sexuellen Vorlieben fällt mir zum ersten Mal auf. Gedanken fluten mein Hirn und ich bin für meine ansonsten glasklaren Verhältnisse ziemlich durcheinander. Er nannte es damals großzügig sein Abschiedsgeschenk und wohl nur wir beide wissen überhaupt von diesem Kuss!

Es war wie erwähnt am Tag, bevor er damals nach England flog. Ich hatte gerade mit Sabrina Hausaufgaben erledigt und wollte mich auf den Weg nach Hause machen. Sie war, nachdem wir uns oben in ihrem Zimmer verabschiedet hatten, im Bad verschwunden, um zu duschen. Ihre Eltern waren außer Haus. Ich war soeben dabei, mir meine Schuhe anzuziehen, als Alex zur Haustür reinkam, mich anschaute und fragte: „Ist das Wildkätzchen extra gekommen, um mir Lebwohl zu sagen?“ „Träum weiter, du eingebildeter Idiot! Außerdem bin ich froh, dich endlich loszuwerden“, antwortete ich ihm patzig, aber mit der vollen Inbrunst meiner dreizehn Jahre. Ich funkelte ihn wütend an, als ich mich an ihm vorbei zur Haustür durchzwängen wollte. Er hielt mich jedoch am Arm zurück und als ich ihn anschaute, war sein Blick irgendwie verklärt und nachdenklich. So hatte er mich noch nie angeschaut und ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging. Ich wurde verlegen und natürlich wieder einmal knallrot, wich einen Schritt zurück und spürte die Haustür in meinem Rücken, die mich blockierte. Ohne zu zögern, stellte er sich ganz nah vor mich hin, stützte seine Hände links und rechts neben meinem Kopf ab und sah mir wortlos in die Augen. Mein Herz pochte so wild, dass ich Angst hatte, es würde nächstens aus meiner Brust springen oder grad so schlimm, er würde es bemerken oder hören. In meinen Ohren rauschte es und mir wurde ein bisschen schwindlig. „Bist du dir da ganz sicher, kleine Kratzbürste?“, fragte er sanft mit einem Grinsen im Gesicht und schaute auf mich runter. „Wer würde denn ein Ekel wie dich schon vermissen?“, gab ich ihm schlagfertiger und frecher, als mir zumute war, zurück. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nur leicht, aber in ernster Tonlage antwortet er mir daraufhin: „Ich gebe dir jetzt einen Grund, damit du mich vermissen kannst. Mein Abschiedsgeschenk sozusagen!“

„Und dann küsste er mich! Erst nur sanft und mit geschlossenen Lippen. Abwehrend legte ich meine Hände auf seine Brust und versuchte, ihn von mir wegzustoßen, während ich gleichzeitig meinen Mund krampfhaft zusammenpresste. Aber er packte meine Arme, zog sie nach oben und hielt sie dort über meinem Kopf mit seiner einen Hand fest, während er mir mit der anderen unters Kinn fasste und meinen Kopf anhob. Dann küsste er mich erneut und diesmal forderte er mit seiner Zunge Einlass in meinen Mund … Ich hatte noch nie zuvor einen Jungen geküsst. Ehrlich gesagt fand ich es total widerwärtig und abstoßend. Sabrina war übrigens derselben Meinung! Wir amüsierten uns oft mit dummen Sprüchen, welche wir über die knutschenden Pärchen machten, während wir sie nachäfften.

