Der Schuh

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Am nächsten Tag holte Robert mich mit meinem Käfer ab und wir fuhren zum Jugendzentrum in der Kaiserstraße. Bernd war allerdings gerade mit einem Sozialarbeiter und einigen Jugendlichen auf dem Fahrzeugplatz. Hier wurden Autos und Motorräder repariert. Der Sozialarbeiter, der Henry hieß, stand Kaugummi kauend neben Bernd. Beide waren von Jugendlichen umringt. Wir holten uns unsere Standpauke ab.

»Wenn das noch einmal vorkommt, Robert, dann wünsche ich dir nur, dass du an den Richtigen gerätst, der dich nicht schont. Dann kannst du nämlich in den Knast wandern wegen Missbrauchs einer Minderjährigen. Schluss mit Jurastudium!«

Bernd hatte ganz schnell die Identität des Mädchens herausbekommen. Sie war erst fünfzehn Jahre alt und von zuhause abgehauen. Ein übler Kerl hatte sie von Rauschgift abhängig gemacht und zur Prostitution gezwungen. Ihre Eltern waren froh, ihre Tochter endlich wieder bei sich zu haben und verzichteten auf eine Anzeige gegen Robert. Wir hatten Glück, dass wir auf Bernd gestoßen waren. Ich verspürte eine Verbundenheit mit dem Mädchen und war froh, dass es auch wieder bei ihrer Familie war.

Kapitel 5


Obwohl wir uns ohne größere Diskussion vorgenommen hatten, uns nicht mehr so oft zu sehen, kam Robert auch jetzt beinah täglich aus Hannover, wo er studierte, bei mir vorbei. Wir trafen uns im Treppenhaus, als ich mich gerade auf den Weg machen wollte, Eva zu besuchen. Ausnahmsweise fuhr ich. Pan überfüllte den Beifahrersitz des Käfers. Hinten saß Robert mit Niclas auf dem Schoß. Syrinx stellte sich auf die Hinterpfoten, um alles, was auf der Straße vor sich ging, genau beobachten zu können. Dabei knurrte und kläffte sie, wuselte umher, guckte mal hier und mal da zum Fenster raus. Niclas quiekte bei dem Versuch, die Hündin zu schnappen, was ihm aber nicht gelang bei der quirligen Syrinx. Wir fuhren in Richtung Bad Pyrmont.

Ich hatte Eva seit drei Monaten nicht mehr gesehen, eine sehr lange Zeit. Für uns beide. Früher waren Onkel Ernst-Walter und Eva mindestens einmal in der Woche bei meinen Eltern vorbeigekommen. Aber seitdem mein Onkel vor einem Jahr diese Sybille von Grosche kennengelernt hatte, kam er gar nicht mehr und rief auch nicht mehr an, was er sonst beinah täglich getan hatte. Meine Eltern, die das gar nicht verstehen konnten, suchten krampfhaft nach einer Erklärung für sein Verhalten. Nach dem Tod von Tante Doro, Evas Mutter, hatten Franziska und Konstantin sich rührend um Ernst-Walter gekümmert. Für Eva waren sie schon vorher immer dagewesen. Für den Haushalt gab es seit Jahrzehnten Frau Müller, das Mädchen für alles, oder wie Onkel Ernst-Walter sie nannte, die Aufwartefrau. Frau Müllers Kinder waren längst ausgezogen. Sie wohnte mit ihrem gehbehinderten Mann, einem Frührentner, in einer bescheidenen Wohnung unten in der Ortschaft Welsede.

Walter ist ein Fachidiot, der im alltäglichen Leben einfach versagt, musste Konstantin immer wieder feststellen. Bis vor einem Jahr war er gut genug gewesen, für seinen Schwager den Kalfaktor zu spielen. Ernst-Walter beschäftigte zwar gelegentlich einen Gärtner, aber wenn Konstantin nicht an alles dachte – ob es das Holz für den Kamin war, das geschlagen, transportiert, gesägt und gestapelt werden musste, der Holzwurm die alte Standuhr zerfraß, oder ob eine neue Glühbirne eingeschraubt werden sollte ... Mit all so was kam Ernst-Walter nicht alleine zurecht. Um eine Glühbirne auszuwechseln, hätte er auf eine Leiter steigen müssen, denn die Lampen hingen sehr hoch unter den Decken des Landhauses.

