Der Schuh

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kapitel 15


In den vergangenen Wochen und Monaten war mir bewusst geworden, was es heißt, eine Mutter von vier Kindern zu sein. Auch finanziell merkten wir, dass Henry der einzige Verdiener war und die Familie sich vergrößert hatte. Trotzdem hatten wir uns einen Urlaub mit Bus und Zelt an der französischen Mittelmeerküste geleistet. Wir mussten die Ferienzeit nutzen, denn Daniel wurde in diesem Jahr eingeschult. Niclas fand das saublöd, beneidete seinen Bruder und ging nicht mehr gern in den Kindergarten. Kim, die Frühstarterin, konnte schon längst laufen, während Linda, immer noch zaghaft, am liebsten auf allen vieren kroch. Henry brauste auf seinem Motorrad umher, tat aber sonst alles für die Familie, was er neben der Arbeit ermöglichen konnte. Und das war eine Menge. Er hatte mit Bernd für Eva den Umzug nach Berlin gemacht, bei dem ich zu gern dabei gewesen wäre, aber ich fand ausgerechnet an dem Tag niemanden für die Kinder.

Ab und zu kam Eva vorbei und wir fuhren zu Morgenstern. Eva sah hinreißend hübsch aus, war gut drauf und hatte mir bei ihrem letzten Besuch mitgeteilt, sie hätte jetzt einen Freund. Ich platzte fast vor Neugierde.

»Wer ist es? Wie sieht er aus?«

»Er sieht wahnsinnig gut aus«, schwärmte Eva, »er ist gebildet, lieb, interessant, witzig, einfach alles. Er hat wirklich alles, was ich mir nur wünsche, was ein Mann haben muss. Er ist großartig.«

»Hast du ein Foto von ihm?«

»Ich verspreche dir, du wirst ihn kennenlernen.«

Mit der Aussage gab ich mich nicht zufrieden, sondern bohrte immer weiter. Endlich hatte ich Eva weichgekocht.

»Mein Vater braucht nicht zu wissen, wer er ist, aber du kennst ihn schon. Du kannst dich doch noch an den süßen Justiziar erinnern, der vor ein paar Jahren bei Emmerich und Partner hospitiert hat. Weißt du noch, wie du für den geschwärmt hast? Weißt du, diesen Schönen, den du so geil gefunden hast.«

Ach, ich wusste…! »Du meinst doch nicht etwa Gerd Blusel, oder?«

»Blümel«, verbesserte Eva mich, »genau der.«

»Der ist doch verheiratet und hat Kinder.«

»Die Ehe ist längst kaputt. Ich traf ihn zufällig am Campus. Er hält ab und zu Vorlesungen an der Uni. Wir werden im Herbst zusammen nach Teneriffa fliegen. Ich freue mich schon wahnsinnig.«

Unser Tag begann relativ früh, dann war Kim wach. Linda musste meist geweckt werden, weil sie eine kleine Langschläferin war. Dann weckten wir gemeinsam die Jungs. Henry und ich machten die Kinder jeden Morgen zusammen fertig und wir frühstückten dann auch gemeinsam. Henry sagte, dass ihm etwas fehlen würde, wenn er nicht wenigstens die Mahlzeiten im Kreis seiner Familie einnehmen könnte. So was würde ihn fit machen für die ganzen stressigen Geschichten, die noch so im Laufe des Tages auf ihn zukämen. Mir fiel dazu nur ein, dass ich es ja meist war, die mittags das Essen kochte. So war es inzwischen. Für die Kinder nahmen wir uns immer Zeit, aber wir fanden kaum noch Zeit füreinander.

Es gibt Zufälle, die gibt es eigentlich gar nicht. Wie an jedem Tag nach dem Frühstück war ich losgezogen. Mit Kim und Linda in der Zwillingskarre, dem ständig knörenden Niclas und Daniel, dem Erstklässler. Die Hunde liefen ohne Leine nebenher oder vorweg, je nach Temperament. Erst gab ich Daniel in der Grundschule ab, dann brachte ich Niclas in den Kindergarten. Natürlich brüllte er und wollte nicht dableiben. Danach war mir meist nach einem Kaffee. Am Bahnhof war das einzige Café, wo man mit der Zwillingskarre und den Hunden …

Gerade hatte ich den Blick zur Seite schweifen lassen, als ich ihn sah. Dasselbe charmante Lächeln, denselben leicht frivolen Gesichtsausdruck wie damals, als ich als junger Teenie mal für ihn geschwärmt hatte: Gerd Blümel!

