Buch lesen: «Schützenhilfe»

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GABRIEL ANWANDER

SCHÜETZENHILFE

Roman


1

Ich sass in der Falle.

Ich sass in der unsinnigsten Falle, in die ein moderner Mensch geraten kann: im Stau. Kein Grund, nervös zu werden, sagte ich zu mir, ich bin nicht in Eile. Nichts und niemand warteten auf mich, weder Frau noch Kinder noch Haustiere, auch keine unbezahlten Rechnungen, denn seit ich nicht mehr bei der Polizei war, vermochte ich allen finanziellen Forderungen pünktlich nachzukommen.

Hatte ich nicht alle Zeit der Welt?

Ich lehnte mich zurück und versuchte mich zu entspannen, so gut dies möglich war hinter dem Lenkrad meines gelben, abbruchreifen Saab, den ich «Elch» nannte, weil er aus Schweden stammte und eine Schnauze hatte wie ein Elch. Vor mir verdeckte ein Lieferwagen die Sicht, links neben mir schnurrte eine protzige schwarze Karosse mit Reifen wie ein Schaufellader, und im Rückspiegel sah ich eine blonde junge Frau in einem Smart; mit der Linken umklammerte sie ihr Mobiltelefon und las SMS.

Die späte Septembersonne legte ihre Strahlen durch mein Seitenfenster, trieb mir den Schweiss in die Augen und lähmte meine Bemühungen, mit bewusstem Atmen meine Stimmung nicht in den Keller sinken zu lassen. Dabei hätte ich solide Argumente gehabt, trotz Stau zufrieden und gelassen zu bleiben. Ich war mein eigener Chef, und das Geschäft, das ich betrieb, hatte Hochkonjunktur; es warf einiges ab, auch wenn es bisher nicht für einen neuen Saab gereicht hatte.

Dazu müsste erst einmal ein ganz grosser Auftrag her.

Normale Aufträge gab es zuhauf. Es war kaum zu fassen, was die Leute über andere in Erfahrung bringen wollten – und wie viel sie dafür hinblätterten. Da gab es Chefs, die wollten wissen, wo ihre Aussendienstmitarbeiterinnen ihren Arbeitstag verbrachten, und verharrten im Argwohn, selbst wenn sich zeigte, dass die Mädchen ihr Gebiet gründlich abgrasten und ihre Mandanten nett beschwatzten, um Bestellungen für überteuerte Produkte hereinzuholen. Da gab es Väter, die bezahlten bar, um Auskünfte über den Freund ihrer Tochter zu bekommen. Und ich staunte, wie viele Frauen es gab (und gibt), die keine Vorstellung davon hatten, wo, wie oft und vor allem in welcher Form ihre treuen Ehegatten auswärts Sex kauften. Der Mann gab mit einer kleinen Unachtsamkeit Anlass zu Verdächtigungen, die Frau quälte sich für drei, vier Wochen, dann rief sie einen Profi an.

Mich.

Meine Aufgaben bestanden darin, Informationen zu beschaffen. Ich war stets darauf bedacht, die Dinge weder zu beschönigen noch zu verschlimmern, höchstens ein wenig zu vereinfachen und, ja, manchmal zu kürzen. Wenn eine Aussendienstmitarbeiterin sich anschickte, nebenbei ihr eigenes Geschäft aufzubauen, konnte das – von mir als unwichtiges Detail erachtet – im Bericht unerwähnt bleiben. Andererseits holte ich Auskünfte über den mutmasslichen Schwiegersohn auch dann noch ein, wenn sich die Tochter längst einem anderen hingab. Die Gefahr, dabei ins Abseits zu geraten und unglaubwürdig zu scheinen, stufte ich als gering ein, denn, um beim Beispiel «Schwiegersohn» zu bleiben: Keine Tochter erzählt zuallererst ihrem Vater, dass sie einen neuen Freund hat.