Konservendosen öffnete Frau Müller immer, bevor sie ging. Beim letzten Versuch, es selber zu machen, hatte Onkel Ernst-Walter sich beinah den Daumen abgeschnitten. Ein Bild aufzuhängen, stellte eine unüberwindbare Hürde dar, weil er nicht in der Lage war, einen einfachen Nagel in die Wand zu schlagen, ohne sich dabei zu verletzen. Dabei kannte er sich mit Paragraphen und seinem selbstgewählten Fachgebiet, der Geschichte des Weserberglandes, aus wie kein anderer. Er hatte viel für die Region getan und war überall beliebt. Beruflich hatte Dr. Ernst-Walter Appenbrock bis zu seiner Pensionierung vor drei Monaten als Richter gearbeitet.

Ich fuhr mit dem Käfer durch die beiden geöffneten Tore des Anwesens und parkte neben den Säulen des ehemaligen Holzstalls. Jetzt sollte daraus eine Gaststube entstehen, daneben und schräg darüber ein Museum. Das Haus war deshalb wegen der Umbauarbeiten auf der Seite, auf der sich die Wohnung der Appenbrocks befand, total eingerüstet.

Wir fanden Eva und ihn im Park des Landhauses. Syrinx sprintete vorweg und Eva hüllte sich sofort in ihr übergroßes Handtuch, als sie Robert erblickte. Sichtlich verlegen versuchte sie so auf mich zuzugehen, dass Robert ja nicht zu viel nackte Haut sah. Sie war im Badeanzug, ausgerechnet heute. Es gelang ihr sonst immer, ihre üppigen Rundungen unter möglichst weiten Klamotten zu verbergen. Aber nun erwischte ich sie kalt, indem ich mit diesem gutaussehenden Robert unangemeldet vorbeikam. Von Robert hatte sie ja schon viel am Telefon gehört, aber dass er so gut aussah.

»Hallo, schön dass ihr auch mal kommt«, piepste sie gekünstelt. Eva hatte, aus welchen Gründen auch immer, wieder angefangen, wie ein kleines Mädchen zu sprechen. Sie begrüßte Robert, indem sie ihm die Hand gab, und dabei bemerkte ich die Andeutung von einem Knicks. Dann rannte Eva, so schnell sie konnte, die breiten, steinernen Treppen hoch, die zur hinteren Eingangstür des Hauses führten, und verschwand im Innern des Gebäudes. Sie musste sich ganz dringend etwas überziehen. Außer ihrem Vater hatte sie ja so noch nie ein Mann gesehen.

Mein Onkel, Dr. Ernst-Walter Appenbrock, legte seine Lektüre auf den Gartentisch, während er sich von seinem Stuhl erhob. Er war ein großer, stattlicher Mann mit vollem weißem Haar, der beinah immer lächelte. Sein gemütlicher, behäbig wirkender Gang und seine leicht vorstehenden Zähne im Oberkiefer verliehen ihm manchmal ein auf den ersten Blick etwas hilflos wirkendes Äußeres.

»Guten Tag, Emilia.«

Er ging an mir vorbei zielstrebig auf Robert zu. Er streckte ihm die Arme entgegen, überschwänglich schüttelte er Robert beide Hände.