»Ist die Welt klein!«, rief ich. Er kam an meinen Tisch. »Ausgerechnet dich treffe ich heute hier.«

Offensichtlich freute er sich, mich zu sehen, verstand aber nicht so recht, warum ich mich ausgerechnet über ihn so freute. »Du gehörst doch jetzt bald zur Familie«, sagte ich und ärgerte mich augenblicklich. Wie konnte ich so was Blödes sagen?

»Wie, habe ich was verpasst?«, fragte Gerd.

Mir wurde heiß, und ich lief rot an.

»Na, du und Eva.«

»Wie geht es der Kleinen eigentlich? Dieser armen kleinen Piepmaus mit den exzentrischen Eltern.«

»Ihre Mutter ist tot und ich dachte, du hättest Eva…« Hastig verschluckte ich den Rest des Satzes. »Was… was… machst du so?«, stotterte ich verlegen.

»Wir sind jetzt von Hannover nach Kassel gezogen. Wir haben inzwischen auch zwei Kinder, so wie du. Ich bin ab und zu hier, weil ich meinen Vater in Schaumburg im Altenheim besuche. Meist fahre ich mit dem Auto, aber mit dem Zug ist es entspannter.« Er zeigte auf die Zwillingskarre. »Du weißt doch, wie es ist, mit so kleinen Nervensägen. Da sehnst du dich nach Augenblicken der Entspannung.« Er sah auf die Uhr und trank hastig seinen Kaffee aus. »Schön, dich mal gesehen zu haben, Emilia. Viel Glück für dich. Bist du verheiratet?«

Ich nickte.

»Na denn.«

Er eilte in Richtung Gleise. Nicht, dass ich unbedingt geschockt war, aber schon etwas irritiert. Warum log meine Cousine mich an? Ich nahm mir vor, Eva nicht direkt darauf anzusprechen. Abwarten, wie lange sie mir diese Geschichte noch auftischen würde.

Kapitel 16


Die Begegnung mit Gerd sollte nicht der einzige Zufall in dieser Woche bleiben.

Einmal in der Woche lief ein von Henry und Bernd ins Leben gerufenes Projekt mit einigen Jugendlichen, die sich im Forst nützlich machten. Bernd holte Henry dann mit einem größeren Bus ab und Henry nahm die Jungen und die Hunde mit. Ein besonderer Feiertag wurde es für mich aber erst, wenn Helga oder Franziska mir die Zwillinge abnahmen.

An diesem Tag hatte ich kinderfrei und fuhr bei der Musik von ›Joan Baez‹ zu Morgenstern. Ich hatte die Stute schon vermisst, daher fiel die Begrüßung sehr herzlich aus. Morgenstern wieherte freudig und demonstrierte ihren Bewegungsdrang. Ich longierte sie eine Weile, bevor ich vorschriftsmäßig, wie Herr Wille es wünschte, auf der Stute ausritt. Morgenstern war ein tolles Pferd, feinführig und sensibel, aber überhaupt nicht schreckhaft.

Auf dem Rückweg kaufte ich noch in einem besonders gut sortierten Obst- und Gemüsegeschäft in Bad Pyrmont Süßkartoffeln ein. Inzwischen aß die gesamte Familie vegetarisch, was für mich eine Umstellung darstellte. Vegetarisch kochen, bedeutet ja mehr, als nur einfach das Fleisch wegzulassen.

Plötzlich stand er neben mir, Hans, ein alter Freund meines Vaters. Eine imposante Erscheinung, hundertvierzig Kilogramm echte Lebensfreude, Junggeselle und absolut kein Kostverächter.

»Süße!« Ich bekam einen dicken Knutscher auf meine Wange. »Lass dich umarmen, Mädchen, du schönes Geschöpf. Die Kinder stehen dir gut.« Er sah wohlwollend an mir herunter, bevor er mir fast die Luft abdrückte.