Ich änderte meine Meinung über Küsse dann jedoch sehr schnell, denn seine Zunge in meinem Mund sorgte für Schmetterlinge im Bauch und ich begann, das Zungenspiel nach Kurzem nicht bloß zu erwidern, nein, ich genoss dieses köstliche, süße Gefühl. Tauchte komplett ein in diese für mich neue Welt und wollte eigentlich gar nicht mehr aufhören damit, weil es sich so fantastisch anfühlte! Als es dennoch irgendwann zu Ende war, er mich freigab und gleichzeitig einen Schritt zurück machte, traute ich mich kaum, die Augen wieder zu öffnen. Das Blut rauschte in meinen Ohren, mein Herz schlug rasend schnell und ich war völlig von der Rolle. Als ich die Augen nach Längerem endlich zaghaft wieder öffnete, war er bereits lautlos in seinem Zimmer verschwunden und hatte die Türe hinter sich geschlossen …

Verwirrt und von Gefühlen überwältigt machte ich mich mit immer noch wild klopfendem Herzen auf den Heimweg und beschloss danach, diese Szene aus meinem Gedächtnis zu löschen. Und bis heute war mir das ja scheinbar auch ganz gut gelungen! Das Essen kommt und Alex wird von seiner gegenübersitzenden Mutter in ein Gespräch verwickelt. Ich wende mich wieder Sabrina zu und die schaut mich erst mal ziemlich lange und grinsend an. Sie hat also doch was mitgekriegt. Mist! Denke ich und schüttle ganz leicht den Kopf, um ihr wie früher anzudeuten, dass ich jetzt nicht darüber reden will, und sie nickt mir verschmitzt zu. Ich fühle mich grad wieder wie eine Dreizehnjährige und lächle in mich hinein.

Für den Rest der Feier vermeide ich es jedoch ziemlich gekonnt, mich Alex nochmal zuzuwenden oder gar erneut ins Gespräch zu kommen. Seine Nähe macht mich sowieso schon nervös genug! Zudem sind Sabrina und ich längst wieder in unser Gequatsche vertieft. Es gibt Freundschaften, da kann man sich auch länger nicht sehen und sprechen, dennoch ist es beim Zusammentreffen, als wären keine Jahre verstrichen. Man setzt nahtlos und im selben Vertrauen mit derselben Offenheit dort an, wo man einander aus den Augen verlor.

Irgendwann löst sich die Gesellschaft allmählich auf und ich erwähne Sabrina gegenüber, dass ich auch gleich losfahre. Thor wartet sicher schon sehnsüchtig auf mich, auch wenn er in seinem großen Außenauslauf jederzeit seine dringendsten Geschäfte erledigen kann. Sabrina erklärt, dass sie noch bis Sonntag bei ihren Eltern bleibt und fragt, ob wir morgen Abend zusammen essen gehen wollen, was ich freudig bejahe, und wir verabreden uns um acht beim Italiener im Dorf.

Ich will gerade aufstehen, um mich von den übrigen Gästen zu verabschieden, als Alex sich bereits mit den Worten: „Ich geh mal kurz raus, um zu telefonieren, Mum. Bestell mir doch bitte noch einen Cognac, falls du die Kellnerin siehst“ erhebt und mir keine Zeit lässt, mich von ihm als Erstes zu verabschieden. Ich schaue ihm kurz nach und erhebe mich dann, schüttle, jedem noch am Tisch sitzenden Verwandten, die Hand und es werden ein paar Sätze getauscht. Sabrinas Mutter drückt mich lange und innig und bedankt sich, dass ich gekommen bin. „Lisa hat dich immer sehr gemocht und geschätzt. Du hast ihr sehr viel bedeutet, Alea. Du warst wie eine weitere Enkeltochter für sie. Ich möchte, dass du das weißt, meine Liebe.“ Nun kullern doch auch noch Tränen bei mir und wir schluchzen eine Weile gemeinsam um die Wette und spenden uns gegenseitig Trost.

Als ich die Verabschiedung endlich hinter mir habe, verschwinde ich auf dem Klo, um mein von den Tränen garantiert verschmiertes Augenmake-up zu überprüfen und die Fassung zurückzugewinnen. Ein langer Spaziergang im Wald, zusammen mit Thor. Das ist, was ich jetzt dringend brauche! Wenn ich Glück habe, ist Alex inzwischen wieder drin am Tisch bei seinem Cognac und es bleibt mir erspart, ihm nochmal in die Augen zu schauen. Und tatsächlich, als ich aus dem Restaurant rauskomme, ist weit und breit nichts von Alex zu sehen. Ich sollte mich erleichtert fühlen und frage mich, wieso da grad eine kleine, enttäuschte Stimme irgendwo in mir drin „Schade!“ seufzt. Ich ignoriere sie und freue mich darüber, dass es endlich aufgehört hat zu regnen und die Sonne sich sogar zaghaft schon wieder hinter den noch dominierenden Wolken hervorkämpft.