»Endlich lerne ich den Herrn Studiosus auch mal kennen. Wie geht es Ihrem Vater, Herr Hagedorn? Leider habe ich Ihren alten Herrn länger nicht mehr gesehen. Wie Sie sicher wissen, waren sowohl Ihre Eltern wie auch meine verstorbene Gattin und ich, gemeinsam Mitglieder in einem kleinen privaten Wanderverein. Eine spaßige Sache. Der erste Vorsitzende, Herr von Meining, war ein guter gemeinsamer Freund von uns. Schade, der ist ja nun schon seit Jahren tot. Aber ich bin überzeugt, sein Geist weilt unter uns. So ein hervorragender Charakter vergeht nie. Kannten Sie den Herrn? Ach, was rede ich da? Da waren Sie ja noch ein kleiner Bub. Im wievielten Semester studieren Sie die Juristerei?«

Robert sah ihn eiskalt an. In seinem Blick steckte so viel Verachtung, dass ich erschrak. Onkel Ernst-Walters Blick war auch nicht viel herzlicher, aber es fiel nicht so auf, weil er dabei lächelte. Robert antwortete auf alle Fragen, die Onkel Ernst-Walter ihm stellte: Nein, er wohnt nicht mehr bei seinen Eltern und ist im sechsten Semester. Ja, die Schwestern sind auch schon ausgezogen. Nein, ihm ist nicht bekannt, dass seine Eltern mal in einem Wanderverein waren. Danke, der Frau Mutter geht es nicht so gut.

»Wir wollen eigentlich zu Morgenstern«, unterbrach ich ihr Gespräch, wenn man es denn so nennen konnte. Onkel Ernst-Walter sah mich herablassend von der Seite an. Ich wusste, was er dachte: Wie kommt die nur an den Sohn von Professor Artur Hagedorn? Was findet ein gebildeter Mann an einer wie ihr?

Er hielt nicht viel von mir. Seitdem er mit Sybille zusammen war, wurden ihm anscheinend viele Dinge auch wieder bewusst, die er in den vergangenen Jahren viel zu sehr in den Hintergrund gestellt hatte. Er hatte Franziska und Konstantin schon einmal darauf aufmerksam gemacht, dass sie in meiner Erziehung etwas versäumt hätten. Und dann bekam ich auch noch das uneheliche Kind von so einem dahergelaufenen Schauspieler, der dann ja auch sofort wieder verschwand.

»Muss das sein? Müsst ihr noch zu Morgenstern?«

»Ach bitte, bitte Papilein!«

Eva stand neben ihrem Vater und klatschte in die Hände. Ihre piepsige Stimme überschlug sich. Sie trug Reitstiefel und eine enge Reithose, darüber aber ein riesiges, beinah knielanges Oberhemd und eine Männerlederjacke. Um den Kopf hatte sie, wie immer, wenn sie das Haus verließ, ein Kopftuch gebunden, das im Nacken geknotet war. Ihre blonden, gewellten Haare fielen bis auf die Hüften. Die Macke mit dem Kopftuch hatte sie von ihrer Mutter, die nie ohne Kopfbedeckung aus dem Haus gegangen war.

»Ausnahmsweise Eva. Aber du weißt, auch in den Ferien muss man täglich etwas für die Schule tun!«

»Danke Papi, danke.«

Es ist schon peinlich, dachte ich, dieses idiotische Getue. Dabei wollte Onkel Ernst-Walter nur nicht, dass Eva etwas mit mir unternahm, und auch sonst war ihm jede Bekanntschaft von Eva sofort suspekt. Niemand war ihm für sein Kind gut genug. Deshalb hatte Eva auch keine Freunde. Am liebsten war ihm, wenn seine sechzehnjährige Tochter gemeinsam mit ihm etwas unternahm. Bloß, das passte seiner Bekannten nicht immer. Er hatte schon an ein Internat gedacht, aber das wollte Eva nicht.

»Endlich weg hier«, piepste Eva, als wir in dem vollbesetzten Käfer in Richtung Reitanlage fuhren. Eva saß auf dem Beifahrersitz, Robert fuhr. Sie errötete jedes Mal, wenn sie in seine Richtung blickte.

Die Friesenstute Morgenstern stand auf dem Paddock der Reitanlage. Sie wieherte und kam auf uns zugelaufen. Morgenstern war das Trostpflaster gewesen, das Eva nach dem Tod ihrer Mutter von ihrem Vater bekommen hatte. Seitdem nahm sie fleißig Reitstunden. Robert meinte, er hätte Respekt vor so großen Tieren und hielt sich zurück, als wir mit Morgenstern, den Hunden und Niclas im Tragetuch im Feld spazieren gingen. Auf einer abgemähten Wiese ritten Eva und ich abwechselnd ohne Sattel auf Morgenstern. Gut, dass es der Reitlehrer Herr Wille nicht sah, sonst hätte es wieder Ärger gegeben.