»Ach, das weißt du schon?«, fragte ich provokant.

»Willst du mich jetzt daran erinnern, dass ich meinen alten Freund Konstantin in letzter Zeit total vernachlässigt habe? Und nicht nur ihn, euch auch. Komm her Süße, ich mach es wieder gut. Ich koch uns was Schönes.«

Eine von Hans’ großen Leidenschaften war das Kochen. Eigentlich hatte ich keine Zeit, aber Hans hatte mich untergehakt, und auf dem Weg zur Kasse behauptete er, er hätte da was Oberleckeres, extra schnell, für ganz besonders eilige Gäste. Im Feinkostladen kauften wir noch zwei Flaschen besten Weißwein.

Das Haus in dem Hans wohnte, hatte er vor Jahren von meinem Vater gekauft, der hatte es wiederum von seiner Lieblingstante Maria geerbt. Das Haus war ein Schmuckstück in bester Wohnlage, direkt neben dem Kurpark von Bad Pyrmont. Konstantin hatte damals mit sich gerungen, es selbst als Wohnhaus zu nutzen, aber sie hatten gerade das Reihenhaus gebaut, als die Tante starb. Einen besseren Käufer als Hans hätte Konstantin nicht finden können. Hans hatte das Haus nach dem Kauf mit viel Liebe und großem Gespür für kleine Details renovieren lassen.

Hans wohnte oben, unten befand sich seine Anwaltskanzlei. Die Zimmer, in denen er sich am meisten aufhielt, waren zu der breiten Allee vor dem Haus hin ausgerichtet, der Flaniermeile Bad Pyrmonts, damit Hans immer genau sehen konnte, was in dem Kurort so vor sich ging.

Er schnippelte und brutzelte nach einem Rezept, das er aus dem Süden der Vereinigten Staaten mitgebracht hatte. Dazu hörten wir reinsten ›New Orleans Blues‹. Wir unterhielten uns über vergangene Zeiten und er erkundigte sich, wie es mir so gehen würde mit Ehe und Kindern. Hans hatte mich schon immer verstanden, auch in Zeiten meiner wildesten Eskapaden.

Dann wurde plötzlich ernst. »Eigentlich wollte ich dich erst besuchen, wenn ich meine Recherchen völlig abgeschlossen habe, aber jetzt, wo mir das Glück vergönnt ist, dich mal hier zu haben ... Deinen Vater will ich auch nicht mit diesen Geschichten belasten. Übrigens, hast du eigentlich immer noch diese fantastische, übersinnliche Gabe, die Dinge vorauszuahnen? Und deine Träume, Emilia. Diese unglaublichen Vorwegträume. Hast du das noch? Sag!«

»Ich kann in meinen Träumen nicht mehr umherfliegen. Und sie werden immer düsterer und beängstigender«, sagte ich.

»Siehst du ein Unheil heraufziehen?«, fragte Hans.

»Im Augenblick sehe ich am Tag und in der Nacht Windeln und Rotznasen. Aber wenn ich träume, sehe ich etwas, was mit Eva zu tun hat und mir Angst macht«, bemerkte ich.

 

»Eine Gefahr ist mit Sicherheit diese Frau von Grosche«, meinte Hans, »dir und Eva ist doch sicher schon zu Ohren gekommen, dass sie überall herumerzählt, ihr hättet Eva rauschgiftabhängig gemacht und sie überredet, nach Berlin zu ziehen, damit sie dort einen Dealer-Standort einrichtet. Du wärst ja immer schon so eine Halbseidene gewesen und der Job von deinem Mann wäre auch nur Tarnung.«

Ich musste laut lachen. Hans nahm meine Hand und sah mir tief in die Augen.