Kurz gesagt: Ich führte jeden Auftrag aus.

Und ich hatte einen guten Ruf.

Die mündlichen Berichte unterschieden sich von den schriftlichen einzig in der Länge und in den Einzelheiten: Es wäre mir peinlich, wenn ich einer Frau gegenüber pikante Details beim Namen nennen müsste, deshalb blieb ich am Telefon an der Oberfläche. In einem schriftlichen Bericht machte es mir hingegen nichts aus, abartigste Wünsche und Praktiken eines Mannes aufzulisten. Hin und wieder trug mir die Detailtreue ein Dankesschreiben ein von der aufgeklärten Ehefrau, die meinte, ich hätte ihr die Augen geöffnet.

Liebe macht bekanntlich blind.

Hass übrigens auch.

Ich stand also wenige Meter nach dem Tunnel im Ostring, Richtung Interlaken. Der Tag ist ohnehin gelaufen, redete ich mir ein und stellte mir vor, was ich als Erstes tun würde, sobald ich daheim sein werde. In meiner Wohnung in Langnau. Ich würde kurz unter die Dusche stehen, mir dann ein kleines Bier aus dem Kühlschrank genehmigen, oder einen grossen Whisky. Bei mir liegt auch der Whisky im Kühlschrank, ich mag weder Bier noch Whisky lauwarm, da könnte ich ebenso gut Tee trinken.

Es half alles nichts: Alle Fahrzeuge standen, und das brachte mich zur Verzweiflung. Ich begann über die Leute vor und neben mir zu fluchen, die ausgerechnet um dieselbe Zeit, an demselben Ort, in dieselbe Richtung unterwegs sein mussten.

Dann kam unverhofft Bewegung auf. Wellenartig. Anfahren, beschleunigen, schalten, bremsen, stoppen, warten, von Neuem anfahren, beschleunigen – und so fort. Es rollte abwechslungsweise die linke, dann die rechte Kolonne. Ich entspannte mich. Da sah ich im Rückspiegel, wie sich ein Pickup in unsere Kolonne quetschte, direkt vor den Smart hinter mir. Als die Kolonne nebenan zu rollen begann, drängte der Pickup sofort wieder hinüber und machte erneut einige Meter gut. Schon hatte er mich überholt und blieb neben dem Lieferwagen, der vor mir stand, stehen.

Ein Slalomfahrer!, dachte ich und versuchte in die Kabine zu spähen, als er an mir vorüberglitt. An der Seite stand in roten Lettern: «Team Gruber, Gokart-Racing», und auf der Ladefläche war ein Gokart festgeschnallt. Ich beschloss, ihnen keine Chance auf einen Spurwechsel zu geben, und fuhr, kaum geriet die Kolonne in Bewegung, dicht auf den Lieferwagen auf.

Der Pickup scherte sich nicht um mich. Ich sah gerade noch, wie er vorschoss und sich vor den Lieferwagen zu zwängen versuchte – was dieser ihm verwehrte. Gründlich verwehrte, es krachte und knirschte.

Ich stieg aus.

Der Pickup-Fahrer, ein junger, leichtfüssiger und geschniegelter Kerl in heller Hose und noch hellerem, weit offenem Hemd, sprang ebenfalls auf die Strasse und trippelte nach vorne.

Ich ging näher ran, ich wollte nichts verpassen. Der Geschniegelte, möglicherweise der Besitzer des Gokarts, fluchte und schwang seine Fäustchen gegen den Fahrer des Lieferwagens, dieser legte den Rückwartsgang ein und setzte zurück. Scherben fielen zu Boden. Der Mann stellte den Motor ab und stieg aus. Er war allein, ein Handwerker mit einem von grauer Farbe bekleckerten Schlapphut, vermutlich ein Bauarbeiter, Gipser oder Maler. Er schlenderte scheinbar gelassen nach vorne, trat neben den Rennfahrer und besah sich den Schaden. Der Kotflügel des Pickups war eingedrückt, der Blinker zersplittert. Der Handwerker zuckte die Achseln.