 

Als wir zurückfuhren, wirkte Eva gelöster, ja richtig glücklich. Sie bedankte sich für den schönen Nachmittag und vergaß manchmal sogar zu piepsen.

Kapitel 6


Auf dem Weg nach Hameln bog ich einfach von der Straße ab und fuhr mit dem Käfer in den Wald. Wegen Niclas fuhr ich nicht in ›meine Parkbucht‹, von wo aus ich sonst meinen liebsten Platz in diesem Wald erreichte, sondern hielt weiter oberhalb der Stelle auf einem Forstweg an. Jeder hat irgendwelche Lieblingsstellen. Bei mir war es diese kleine Lichtung im Wald, die ich vor Jahren mal zufällig mit Konstantin entdeckt hatte. Niclas war auf Roberts Arm eingeschlafen. Ich nahm den Kleinen und legte ihn vorsichtig auf die Rückbank des Käfers. Die Hunde ließen wir im Wald laufen. Ich legte mich mit Robert auf den weichen, piksenden Waldboden, der so aufregend verwegen roch. Ich war gern im Wald und besonders hier. Unten am Waldrand konnte es passieren, dass Spaziergänger vorbeikamen, aber hier war es eher unwahrscheinlich. Wir zogen uns aus und hängten unsere Sachen in die Äste des Gebüschs. Robert war ganz behutsam. Es war das erste Mal seit dieser Sache, über die wir nie wieder gesprochen hatten. Es war, als wenn er fragte: »Darf ich?« Ungewöhnlich für ihn.

»Glaub mir, ich bin okay«, sagte ich.

»Ich habe dich gesehen. In der Nacht. Du wurdest von zwei Männern zu einem Auto geführt. Du sahst mich an und riefst mir zu: Hau bloß ab hier!«

»Ich habe so was gedacht, aber nie gesagt. Ich habe weder gerufen noch geschrien, noch sonst was«, stellte ich entsetzt klar.

»Du hast laut gerufen.«

Ich kam gar nicht darüber weg. Hatte ich so unter Schock gestanden, dass ich davon nichts mehr wusste? Es war mir unbegreiflich.

»Du kannst dir alles von der Seele reden.«

Robert nahm mich sanft in die Arme, ich legte meinen Kopf auf seine Brust.

»Aber vorher muss ich dir etwas sagen, Emi. Ich liebe dich über alles, aber ich bin nicht der Mann, mit dem du …«

Ich hielt meinen Finger auf seinen Mund.

»Ich weiß«, sagte ich.

Ich hatte nicht geglaubt, dass es mir so schwerfallen würde, ihm alles zu erzählen.

»Ich verstehe es immer noch nicht«, sagte ich. »Wieso machen ganz normale Männer so was?«

»Sie wollen, dass du dich so fühlst, wie du dich gefühlt hast und wie du dich fühlen musst, um das zu überstehen. Sie wollen, dass dir alles egal ist, weil du glaubst, etwas völlig Schlechtes getan zu haben. Und dann, wenn sie dich von deiner Familie weggelotst haben und du an der Nadel hängst, dann holen sie dich großzügig aus dem Dreck. Großer Retter kümmert sich um kleine, gestrauchelte Prostituierte, die er selber erschaffen hat.«

»Ich glaube manchmal, für so einen Mist erschaffen worden zu sein«, hörte ich mich sagen.

Robert lachte. »Wenn ich nicht so ein blöder Idiot wäre, würde ich viele Kinder mit dir bekommen und immer bei dir bleiben. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.« Jetzt wirkte er bedrückt. »Meine wahre Passion muss ich wohl einsam in der Hölle ausleben, wie es sich als Sohn des Satans gehört.«

»Eigentlich ist es ja dramatisch mit uns«, meinte ich.

»Gut, dass wir den Schluss des Dramas nicht kennen!«, sagte Robert.