Zu Hause angekommen verbringe ich nach einem kurzen Kleiderwechsel zusammen mit Thor fast drei Stunden im Wald. Die Hälfte der Zeit sitze ich meditierend auf meiner Lieblingsbank am Teich, während Thor seine Späßchen mit den restlichen Waldbewohnern abhält. Ganz klar eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Das Ganze gibt meiner mentalen Stabilität ordentlich Auftrieb und ich fühle mich harmonisch, in meiner inneren Mitte und zufrieden mit mir und der Welt, als wir wieder zu Hause ankommen.

Nachdem ich mich meiner Waldkleider entledigt habe, gieße ich mir, in meinen seidenen, roten Bademantel gehüllt, ein Glas Rotwein ein. Ein paar Knöpfe drückend erklingt kurz darauf in der Lautsprecherbox meine Lieblingsmusikliste vom Handy und danach lasse ich mir ein wohlduftendes Schaumbad einlaufen. Derweil das Wasser in die Wanne läuft, füttere ich Thor, der sich gleich freudig über sein Rindfleischmenü hermacht, und so schnappe ich mir lächelnd mein Handy und verziehe mich ins Badezimmer. Sicher haben sich die Nachrichten und verpasste Anrufe mal wieder gestaut. Ich hab seit dem Morgen, als ich zur Beerdigung losfuhr, keinen Blick mehr drauf geworfen. Nun ist es bereits kurz nach acht Uhr, wie ich nach einem ersten Blick aufs Display sehe. Vier verpasste Anrufe und sechs neue Nachrichten werden angezeigt. Na, das geht ja noch …

Als ich entspannt in dem nach rotem Mohn duftenden Badewasser liege, öffne ich die Nachrichten­App und schau mir im Detail an, was alles eingegangen ist. Die vier verpassten Anrufe sind vom Boss, oder wohl eher von seiner Sekretärin. Zwei der Nachrichten sind ebenfalls von ihm. Es sind Sprachnachrichten. Die höre ich mir als Erstes an, scheint ja wichtig zu sein. Er beordert mich am Sonntagabend zum Flughafen, ich soll ihn zu einem Geschäftsmeeting begleiten, das bis Mittwoch dauert. Die Details dazu seien in seiner E-Mail zu finden. Da unser Dienstagabend in diese Zeit fällt, bittet er mich in der zweiten, persönlicheren Nachricht darum, die üblichen Sachen einzupacken. Ich schmunzle und zeichne ihm ebenfalls eine kurze Nachricht auf, in der ich bestätige, dass ich mich Sonntagabend pünktlich zu seiner Verfügung halten werde. Es kommt ab und zu vor, dass er mich kurzfristig als Begleitung für Geschäftsreisen einspannt und da ich frei und flexibel bin, ist es auch kein Problem für mich. Für ganz dringende Fälle habe ich sogar immer ein der Jahreszeit angepasstes und gepacktes Reise-Set bereitstehen.