»Wie du weißt, war ich ein glühender Verehrer von deiner Tante Doro. Aber leider lebte sie nach der Trennung von deinem brutalen Onkel nicht mehr lange genug. Aber ich habe sie so geliebt, dass ich sie auf der Stelle weggeheiratet hätte. Sie war älter als ich, von Tabletten abhängig. Das wäre mir völlig egal gewesen. Sie war so schön, so einmalig. Ihre verletzte Seele. Was meinst du, was sich in diesem Gruselhaus alles abgespielt hat? Und nur dieser Mann hat sie auf dem Gewissen. Kurz vor ihrem Tod bat sie mich, ich solle mich um Eva kümmern, wenn sie nicht mehr da wäre. Jetzt mache ich mir Sorgen um Eva.«

Ich nahm noch etwas von dem Fisch, der in einer wohlschmeckenden Soße aus Zwiebeln und Fruchtstücken schwamm.

»Zu meinen Eltern hat Onkel Ernst-Walter völlig den Kontakt abgebrochen«, sagte ich kauend und lobte noch einmal das köstliche Essen.

»Ich habe jetzt so ein bisschen was über diese Frau von Grosche herausbekommen«, meinte Hans und zog einen Schreibblock aus der Schublade des Esstisches. Das Thema schien ihn sehr zu beschäftigen. »Sybille von Grosche, geborene Sybille Schulze, hatte damals in Königsberg eine Vorliebe für sehr viel ältere Männer. Auf jeden Fall heiratete sie zu Beginn des Krieges den Doktorvater deines Onkels.«

»Herrn von Grosche«, fiel ich ihm ins Wort.

»Der Mann hieß Leiner und starb kurz darauf an Altersschwäche. Mit ihm hatte sie keine Kinder. Dann lernte sie Herrn von Grosche kennen, einen Richterkollegen von deinem Onkel. Sie heirateten. Nach dem Krieg machte Herr von Grosche Karriere in der Justiz. Auch mit ihm hatte sie keine Kinder. Sie hat eine Schwester, Irmgard heißt die und ist mit einem Herrenschneider aus Oldenburg verheiratet, dort wohnt sie auch. Sie hat mit ihrem Mann eine Tochter, die kinderlos geblieben ist. Sybilles erster Mann und Herr von Grosche waren kurioserweise auch ohne Geschwister aufgewachsen. Mit einer großen Familie konnte diese Frau nie aufwarten. Herr von Grosche starb vor acht Jahren. Sie fand ihn tot vor der Toilette. Kurz darauf entdeckte die Gute ihre Vorliebe für sehr viel ältere Männer wieder neu. Da ihr Mann ein Spieler gewesen war und ihr mehr Schulden als Bares vermacht hatte, besorgte sie sich das Geld auf anderen Wegen. Alle Männer starben, kurz nachdem sie ein Testament zu ihren Gunsten gemacht hatten, laut Totenschein eines natürlichen Todes. Weil nie Angehörige vorhanden waren, erbte sie immer die gesamte Barschaft, versteht sich.«

»Und wo kommt dieser Neffe her?«, fragte ich. Es war ja schon unglaublich, was Hans so erzählte.

»Das ist genau das, was ich dir eigentlich damit sagen möchte, Emilia. Der heißt wirklich Frank Holtziegel, der Name tauchte noch nirgends in Zusammenhang mit einem Verbrechen auf und er ist auch nicht vorbestraft. Jedenfalls ist er noch nie erwischt worden. Seine Frau hat mal das Finanzamt beschissen mit unterschlagenen Einnahmen aus ihrem Kosmetikinstitut, was sie auch nicht mehr besitzt. Dafür gab es aber nur eine saftige Geldstrafe. Auffallend ist doch, dass sie beide dicke Autos fahren und die Töchter auf einem teuren Internat sind. Die Herkunft des Frank Holtziegel, so wie die seiner Frau, einer geborenen Dörne, lässt nicht gerade eine große Erbschaft vermuten. Beide stammen aus sehr ärmlichen Verhältnissen und waren schon kurz nach der Heirat hoch verschuldet.« Hans schlug die dritte Seite seines Schreibblocks auf. »Ich gönne jedem Arbeitslosen, dass er gut gekleidet ist, aber hast du mal ihre Klamotten gesehen? Nur vom Feinsten. Ich frage mich einfach: Wo haben die das Geld her, um so einen auf dicke Hose zu machen? Wenn du sie fragen würdest, würden sie ›von Tantchen‹ sagen. Und so wird es auch sein. Die Frage ist doch nur, was die dafür für Tantchen machen. Und das, wo er doch nachweislich gar nicht ihr Neffe ist.«

»Was glaubst du?«, fragte ich, total erstaunt, was Hans alles wusste.