Ich nahm ihn an die Hand. Nachdem wir uns versichert hatten, dass Niclas noch schlief, liefen wir ein Stück durch den Wald, das Auto mit Niclas im Blick, bis zu der kleinen Lichtung. Menschen hatten ihre Gartenabfälle hier entsorgt und damit die Lichtung zu einem Wunderwerk der Natur gemacht. Die Vegetation hob sich hier von dem übrigen Wald ab. Wilde Rosen, Birken und das unterschiedlichste Buschwerk um-grenzten das hohe, mit Kissen aus Moos durchsetzte Gras. Wir wären gern noch dort geblieben, aber wegen Niclas liefen wir zurück. Robert lief leichtfüßig und elastisch, beinah lautlos durch den Wald. Wir blieben stehen, weil ich in eine Dorne getreten war.

»Kannst du dir vorstellen, dass ich früher immer im Wald gespielt habe? Ganz allein. Ich habe gespielt, ich muss vor der Polizei flüchten, weil ich...!« Er stockte. »Weil ich meinen Vater ermordet hatte.«

Er sah so wirr aus, dass ich mich gezwungen fühlte, etwas zu erwidern. Er sollte sich nicht schlecht fühlen. Er hatte immer so viel Verständnis für mich.

»Ich habe was Ähnliches gemacht. Mit einer Freundin. Auch so ein armes Einzelkind wie ich. Wir haben von zu Hause abhauen gespielt. Wir benutzten sogar eine Stoppuhr, um schneller zu werden als die Erwachsenen, die uns verfolgen würden. Wir bildeten uns ein, sie wären mit Mannschaften und Hunden hinter uns her. Ich wollte immer frei sein.«

Ich wusste, Robert war unheimlich ausdauernd und zäh, auch wenn man ihm das nicht auf Anhieb ansah. Paul hatte mal von einer gemeinsamen Kanutour berichtet, dass Robert eine Ausdauer wie eine Maschine hätte und der zäheste Bursche wäre, der ihm jemals untergekommen war.

»Wie findest du meine Cousine?«, fragte ich.

»Mit ihr muss dringend was passieren. Ich sage dir doch, solche selbstgefälligen, selbst total unzulänglichen Drecksäcke wie dein Onkel und mein Vater, die merken gar nicht, wie breit die Schneise der Verwüstung ist, die sie hinterlassen. Da kannst du nur wegrennen, oder…!«

Er streckte seine linke Faust vor, den Zeigefinger nach vorn und den Daumen nach oben.

»Halte dich morgen Nachmittag mal bereit. Ich will dir was zeigen. So eine kleine Demonstration. Was zum Abgewöhnen«, sagte Robert, als er mich, Niclas und die Hunde hinter unserem Haus rausschmiss und mit dem Käfer weiterfuhr.

Kapitel 7


Am nächsten Tag war es unheimlich heiß, tropische Temperaturen. Niclas planschte mit Franziska im Freibad und ich war gerade beim Wäscheaufhängen, als Robert kam.

»Soll ich mich umziehen?«, fragte ich.

»Nicht für den Zweck!«, sagte Robert.

Wir fuhren durch eine wunderschöne Landschaft, bis nach Holzminden. Vor einer zartrosa gestrichenen Villa hielten wir an. Mir fielen sofort die Löwenköpfe auf, die auf beiden Seiten neben der runden, ausladenden Treppe postiert waren. Sie waren aus rosa Granit und hatten ein hämisches Grinsen im Gesicht.

»Geschmacksache, ich würde mir solche Tiere nicht vor meine Bude stellen«, meinte ich zu Robert. Als ich merkte, dass er mich die Treppen hochführte, ärgerte ich mich über meine schäbige Aufmachung. Ich trug ein schwarzes, kurzes Leinenkleid, dazu ausgeleierte Sandalen.

»Was wird das?«, fragte ich.

»Ich sagte dir doch, eine Demonstration«, sagte er. »Egal, was passiert, nimm es locker.«

Robert klingelte an der Tür und eine ältere, ernst dreinblickende Frau öffnete.