Vor mir stand ein Mann, der im Pickup mitgefahren war, ein muskulöser Bursche. In einer Feuerwehruniform hätte er der Traum aller Schwiegermütter sein können, aber schwarz gekleidet, wie er war, und mit seinem schwerfälligen Tritt in den Schuhen mit den dicken Sohlen sah er aus wie ein Raufbold, den man anheuert, um gefährdete Kredite einzutreiben. (Das ist übrigens auch ein Betriebszweig, der florierte.)

Folgendes muss ich vorausschicken: Ich kann einige Dinge nicht ausstehen: stumpfe Messer, falsche Hunde, einfältige Festredner, im Stau zu stehen und beim Radfahren verregnet zu werden. Und ich hasse Leute, die einen Streit vom Zaun reissen und danach einen Beschützer oder Verteidiger vorschieben, der sie vor den Konsequenzen bewahrt. Solche Leute trifft man überall auf der Strasse, im Tram, beim Einkaufen, in der Verwaltung, in der Wirtschaft, in der Politik. Vor allem in der Politik.

Der Bursche vor mir sah mir nach Beschützer aus, und ich befand mich in der passenden Stimmung, den Lauf der Dinge nicht einfach hinzunehmen.

«He, Sie!», sagte ich, «wir beide sehen bloss zu.»

Er blickte sich nach mir um, überrascht, mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn, man konnte förmlich hören, wie sein mechanisches Hirn in Bewegung geriet, wie ihn das Denken anstrengte, wie er litt. Vermutlich hatte er deshalb seinen Schädel rasiert, um bei aufreibender Gedankenarbeit der Gefahr einer Überhitzung zu entgehen.

«Was?», fragte er.

«Warten Sie», sagte ich, «lassen Sie die beiden das allein aushandeln.»

Er war nicht einverstanden. Er war ganz und gar nicht einverstanden. Er gab mir das mit einem Zeichen zu verstehen, von dem er annahm, dass ich es verstände. Er hob seinen Zeigefinger, nicht stramm und aufrecht, sondern schlapp und schlampig, wie es Politiker tun. Und er duzte mich mit den folgenden Worten: «Halt dich da raus. Setz dich schön in deinen Wagen!»

Seine Stimme war die eines Zwölfjährigen und passte schlecht zu seiner Gestalt. Dadurch wurde deutlich, dass er aufgeregt war. Die Beschimpfungen vor dem Pickup arteten derweil in eine Keilerei aus. Der Rennfahrer hatte den Handwerker in den Hintern getreten, als er sich bückte, um den Schaden näher anzusehen. Das ging diesem aber zu weit.

Für den Burschen vor mir war der Zeitpunkt gekommen, einzugreifen, und er hätte sich geradewegs auf den Handwerker gestürzt, wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte.

Ich hielt es, wie gesagt, für falsch, dass sich jemand einmischen und dem Rennfahrer beistehen würde, schliesslich hatte er mit Handgreiflichkeiten begonnen. Ich rammte rasch und entschlossen mein Knie in die Hüfte des Burschen, zielgenau und mit Wucht auf den Oberschenkelgelenkknochen.

(Zugegeben, diesen eher fiesen Trick hatte ich nicht bei der Polizei gelernt.)

Mit etwas Unterstützung von meiner Seite klappte er ein und hielt sich am Rückspiegel fest; bevor er sich wieder aufrichten konnte, hatte ich seinen rechten Arm gepackt und ihn ihm auf den Rücken gedreht.

(Diesen Griff hingegen lehren die Instruktoren der Polizei, als wäre er ihre persönliche Erfindung.)