»Ich tippe mal so auf Finanzberater bei Erbschaften, Bodyguard, der Mann fürs Grobe«, meinte Hans.

»Weißt du, dass Eva von Anfang an schon misstrauisch gewesen ist und unglaubliche Dinge über ihren Vater herausbekommen hat?«, fragte ich, froh darüber, endlich jemanden gefunden zu haben, den das interessierte.

Hans wurde so weiß wie die Wand, vor der er saß.

»Um Himmels willen, Emilia. Bitte erzähl Eva nichts von unserem Gespräch heute Abend. Wenn du die Möglichkeit hast, halte sie davon ab, ihrem Vater gegenüber in die Offensive zu gehen. Wenn der Alte anfängt, um sich zu schlagen, und das mit solchen Leuten an seiner Seite, dann wird es für Eva gefährlich. Später erzähle ich dir mehr. Emilia, ich bin gerade an der Sache dran, aber es ist nicht ganz einfach.«

Ich kam gegen Mitternacht nach Hause. Außer den Hunden schliefen schon alle. Als ich zu Henry unter die Decke kroch, brummte der nur: »Wo kommst du denn jetzt erst her, konntest du nicht durchrufen?«

»Du musst dir das anhören, was Hans, ein Freund meiner Eltern, über meinen Onkel und Frau von Grosche erzählt hat«, sprudelte es aus mir heraus.

»Verschone mich bitte mit diesen dekadenten Leuten und ihren Geschichten«, brummte er, »das Leben ist kompliziert genug.«

Ich war aufgewühlt und musste meinen Kopf irgendwie freikriegen. An Schlafen war nicht zu denken. Weil Henry nach dem Ficken immer fragte: Ich fand’s geil, und du? Und ich nicht sagen wollte: Schön... wie immer, hatte ich mir angewöhnt, eine Farbe dafür zu finden. Es gab der Sache etwas zurück, was ich sehr vermisste.

»Zart lindgrün«, sagte ich.

Kapitel 17


Die Tage vergingen. Der Herbst kam. Das bedeutete: Nasse Hunde, Regenüberzüge über Kinderkarren, Gummistiefel, Spaziergänge im bunten Wald, das Einfangen von Sonnenstrahlen, bevor der Winter kommt, und Tage, die wir nur drin verbrachten. Linda lief jetzt auch perfekt, und ich war den ganzen Tag damit beschäftigt, hinter den beiden her zu kommen. Von Eva erhielt ich eine Postkarte aus Teneriffa. Die Jungen spielten viel mit Freunden bei uns, und Henry träumte von einem Leben auf dem Land und fand die Vierzimmerwohnung entschieden zu klein. Obwohl er sich Mühe gab, mich so oft wie möglich zu entlasten, blieb doch die Hauptarbeit mit den Kindern und im Haushalt meist an mir hängen. Wie gern wäre ich arbeiten gegangen, raus aus dem Haus, eigenes Geld verdienen, mal was anderes sehen, aber…

Nachmittags hatte ich mich in dem Stress noch zum Frisör geschleppt und mir rote Strähnen ins Haar färben lassen. Vorher hatte ich die Jungs im Laden abgesetzt und die Zwillinge mitgenommen. Ich wollte, dass Henry mich mal wieder ansah, einmal was Liebes zu mir sagte. Ich hatte mir ein rotes Kleid gekauft, extra passend zu den Strähnen. Auch wenn ich mich nicht hundertprozentig wohl darin fühlte, er wollte, dass ich Farbe trug. Und genau so sollte er mich sehen. Ich stellte mir seinen Blick vor, wenn…

Er kam spät wegen einer Veranstaltung im Jugendzentrum.

»Du bist ja schon im Nachthemd«, sagte er, und, »gibt’s was zu essen?«

»Mach dir was«, sagte ich.

Und er fragte: »Sag mal, was machst du eigentlich den ganzen Tag?«

Reflexartig ging ich zur Schublade des Küchenschranks und holte mein Portemonnaie raus. Weg hier, dachte ich.