Die nächste Nachricht ist von Sophia. Eine frühere Schulkollegin und eine der Frauen, mit welchen ich damals im Pub meine Heimkehr gefeiert hatte. Sie fragt, ob ich Lust hätte, morgen Abend mit ihr ein klassisches Konzert zu besuchen. Ihr Freund Sven habe eine Magen-Darm-Grippe aufgelesen und könne nicht mit. Ich schreibe ihr, dass ich mit Sabrina zum Italiener gehe, und empfehle ihr, sich bei Vanessa zu melden. Die mag klassische Musik sowieso viel lieber als ich, was ich aber nicht extra erwähne. Nachrichten Nummer vier und fünf sind von Nick, meinem Anlageberater. Er erinnert mich an unsere fällige halbjährliche Besprechung. In seiner zweiten Nachricht sind ein paar Terminvorschläge für die nächsten Tage und er bittet mich um eine Bestätigung. Ich schreibe ihm, dass ich mich ab nächsten Mittwoch für eine neue Terminvereinbarung melde und leider keinen seiner Vorschläge annehmen könne, da ich ein paar Tage auf Geschäftsreise sei. Nachricht Nummer sechs ist von Sabrina und sehr kurz. Da steht nur „SORRY!!!! Ging nicht anders …“ und dazu das Äffchen-Symbol, welches sich den Mund zuhält. Ich schreibe ein „Wofür denn?“ zurück und will dann das Handy weglegen. Das Wasser wird bereits langsam kalt und ich muss mal raus aus der Wanne. Das Handy vibriert bereits wieder und ich gucke nochmal drauf, vielleicht hat Sabrina ja bereits geantwortet und ich bin neugierig, wofür sie sich entschuldigt.

Die eingegangene Nachricht ist jedoch von einer vom Handy nicht identifizierten Nummer und als ich reingehe, steht da: „Du hast dich nicht von mir verabschiedet!!! Ich denke, dafür schuldest du mir einen Kuss!!!“ Jetzt weiß ich wenigstens, wofür sich Sabrina vorhin entschuldigt hat, denn mir ist natürlich sofort klar, dass Alex hinter dieser Nachricht steckt. Sie muss ihm meine Nummer gegeben haben. Ich weiß noch gut von früher, wie hartnäckig er sein konnte, und rolle, Sabrina gleichzeitig vergebend, mit den Augen, als ich ihm zurückschreibe: „Und ich denke, dass ich niemandem irgendetwas schuldig bin zurzeit.“ Und nach dem Absenden kann ich es nicht sein lassen und schicke extra noch ein: „Wer bist du denn überhaupt, Fremder?“ hinterher. Dann lege ich das Handy endgültig aus der Hand, erhebe mich aus der Wanne und wickle mich in mein flauschiges Badetuch. Das Handy vibriert bereits wieder, aber ich lasse es absichtlich liegen und schminke mich erst mal in aller Ruhe ab, während ich den Rotwein dazu austrinke und grad so laut wie falsch mit der Musik mitsinge. Ich öle meinen Körper großzügig ein, danach ziehe ich mir ein kuschliges Wohlfühlensemble an und mache es mir, mit einem zweiten Glas Wein, auf der Couch bequem. Ein Blick aufs Handy zeigt, dass drei neue Nachrichten warten.

 

Die erste ist von Sam, dem DRAUFGÄNGER. Er will wissen, ob er Thor später noch abholen dürfe. Er möchte ihn morgen Früh gerne zu einer Wanderung in die Berge mitnehmen. Die beiden mögen sich und es ist nicht das erste Mal, dass Sam darum bittet. Und jedes Mal, wenn ich ein paar Tage weg muss, darf ich ihm meinen geliebten vierbeinigen Freund ebenfalls anvertrauen. Gut, dass er sich meldet! Ich hätte ihn ja eh noch informieren sollen wegen Sonntag. Das hatte ich beinahe vergessen. Ich schreibe ihm zurück, dass Thor sich sicher freuen wird, und schlage ihm vor, ihn gleich bis Mittwochabend bei sich zu behalten. Erzähle ihm vom Meeting und dass ich ein paar Tage wegmuss. Die beiden anderen Nachrichten kommen von Alex. Die erste lautet: „Ich denke, dass du haargenau weißt, wer ich bin.“ Und in der zweiten steht: „Und außerdem gedenke ich, die ausstehende Schuld noch heute Abend einzutreiben!!!“