Ich schlang meinen linken Arm um seinen Hals und drückte ihm seinen Arm in den Nacken, bis er mit den Zähnen knirschte. Er hielt still, und gemeinsam sahen wir zu, sozusagen aus der ersten Reihe, wie der Handwerker dem Rennfahrer das Maul stopfte. Drei Mal schlug er zu. Hart und schnell. Hernach kletterte er in seinen Lieferwagen und fuhr am Pickup vorbei und weg.

Ich liess den Burschen gehen. Er eilte zu seinem Kumpel, half ihm auf die Beine, hielt ihm ein Taschentuch hin und rief mir nach: «Wir sehen uns wieder!»

Der Stau vor uns hatte sich aufgelöst, der Verkehr rollte wieder, ich beeilte mich und gab Gas.

Als ich auf die Schnellstrasse nach Rubigen einbog, mitten in der Kurve auf die Brücke, klingelte mein Mobiltelefon, und damit nahm diese Geschichte ihren eigentlichen Anfang und mein Leben eine Wendung.

Ich kann nicht erklären, weshalb ich das eben Erzählte überhaupt erwähnt habe. Wer vermag zu sagen, wann eine Geschichte beginnt und wann sie endet? Was gehört dazu, was nicht? Was bedarf der Erwähnung, was muss vorausgeschickt werden?

Das Telefon steckte in der Jackentasche, und die Jacke lag unerreichbar auf dem Rücksitz. Ich nahm Gas weg und fuhr in Rubigen auf den Parkplatz des Gasthofs zur Sonne, suchte das Telefon und sah nach, wer versucht hatte, mich anzurufen. Es war eine unbekannte Nummer.

Ohne diesen Stau, dachte ich, sässe ich längst zu Hause, hätte einen Whisky in der Hand und würde nicht zurückrufen. Konnte etwas so dringend sein, dass es morgen zu spät dafür sein würde?

Unentschlossen hob ich den Kopf und blickte auf ein Bild des neusten Saab auf der Plakatwand vor mir. Es war ein schwarzes Modell. Schnittige Form. Grosse Räder. Und eine gefällige Schnauze. Auf dem Bild glänzte der Wagen, als wäre er aus Porzellan. Zum Sonderpreis, stand da, mit Sonderausstattung.

Zufall? Fügung? Vorsehung?

Ich rief sofort zurück.

2

Eine Frauenstimme meldete sich: «Scheidegger.»

«Bergmann», sagte ich, «Sie haben mich angerufen.»

«Wo sind Sie?», fragte die Stimme.

«Auf einer einsamen Insel», sagte ich.

Sie blieb stumm.

Ich fürchtete bereits, mein Akku würde leer sein, bevor ich wieder von ihr hören sollte, da fasste sie sich und sagte: «Wir haben einen Auftrag für Sie. Können Sie in zehn Minuten bei mir im Büro sein? Milchgasse 3, zweiter Stock. Kommen Sie einfach rein, Frau Christine Klay, unsere Sekretärin, ist bereits gegangen.»

«Sind Sie sicher, dass ich der richtige Mann bin?»

«Ich habe mich noch nie verwählt», tönte es selbstsicher.

«Um was geht es?»

Diese Frage musste sie erwartet haben, trotzdem war sie nicht fähig, die passende Antwort zu geben. Womöglich gab es keine Antwort, die passte, zumindest nicht am Telefon.

Ich hörte ein Knirschen, ein angenehmes Knirschen, als würde sie ihre Nägel in einen Ledersessel krallen.

«Erschossen», flüsterte sie, «einer unserer Mitarbeiter ist erschossen worden.»

Es war mehr die Art, wie sie es sagte, die mich überzeugte, als der Inhalt ihrer Worte. Ich sagte zu und legte auf. Ich hatte von einem Mord gelesen, heute Morgen in der Zeitung.

Ich parkte meinen Wagen in einer Seitengasse und ging zu Fuss an den zwei Häuserblocks vorbei, bis ich vor der Nummer 3 stand. Neben der Eingangstür hing ein glänzendes Messingschild, gross wie eine Gedenktafel und mit matten, schwarzen Buchstaben: «Advokatur und Notariat Scheidegger.» Die Tür war unverschlossen, ich schob sie auf und ging hinein.