»Siehst du mich überhaupt noch?«, fragte ich ihn, dabei hatte ich schon Tränen in den Augen.

»Du hast die Haare kürzer, mit Rot drin. Steht dir gut«, sagte er, und ich fand seine ganze Art fürchterlich schnodderig und kühl.

»Findest du mich eigentlich noch attraktiv?«, fragte ich.

»Bitte verlange nicht von mir, dass ich ständig hinter dir herlaufe und dir sage, wie schön und attraktiv ich dich finde«, brüllte er mich an.

»Aber du sagst es nie!«, brüllte ich zurück.

»Zum letzten Mal«, sagte er, wieder etwas netter »ich finde dich attraktiv. Und jetzt nerv mich nicht mehr damit.«

»Ist das alles?!« Ich dachte, ich muss von der Welt, so wütend war ich inzwischen.

»Was willst du von mir?«, fragte er.

»Frag dich lieber, was du mir alles nicht gibst!«

»Ich bin nur für euch da und liebe nur dich«, sagte er.

»Vielleicht hast du ja eine andere!« Ich war außer mir.

»Meine Güte«, sagte er, »das eine Mal mit Gabi.«

»Wie mit Gabi?«

»Der Abschiedsfick an unserer Hochzeit. Ich war besoffen und es war mehr ein Joke.«

Ich griff nach dem nächstbesten Gegenstand, es war ein Kochtopf, und schleuderte ihn in seine Richtung. Dann rannte ich nach draußen. Er kam hinterher, aber ich hatte Vorsprung. Erst als ich auf einem Parkplatz kurz vor Hannover anhielt und auf den steinigen Boden trat, fiel mir auf, dass ich keine Schuhe trug. Unter der Bank hinten im Bus fand ich Badelatschen und eine verfilzte grüne Strickjacke, die ich immer trug, wenn ich zu Morgenstern fuhr. Einige Flaschen Bier fand ich auch noch, die nahm ich mit nach vorne und öffnete sie. Dabei war ich noch nicht mal wütend auf Gabi. Die nahm alles, was sie kriegen konnte.

Ich war von Henry enttäuscht. Es war keine offene Schlacht zwischen uns. Wenn er mich schon behandelte wie einen Teil der Wohnungseinrichtung, sollte er wenigstens fair und ehrlich zu mir sein.

Nach langem Umherfahren fand ich einen Parkplatz in Hannover in der Fridastraße. Drei leere Bierflaschen lagen auf dem Beifahrersitz. Leicht durchgefroren und wütend stand ich vor Roberts Tür.

Robert sah gut aus – wie immer, war braun gebrannt, die Haare trug er wieder länger. Er nahm mich in den Arm, als müsste er mich vor etwas abschotten. Ich war so fertig, dass ich mir einredete, beide Männer würden mich nicht mehr lieben, weder Henry noch er. Mit meiner Fassung war es zu Ende. Ich heulte und klammerte mich an ihn. Er zog mich in die Wohnung, die perfekt aufgeräumt war, was würde man auch sonst von ihm erwarten.

»Henry behandelt mich wie einen Hund«, heulte ich und fragte: »Warst du im Urlaub, du bist so braun?«

Er hätte einen guten Freund, der in seiner Sportschule eine große Höhensonne stehen hat, da würde er sich ab und zu vorsetzen. Dann sah ich die Frau, die nackt auf seinem Bett lag. Eine Hübsche, so um die dreißig, mit kurzen, hellroten Haaren. Er nahm die Sachen von der Frau vom Stuhl und gab sie mir.

»Ihr tauscht«, sagte Robert und zu ihr: » Ich gehe mit Emi aus und du lässt dich abholen. Wenn ich wiederkomme, bist du weg.«

»Wo wollen wir hin?«, fragte ich.

»Das siehst du dann«, sagte er.

Ich zog mich bis auf die Unterhose aus und legte meine Sachen aufs Bett. Robert konnte nicht wegsehen.

»Habe ich mich sehr verändert?«, fragte ich unsicher.

»Du bist noch schöner geworden«, sagte er.