Was glaubt der Kerl eigentlich, wer er ist! Ich bin doch kein Teenager mehr und lasse mich einfach so zu einem Kuss nötigen! Also schreibe ich umgehend zurück: „Wenn du dich hier blicken lässt, hetze ich dir Thor auf den Hals!!! Das meine ich völlig ernst!“ Noch ehe ich einen Schluck Wein trinken kann, vibriert das Handy erneut und er schreibt: «Wer ist Thor? Wie gefährlich ist der Kerl und womit kann man ihn am besten bestechen?» Ich grinse ungewollt und herzklopfend vor mich hin. Humorvoll war er ja schon immer. Von Sam kommt ebenfalls eine weitere Nachricht. Er schlägt seinerseits vor, Thor gleich bis Donnerstag bei sich zu behalten und ihn dann zu unserem üblichen abendlichen Date heimzubringen. Ich willige ein und danke ihm schon mal. Eine nächste Nachricht von Alex ist ebenfalls eingegangen und da heißt es: „Ignorierst du mich etwa absichtlich, Wildkatze? Ich bin jetzt unterwegs und habe Wurst dabei, falls Thor, wie ich vermute, dein Schoßhündchen ist!“

Jetzt geht er aber zu weit und HALLO?!! Echt?! Thor ein Schoßhündchen!? (Nicht, dass er es nicht auch schon versucht hätte, aber er ist definitiv zu groß dafür!) Ich tippe umgehend zurück: „Thor ist alles andere als ein Schosshund und zudem gut abgerichtet!! Aber er hatte bereits Abendessen, also steck dir deine Wurst sonst wohin und geh wieder heim, falls du tatsächlich unterwegs bist!“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass Alex sowieso bloß blufft und sich einen Spaß erlaubt, das würde zu ihm passen. Ich kraule grad Thor hinter den Ohren und erzähle ihm, dass Sam ihn nachher abholen wird und dass Frauchen ein paar Tage weg muss. Und als es auch gleich kurz darauf bereits klingelt, sage ich: „Siehst du, da ist Sam ja schon.“ Wir machen uns beide auf den Weg zur Tür, wobei Thor bereits aufgeregt mit dem Schwanz wedelt und vorfreudig jault. Ich bin überzeugt, dass er viel von dem versteht, was ich ihm sage, und beim Namen Sam spitzt er eh immer freudig die Ohren.

Als ich die Haustüre öffne, steht jedoch Alex vor mir. Ich bin überrascht und vorübergehend sprachlos. Thor schaut mit schräg gehaltenem Kopf prüfend zwischen Alex und mir hin und her. Schätzt ab, ob Gefahr in Verzug ist, wie jedes Mal, wenn er jemandem begegnet, den er noch nicht kennt. Da ich jedoch keine Angstgefühle ausstrahle, unterlässt er ein Knurren. „Der Schuldeneintreiber ist da!“, sagt Alex gut gelaunt und locker lächelnd. Und danach zu Thor gerichtet, während er sich gleichzeitig in die Hocke auf dessen Augenhöhe begibt: „Und du musst Thor sein.“ Er hält ihm seine Hand hin, damit dieser ihn beschnuppern kann, und fährt fort: „Du bist aber ein hübscher und gut gebauter Kerl, magst du zufälligerweise Wurst?“

Während ich noch verwirrt darüber nachdenke, was ich von Alex überraschendem Auftauchen halten soll und vor allem, was ich ihm jetzt sagen soll, fährt Sams Wagen ebenfalls in die Einfahrt. Thor, der das Geräusch dieses Motors genauestens kennt, beginnt wild mit dem Schwanz zu wedeln und tänzelt unruhig vor sich hin, während er leise winselt. Er schaut mich an und wartet auf die Erlaubnis, zu Sam hinlaufen zu dürfen. Also sage ich zu ihm: „Ist in Ordnung, du kannst ihn begrüßen.“ Und schon zischt er wie ein Blitz los, bellt sein Willkommensgeheul in den Nachthimmel und springt Sam, der gerade aus seinem Wagen steigt, freudig jaulend an.