Es war düster und roch eigenartig. Reinigungsmittel hinterliessen einen anderen Geruch, der hier war streng, fremd, scharf. Undefinierbar.

Die Lifttür war mit rot-weissen Plastikbändern in Form eines grossen X gesperrt, und auf Augenhöhe hing ein Blatt Papier mit dem Hinweis, die Umbauarbeiten am Lift dauerten noch bis Ende Woche. Damit wurde mir klar, es roch nach Schweissarbeiten.

Mir blieb die Wendeltreppe rechts. Ich flog die Stufen hoch, zwei Tritte aufs Mal überspringend, meine Schritte hallten bis zur Mansardentür hinauf, und die Treppe war so leer und breit, dass ich mit dem Wagen hätte hinauffahren können.

Wer sein Geschäft in einem Gebäude wie diesem zu betreiben vermochte, im Zentrum der Stadt, der musste in der höchsten Liga spielen und regelmässig gewichtige Aufträge an Land ziehen. Abgesehen von der Stadtverwaltung, die leistete sich ihre Büros auch an bester Lage.

Ich war froh, hatte ich meinen alten Wagen nicht vor dem Haus abgestellt. Frau Scheidegger hätte den Verdacht hegen können, ich sei nicht der Beste meiner Branche.

Im zweiten Stock trat ich in den Flur.

Das Parfum der Sekretärin hing noch in der Luft wie Sommerflieder, eingepackt in Muskat und getragen von Kernseife. Moderne, winzige Leuchtdioden erhellten die dunkle Holzverkleidung und spiegelten sich seidenweich auf dem Teppich, der so dünn war wie der Schinken in den Sandwichs der Polizeikantine. Ich spürte Ehrfurcht aufkommen.

Ich kam an einer Kanzlei mit Milchglas und dem Schild «Anmeldung» vorbei, klopfte an einer schalldichten Tür, die lediglich angelehnt war, atmete tief durch und trat ein.

Das Erste, was ich wahrnahm, war frischer Zigarrenrauch; dann sah ich sie, am Eckfenster stehend, von wo sie einen Überblick über den Bahnhofplatz und weit die Bärengasse hinab haben musste. Sie rauchte eine Havanna.

«Sie haben lange gebraucht», stellte sie mit Blick auf die fast abgebrannte Zigarre fest.

Ich sagte: «Mord ist eine ernste Sache. Da gilt es, ruhig und überlegt zu handeln.»

Sie nickte, kam näher, kniff ihre Augen zusammen und richtete ihre Pupillen wie einen Laser auf meine, es fühlte sich an, als verschaffte sie sich durch meine Augen hindurch Zutritt in mein Inneres, als erforschte sie meine Gesinnung und meine Haltung. Ich hielt ihrem Blick stand und wartete. Sie nickte wieder, fasste die Zigarre mit ihrer Linken, hielt sie von ihrem Körper abgewinkelt, bot mir ihre Rechte an, dann einen Stuhl und sagte: «Sie verzeihen, dass ich rauche. Rauchen muss.»

«Solange Sie … bei dem Kraut bleiben.»

Sie liess sich nichts anmerken und fragte: «Möchten sie auch eine? – Oder lieber was zu trinken?»

Ihr Schreibtisch glich einem Flugzeugträger aus Birnbaumholz, der lederne Sessel dahinter einem englischen Thron und die Bücherwand dahinter einer rege benutzten Ausleihe. Die drei Stühle vor dem Pult waren gepolstert, hatten Armstützen und sahen bequem aus. Ich setzte mich in den ersten, drehte mich nach ihr um, sah, wie sie einen Schrank öffnete, erspähte zwischen etlichen Flaschen mit allerlei klaren und gefärbten Inhalten einen Single Malt, den ich kannte, und sagte: «Einen Fingerhut von dem, und ich schweige, bis Sie mir alles erzählt haben.»