Die Frau stülpte sich mein rotes Kleid über und ging in die Küche.

»Er müsste gleich da sein«, meinte Robert zu ihr. Sie war schnippisch und zuckte abweisend mit den Schultern.

»Beeil dich!«, drängte Robert ungeduldig.

»Lass uns hierbleiben«, bat ich.

Er zog mich etwas grob aus dem Haus auf die Straße. Ich stakste auf den Pfennigabsätzen zum Bus. Das schwarze Kleid war mir am Busen zu eng. Wir durchquerten Hannover und hielten vor einem italienischen Restaurant. Er gab mir seinen Mantel, weil ich so fror. Ich heulte ihm einen vor wegen Henry und lachte, als ich von meinen Kindern erzählte. Er bestellte Wein, den ich beinah alleine trank. Er strich wie früher über mein Gesicht und meinen Hals und ich hätte mich am liebsten auf den Boden des Restaurants gelegt. Als ich ihn immer wieder küsste und darum bat, zu ihm nach Hause oder in ein Hotel zu gehen, meinte er, das würde nicht in Ordnung sein. Ich kam sich vor wie am Rande des Nervenzusammenbruchs und wusste, dass ich genug Alkohol getrunken hatte. Er bestellte immer wieder nach, und ich fand kein Ende.

»Bitte, lass uns zu dir gehen«, bat ich erneut.

»Du bist das, was ich auf dieser Welt am meisten begehre. Aber es geht nicht. Ich kann nicht. Ich werde dir nicht dein Leben zerstören, und Henry ist so was wie ein Freund. Er hat eine Aufgabe zu erfüllen, nämlich dich zu behüten und glücklich zu machen.«

 

»Das macht er aber nicht. Er will mich gar nicht«, schluchzte ich.

Ich war etwas vom Stuhl gerutscht, Robert stand auf und setzte mich wieder gerade hin. Mir wurde ganz warm. Wie er mich anfasste. Ich stand auf und schmiegte meinen Rücken und mein Gesäß an ihn.

»Bitte Robert.«

Robert ließ mich sanft zurück auf die Sitzfläche gleiten.

»Du musst es mal so sehen«, sagte er, »Henry ist wahrscheinlich mit der Situation zur Zeit völlig überfordert.«

»Aber gerade dann muss er sich doch auf die gemeinsame Zeit mit mir freuen«, zeterte ich und kam mir kein bisschen blöd dabei vor.

»Ich rufe ihn jetzt an!« Robert fragte den Wirt, ob er mal telefonieren könnte.

Wir gingen nach draußen, in die ungemütliche Kühle.

»Du wirst mir immer fehlen«, sagte ich und küsste die Innenflächen seiner Hände.

Er strich immer wieder sanft über meinen Körper und mein Gesicht.

»Irgendwie werde ich immer bei dir sein«, sagte er, »irgendwie.«

»Du kommst doch aber noch zu uns?«

»Natürlich werde ich das.«

Henry kam mit Konstantin, um mich abzuholen. Sie hatten das Auto in einer anderen Straße geparkt und ich sah die beiden auf dem Bürgersteig entlangkommen. Mein Vater, groß, schlaksig, mit wehenden Locken und seinem typischen, schwungvollen Gang. Daneben Henry, kleiner, kräftig mit seinen engen Jeans und dem Kapuzenpullover, der ewige Jugendliche. Es war eine Übergabe. Ein kurzes »Hallo«, dann wurde die Ware mitgenommen. Ich konnte kaum noch gerade gehen. Im Bus wollte ich mir noch ein Bier aufziehen, aber Henry nahm es mir weg. Er sprach nicht mit mir und fragte auch nichts, während der gesamten Fahrt nicht und bis zum nächsten Abend. Auch nicht, als wir unter der Decke verschwanden. Hellstahlgrau fiel mir dazu ein.

Am nächsten Tag war mir schlecht und Franziska erbarmte sich, indem sie sich um die Kinder kümmerte.

Kurz darauf war der Schwangerschaftstest positiv. Ich machte mir Sorgen, weil ich das Kind im Alkoholrausch und aus einer so bedrückenden Stimmung heraus empfangen hatte.