Alex schaut mich fragend an und sagt: „Ich wusste nicht, dass du vergeben bist. Sabrina sagte, du seist Single! Ich wollte dir keine Probleme bereiten, Wildkatze.“ Da er tatsächlich ein bisschen betreten dreinschaut und ich zudem so ein wahrheitsliebender Mensch bin, antworte ich: „Es wird keine Probleme geben. Sam ist nur hier, um Thor abzuholen. Und er ist EIN Freund, nicht MEIN Freund!“ Als Sam und Thor an der Tür ankommen, stelle ich die Männer einander vor. Alex ist sogar noch ein bisschen größer als Sam und sie begutachten sich gegenseitig kritisch, aber ziemlich auf Augenhöhe, während sie sich die Hände schütteln. Ich bitte nun beide rein, weil ich Sam noch ein paar Utensilien für Thor mitgeben will, die in der Küche bereitstehen. Während Alex sich interessiert im Haus umsieht, verschwinde ich mit Sam kurz in der Küche.

„Läuft da was zwischen euch beiden, Süße?“, fragt Sam mich und schaut mich mit einem gewollt beiläufigen Blick an. Der soll wohl bloß oberflächliches Interesse vortäuschen, aber ich fühle, dass da mehr ist. „Seit wann bin ich dir denn darüber Rechenschaft schuldig?“, frage ich amüsiert zurück. Er grinst etwas verlegen und meint: „Ach komm, ich frag rein aus freundschaftlichem Interesse.“ Jetzt lache ich und erwidere: „Jaja, schon klar.“ Ich rolle mit den Augen und fahre fort: „Da läuft nichts, er ist bloß ein alter Bekannter von mir, das ist alles.“ „War übrigens ein toller Abend gestern, ist immer schön, die Zeit mit dir zu verbringen“, meint Sam vom Thema ablenkend und ich antworte: „Ja, hat echt Spaß gemacht, du hast wirklich verrückte Ideen!“ Und wir grinsen uns an bei den Erinnerungen an unsere letzte, überaus heiße Nacht im Zimmer eines nicht ganz jugendfreien Etablissements. Ich drücke ihm den Sack mit den Utensilien in die Hand, küsse ihn auf die Wange und bedanke mich nochmal, dass er die nächste Woche für Thor sorgen wird. Dann kehren wir zurück ins Wohnzimmer, wo Alex sich inzwischen gemütlich auf dem Sofa niedergelassen hat und frecherweise an meinem Rotweinglas nippt.

Sam verabschiedet sich erst mit einem Handschlag von Alex und sagt dann zu mir gewandt: „Also, bis nächsten Donnerstag, Alea. Ich freue mich schon, du wirst begeistert sein. Ich hab was Nettes für uns geplant.“ Er zwinkert mir zu und küsst mich nochmal auf die Wange, während ich ihm zulächle. Dann gehe ich in die Knie, kraule Thor zum Abschied und wünsche den beiden eine gute Zeit und zu Sam hochschauend sage ich: „Toll, ich liebe deine Überraschungen. Dann bis Donnerstag, ich freue mich.“

Kaum habe ich die Türe hinter den beiden geschlossen, überkommt mich ein mulmiges, kribbelndes Gefühl. Mist! Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, Alex überhaupt ins Haus zu lassen, und jetzt sitzt er nicht bloß auf meinem Sofa, sondern bedient sich sogar an meinem Wein. Wie bringe ich den STÖRENFRIED jetzt am schnellsten wieder raus? Und dann sagt Alex: „Läuft da was zwischen euch beiden, Wildkatze?“ Ich pruste los. „MÄNNER!“, denke ich, verdrehe meine Augen erneut und beschließe, das Ganze mit klarem Verstand und ausgeschalteten Gefühlen anzugehen. Ich hole in der Küche ein zweites Weinglas, schenke erst Alex nach und dann mir neu ein. Dann sage ich auch zu ihm lächelnd: „Seit wann bin ich dir denn darüber Rechenschaft schuldig?“ Und er grinst ebenfalls, während wir unsere gefüllten Gläser erheben und beim Anstoßen gleichzeitig „Auf Lisa!“ sagen.

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