»Guten Tag, Herr Robert, wie schön, dass Sie auch mal wieder den Weg zu ihrer Großmutter finden. Die alte Dame erwartet Sie im Speisezimmer. Weiß sie von der Begleitung, die Sie mitgebracht haben?«

»Ich hatte es ihr am Telefon mitgeteilt.«

Mir war unwohl, als ich den Geruch des Hauses einsog und das Gefühl bekam, mich in einer Kathedrale zu befinden. Die alte Frau saß im Esszimmer, auf einem der zwölf Stühle, die um den runden, aus dunklem, poliertem Holz bestehenden Esstisch herumstanden. Ihre schlohweißen Haare trug sie exakt und kunstvoll hochgesteckt. Sie blickte an mir vorbei und nickte Robert zu, ohne ihre Mimik zu verändern. Sie kann nicht aufstehen, um ihren Enkel zu begrüßen, dachte ich. Die Ärmste kann nicht. Ich bekam Mitleid mit der alten Frau und ging auf sie zu, die Hand ausgestreckt, um sie zu begrüßen. Sie sprach auf Französisch auf mich ein und wies mir mit Handzeichen einen Platz zu, weit von sich entfernt. Dann winkte sie Robert zu sich. Der gab ihr die Hand. Sie sprachen Französisch miteinander. Robert wurde ein Platz in ihrer Nähe zugewiesen. Es gab keinen Begrüßungskuss, keine Umarmung. Auch Robert machte keine Anstalten. Ihre Krähenaugen wirkten dunkel und kalt und ich dachte an Helga und Konstantin. Die waren ein Beispiel dafür, wie warm und herzlich braune Augen sonst dreinblicken konnten.

»Tee?«

Robert goss ihr aus einer schlichten Kanne Tee in die Tasse, die vor ihr auf dem Tisch stand. Er verzichtete darauf, sich selber etwas einzugießen, als er bemerkte, dass keine dritte Tasse auf dem Tisch stand. Robert und diese unsympathische Person sprachen weiterhin Französisch miteinander. Wie unhöflich, dachte ich, die kein Französisch sprach. Ich hatte damals in der siebten Klasse Latein gewählt. Für ein Jahr. Schwamm drüber.

»Wollen Sie sich nicht an unserem Gespräch beteiligen, Fräulein? Ich kenne ja noch nicht mal Ihren Namen.«

»Frau«, verbesserte ich sie, »Frau Emilia Weber. Wenn Sie wollen, können Sie auch Emi zu mir sagen. Leider spreche ich kein Französisch.«

Wieder wurde Französisch gesprochen und diesmal übersetzte Robert.

»Meine Großmutter fragt, ob du keine Schulbildung besitzt und was du so beruflich machst?«

»Sag ihr doch die Wahrheit, dass du mich stockbesoffen in einer Eckkneipe aufgegabelt hast und ich fünf Kinder von fünf verschiedenen Männern habe«, sagte ich auf Englisch zu Robert. Vielleicht hatte ich ja Glück und die Alte sprach kein Englisch. Und wenn doch! Was hatte ich bei der schon zu verlieren?

»So will ich dich hören«, erwiderte Robert auch auf Englisch, »ich wusste, du würdest so reagieren.«

Die alte Frau wirkte irritiert, damit hatte sie nicht gerechnet.

»Emi beginnt demnächst eine Ausbildung zur Krankenschwester, und sie hat einen süßen kleinen Sohn. Unehelich natürlich, wie sich das gehört.« Robert schien amüsiert zu sein.

Wieder wurde Französisch gesprochen. Robert übersetzte.

»Sie fragt, was ich mit so einer dahergelaufenen Zigeunerin will. Ob ich nicht aus den Fehlern meines Vaters schlau geworden bin, der hat auch nur so eine Lazaretthelferin ohne Bildung geheiratet.«

»Was hat deine Großmutter denn für einen Beruf?«, fragte ich provokativ auf Englisch.