«Eis?»

«Drei Tropfen Wasser, bitte.»

Sie schüttete Whisky ins Glas, als wäre es Milch, gab wenig Wasser dazu und hielt mir das Glas hin. Danach stellte sie sich wieder vor die beiden Eckfenster, hinter denen die Geranien mit ihren roten Blüten von Zeit zu Zeit hereinwinkten. Sie rauchte mit spitzen, altrosa geschminkten Lippen und leicht nervös, wie mir schien: «Gestern Abend ist unser Mitarbeiter, Dr. Reto Schild, ermordet worden. Er sass zusammen mit seiner Frau zu Hause in seinem Wintergarten beim Abendessen. Seine Frau begab sich in die Küche, um …», hier stutzte sie, trat an das Pult, auf dem nichts lag als ein dünnes Dossier, schlug es auf, fand auf Anhieb, was sie suchte, und zitierte daraus: «‹… um den Zucker zu holen›. Kaum war sie in der Küche, hörte sie einen Schuss, und als sie zur Tür hin rannte, sass, nein hing ihr Mann sterbend in seinem Stuhl.»

Sie blickte zur Decke und redete erstaunlich gelassen weiter: «Jemand hat ihn erschossen.»

Sie ging zurück zum Fenster. Jetzt erkannte ich, weshalb: Das linke Fenster stand eine Handbreit offen, auf dass der Rauch abziehen möge – was er natürlich nicht tat.

Sie war eine grosse Frau in einem altrosa Deux-Pièces, trug eine zweireihige Perlenkette, Goldringe an den Ohren und eine dicke Goldkette am rechten Handgelenk. Sie hatte gewelltes Haar, das mich in seiner Form, Farbe und Glanz an einen dieser Bilderrahmen erinnerte, wie sie im Schloss Jegenstorf in den düsteren Gängen hingen und Porträts von Fürsten oder Schlossherren aus dem Mittelalter zierten. Das Haar hatte sie mit Festiger fixiert, es fiel ihr nie eine Strähne ins Gesicht, auch nicht, als sie sich über das Dossier beugte. Während des Redens begann sie im Büro auf- und abzugehen, bedächtig und konzentriert, und jedes Mal, wenn sie vor dem Eckfenster stand, mit beiden Beinen fest auf dem Boden, im Abendlicht, das den Raum zum Glühen brachte, wie man es nur im September er lebt, strahlte sie alles aus, was es braucht, um als Berufene zu gelten: Zuständigkeit, Wahrhaftigkeit, Tugendhaftigkeit. Sie verdiente Vertrauen. Mehr noch: Respekt.

Wenn sie sich in der entfernten Ecke umdrehte, stets auf demselben Fuss und mit einem Schwung, der den Rock aufleben liess, wenn sie ihren männlichen Kiefer reckte, der ihre Willensstärke unterstrich, wurde Kampfgeist, gepaart mit Kühnheit und Freisinn, erkennbar. Daneben verkörperte sie zwei Wesen, zwei Gemüter: ein mütterliches und ein schwesterliches. Und über allem wusste sie die Erfahrungen aus mehreren Generationen Erfolgsgeschichte in sich vereint. Mit einem Wort, sie war eine Aristokratin.

Ich darf noch erwähnen, dass ihr Gesicht nur geringe Spuren ihrer persönlichen Erfahrungen aufwies. Die Falten auf ihrer Stirn, um die Mundwinkel und der Schatten unter den Augen stammten eher von einer schlaflosen Nacht als von anhaltendem Ärger oder Reibereien. Ausgeruht hätte ihr Gesicht weder Anzeichen von Alterung noch Verbitterung gezeigt. Ihr Gesicht war von einer gereiften Schönheit, wie sie nur Frauen haben, die sich regelmässig acht Stunden Schlaf gönnen.

«Sie hat den Täter flüchten sehen», hörte ich sie sagen. Sie war wieder auf dem Weg zur Büromitte, zerteilte das Gespinst des Zigarrenrauchs mit der freien Hand und rang unerwartet mit dem Schmerz, der sie mit einem Mal zu überwältigen drohte, presste die Augen zu und legte Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel.

Ich tat, was ich versprochen hatte: Ich trank und schwieg – und schaute weg.

Sie hatte sich wieder gefangen, schluckte Rauch, hüstelte, streifte die Asche von der Zigarre und redete weiter, mit geröteten Wangen, einem wässrigen Glanz in den Augen und mit einem Kratzen in der Stimme: «Wir haben uns überlegt, eine Belohnung auszusetzen. Dann sind wir zur Überzeugung gelangt, dass es besser ist, mit dem Geld – wie soll ich sagen? – jemanden wie Sie zu engagieren.»

Mag sein, dass ich eine Augenbraue hob, abgesehen davon schwieg ich, noch war der Single Malt nicht ausgetrunken und sie nicht zu Ende mit dem, was sie zu berichten hatte.

Sie liess sich Zeit, den Auftrag zu formulieren, sie redete vorerst von ihrer Idee, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, wählte die Worte sorgfältig und überlegt, hielt nach jeder Wende inne und blickte mich an.

Dann kam sie auf die Polizei zu sprechen.

«Wir bezweifeln nicht», sagte sie, «dass die Polizei irgendwann einen Verdächtigen fassen wird. Aber ich will, dass er nicht irgendwann, sondern rasch gefasst wird, dass er verurteilt wird, dass er hinter Gitter kommt und für die Tat büsst, die er begangen hat, und zwar so lange, wie es gesetzlich möglich ist. Ich will nicht, dass ihm mildernde Umstände zugestanden werden, dass er in eine Anstalt abgeschoben wird oder gar aus Mangel an Beweisen freikommt. Sie haben bei der Polizei gearbeitet, Sie wissen, was ich meine. Das ist eine grosse Truppe, und da hat es – wie soll ich sagen? – Anfänger darunter, Stümper, Tölpel, die mehr vermasseln, als entschuldigt werden kann. Glauben Sie mir, die Verteidigung ist unser Geschäft, unsere Stärke, ich weiss, wovon ich spreche. Wie oft haben wir eine Anklage zerpflückt und einen Freispruch erwirkt, bloss weil die Anklagepunkte nicht zweifelsfrei begründet, weil die Schuld nicht hieb- und stichfest nachgewiesen werden konnte. Oftmals auch nur wegen Verfahrensfehlern oder weil die Spurensicherung versagte, weil bei der Sicherstellung der Tatwaffe Spuren verwischt, weil Beweismittel zerstört wurden oder in der Zeit bis zur Verhandlung aus dem Polizeiarchiv verschwanden. Die Liste ist endlos. Ob aus Nachlässigkeit, fehlender Aufsicht oder mangelnder Professionalität, spielt keine Rolle. Ich weiss nicht, ob Sie eine Vorstellung davon haben, welche Pannen bei der Polizei vorkommen: Haut- oder Haarproben werden verwechselt, Mageninhalte verderben und werden entsorgt, sichergestellte Dokumente, Waffen und Drogen verschwinden, Kleider werden gewaschen; manchmal scheint es mir, die Täter hätten eine geheime Macht über die Polizei. Nein, Herr Bergmann, wir wollen, dass der Täter ins Zuchthaus kommt, und zwar richtig und für lange Zeit, und dazu brauchen wir Ihre Hilfe.»

Noch hatte ich Whisky im Glas, einen Fingerbreit, also wartete ich, nahm einen Schluck und wartete; wartete auf Ergänzungen, auf Erklärungen, auf Bedingungen zum Auftrag, die ich akzeptieren oder ablehnen konnte, und dergleichen mehr, aber sie stand vor mir, rauchte und blieb stumm.