Robert übersetzte. Die alte Frau stand auf. Sie wirkte so viel kleiner. Wäre das Ganze nicht so traurig gewesen, hätte ich laut losgelacht, aber so war ich nicht erzogen. Ich hatte Respekt vor dem Alter. Eigentlich.

»Hat Robert Ihnen nicht erzählt, wer ich bin? Ich bin die Witwe von Oberst Hagedorn, falls Ihnen das ein Begriff ist. Ich habe sieben Kinder zu dem gemacht, was sie heute sind: einflussreiche und wertvolle Menschen. Und jetzt gehen Sie bitte, bevor ich Sie aus meinem Haus entfernen lasse.«

»Du hast dich daneben benommen, Großmutter. Ich bin enttäuscht und werde jetzt auch gehen«, stieß Robert triumphierend hervor.

»Bitte, dann geh!«, sagte die alte Frau und machte Anstalten den Raum zu verlassen. Ich war schneller als sie, warf Robert einen wütenden Blick zu und stürmte nach draußen. Die Eingangstür hatte ich mit voller Wucht zugeschlagen.

Im falschen Film! Ich war im falschen Film gelandet. In einem miserablen Streifen mit zum Teil lächerlicher Besetzung! Trotzdem wartete ich auf ihn. Robert wirkte zufrieden, als er die Villa verließ. Ich ging auf ihn zu und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Sollte er meine aufgestaute Wut ruhig ordentlich spüren. Ein kräftiger Schlag! Er sollte merken, dass ich keine zarte, schwächliche Person bin.

»Du wirst mich nicht noch mal vorführen!«, schrie ich ihn an, »eigentlich müsste dir dein Vater leidtun!«

»Tut dir jemand leid, der dieses Spiel mitspielt und nichts daraus gelernt hat, als den Druck weiterzugeben?«

Ich ging schnell die Treppen runter, Robert folgte mir. Unten vor der Treppe angekommen, drehte er sich um und breitete die Arme aus, seine Fäuste zeigten auf die Löwen, die Zeigefinger nach vorn gestreckt und die Daumen nach oben.

»Päpäpäpäpäh, päpäpäpäpäh, päpäpäpäpäh!!!«

 

Er feuerte mehrere Salven auf die Löwen ab und lachte dabei wie irre.

»Mach so was nie wieder«, sagte ich während der Fahrt.

»Du warst klasse«, schwärmte Robert.

»Wenn sie dich jetzt enterben und dir den Geldhahn zudrehen? Wo würdest du dann das Geld für dein Studium und die teuren Klamotten herbekommen?«, fragte ich.

In gewissen Dingen bin ich nun mal praktisch veranlagt.

»Ich arbeite an meiner Unabhängigkeit. Dafür trainiere ich schon und mache mir meine Gedanken«, meinte Robert und blickte mich mit seinem Brandstifterblick an.

Niclas schlief schon fest in seinem Bettchen, in dem hellblau-weißen Kinderzimmer bei meinen Eltern. Die Hitze stand noch in meiner Wohnung, deshalb ließen wir die Fenster weit geöffnet und die Vorhänge im Wind wehen. Die Nacht hatte eine Abkühlung nötig. Ich brauchte nur zwei Teile ausziehen. Natürlich war das Licht an und dicke Nachtfalter kreisten um die Lampe. Vor ihnen habe ich Angst und verabscheute es, wie sie um meinen Kopf flogen. In dieser Nacht war alles anders als sonst. Wir stürzten uns aufeinander, wie zwei, die lange getrennt waren.

»Wir dürfen nicht mehr miteinander schlafen. Wir verletzen uns zu sehr damit«, sagte Robert, »wir verlieben uns immer mehr und … Emi, du brauchst was anderes. Etwas, was ich dir nicht geben kann. Ich würde dich unglücklich machen.«

Vor Traurigkeit schmerzte mein gesamter Körper.

»Lass uns Freunde bleiben«, sagte ich und drehte den Kopf zur Seite, damit er nicht mitbekam, wie meine Augen feucht wurden.

»Für immer die besten«, sagte Robert.

Ich fand sein Verhalten großartig. Unheimlich fair Niclas und mir gegenüber.