Da fragte ich: «Der Täter ist also bekannt?»

Sie nickte.

Ich trank aus, stand auf und stellte das Glas vorne auf die Bar. Der Whisky rollte langsam hinab, und seine rauchige Wärme belebte meine Glieder, anregend, erheiternd, bis in die Zehenspitzen spürbar, er besänftigte meine Ungeduld, milderte meine Müdigkeit und hob mein Körpergefühl. Ich sagte: «Verstehe. Sie suchen jemanden, der alles beseitigt, was zu seiner Entlastung beitragen könnte. Da bin ich nicht der richtige Mann für Sie.»

Ich streckte ihr die Hand hin, aber ihre Augen wurden hart und funkelten wie Diamanten, sie sprach eine Spur zu laut: «Nein, Herr Bergmann, Sie verstehen mich falsch. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie Indizien zusammentragen, Belastungsmaterial finden und sicherstellen, Zeugen aufspüren, Aussagen festhalten; falls es zum Prozess kommt, wollen wir ihn gewinnen, mit Indizien und Belastungsmaterialien, nicht mit irgendwelchen Machenschaften!»

Ich war nicht bereit nachzugeben: «Ich sehe nicht, was ich da für Sie tun kann. Was Sie brauchen, ist keine Hilfe von meiner Seite, sondern etwas Geduld – und Vertrauen in die Polizeiarbeit. Vielen Dank für den Whisky.»

Sie schüttelte den Kopf, seufzte tief aus dem Bauch heraus, schritt zur Bar, drückte den Zigarrenstummel im Aschenbecher aus und sagte: «Sie verstehen mich falsch. Die Frau war schwanger. Sie steht unter Schock, sie hat ihr Kind und ihre Sprache verloren. Wir nehmen an, dass sie den Täter kennt, aber sie kann uns den Namen nicht nennen, sie ist nicht ansprechbar.»

Sie wandte sich um, blieb vor der Bar stehen und redete gegen die Flaschen in die zunehmende Dunkelheit: «Er läuft frei herum, und das lässt mir keine Ruhe», sie stiess die Wörter mit derselben Abscheu aus, die schon am Telefon deutlich zu hören war, «die Polizei wird ihn finden, daran zweifle ich keinen Moment. Aber ich will, dass er rasch gefunden wird, ich will ihn eingesperrt wissen, bevor er weiter Unheil anrichten kann.» Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

Ich überlegte. Sie hatte von einer Belohnung gesprochen.

Sie wandte sich um, erriet meine Gedanken und schritt zum Pult hinüber, knipste im Vorbeigehen eine Stehlampe an, klappte das Dossier zu, nahm es auf und ergänzte wie beiläufig: «Bei der Belohnung dachten wir an fünfzigtausend.»

«Spesen extra?»

«Selbstverständlich.»

Sie gab mir das Dossier in die Hand, deutete darauf und sagte: «Sie finden alles da drin, Namen, Adressen, alles über den Hergang der Tat – soweit bekannt natürlich – und zehn Prozent Vorschuss.»

«Sie möchten in diesem Fall die Seiten wechseln», sagte ich, «Sie stellen sich auf die andere Seite, ausnahmsweise, auf die Seite der Anklage. Das ist neu für Sie. Und weil Sie die Seite der Verteidigung kennen, nicht aber die Seite der Anklage, brauchen Sie einen Helfer.»

«Ich wusste, Sie würden das begreifen», nickte sie, und um ihre Lippen bildete sich etwas wie ein Lächeln.

Wir gaben uns die Hand. Ich versprach, es mir zu überlegen und ihr am nächsten Morgen meinen Entschluss mitzuteilen. Dann liess ich sie allein in ihrem verrauchten Büro. Allein mit ihrer Wut, ihrer Trauer, ihrem Leid.

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