Buch lesen: «Ein Pfirsich ist ein Apfel mit Teppich drauf»

Schriftart:

Rainer Orban

Gabi Wiegel

Ein Pfirsich ist ein Apfel mit Teppich drauf

Systemisch arbeiten im Kindergarten

Fünfte Auflage, 2021

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

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Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

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Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

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Jakob R. Schneider (München)

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Reihengestaltung: Uwe Göbel

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Fünfte Auflage, 2021

ISBN 978-3-89670-709-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8355-6 (ePub)

© 2009, 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Inhalt

Einleitung

1. Systemisch-ganzheitlich, geht das?

2. Theorie

Eine Warnung vorweg und einige Vorbemerkungen

2.1 Einführung in die Systemtheorie

2.1.1 Konstruktivismus

2.1.2 Das Systemische am Systemischen ist Rückkopplung

2.1.3 Was bedeutet nun systemisch-konstruktivistisch?

2.1.4 Die Kraft von Hypothesen – und die Kunst, sie wieder zu verwerfen

2.1.5 Systemtheorie: Chaos und Struktur, die zwei Seiten einer Medaille

2.1.6 Strukturierung und Entstehung von Ordnung durch positive Rückkopplung – Theorien dynamischer Systeme

2.1.7 Strukturierung und Entstehung von Ordnung durch negative Rückkopplung – Theorien selbstreferenzieller Systeme

2.1.8 Selbstorganisation

2.1.9 Synergetik – Eine Theorie dynamischer Systeme

2.1.10 Eine Abrundung

2.2 Bindungstheorie und Resilienz

2.2.1 Die Bindungstheorie, eine systemische Theorie

2.2.2 Das Konzept der Resilienz

2.3 Lernen

2.3.1 Eine kleine Geschichte des ganzheitlichen Lernens

2.3.2 Die Kindertagesstätte als Bildungseinrichtung – Was aber ist Bildung?

2.3.3 Die Kunst, zu entlernen

2.3.4 Lernen durch Ermöglichung

2.3.5 Wie funktioniert unser Gehirn?

2.3.6 Das menschliche Gehirn ist zum Lösen von Problemen gemacht

2.3.7 Wahrnehmung

2.3.8 Das ganzheitlich arbeitende Gehirn verdient ganzheitliches Lernen!

2.3.9 Bewegung – das Tor zum Lernen

2.3.10 Bewegung fördert den Spracherwerb

2.3.11 Selfcare als Basis

3. So organisieren Sie ihre Kindertagesstätte – systemisch!

3.1 Die Organisation, was ist das eigentlich?

3.2 Die (pädagogischen) Prozesse systemisch organisieren

3.3 Beobachtung

3.4 Verfahren zur Beobachtung

3.5 Aufgaben der Leitung bzw. Führungskraft

3.6 Teamarbeit

3.7 Besprechungen organisieren

3.8 nterne Vernetzung, Austausch organisieren

3.9 Personalentwicklung

3.10 Fortbildungen planen und umsetzen

3.11 Kundenorientierung

3.12 Qualitätsmanagement

3.13 Beschwerdemanagement

3.14 Kooperationen, vernetzt handeln

3.15 Mit einer Verwaltung kooperieren

3.16 Externe Kooperationspartner

3.17 Leitbild

4. Die Grundhaltung in der Anwendung – Ein kleiner Blick auf die Zusammenarbeit mit Eltern und den Kindern

4.1 Partizipation – Zusammenarbeit mit Eltern

4.1.1 Eltern einladen

4.1.2 Transparenz

4.1.3 Der Elternrat

4.1.4 Gespräche mit Eltern

4.2 Systemische Arbeit mit Kindern

4.2.1 Auf Augenhöhe

4.2.2 Erfahrungsräume schaffen

5. Selfcare – Für sich selber sorgen

5.1 Von Landkarten und Landschaften

5.2 Kleiner Methodenkoffer

5.3 »Morbus Aufschieberitis«

6. Ein Dank – statt eines Nachwortes

7. Anhang

Methoden kollegialer Beratung

Reframing

Zirkuläres Fragen

Auftragskarussell

Mind-Mapping

Skulpturenstellen

Optimist – Pessimist

Supervisionswaslzer

Gesprächsleitfäden

Systemisch-lösungsorientiertes Gespräch

Kritikgespräch

Anamnesebogen/Erstgespräch

Anamnesebogen

Erstgespräch

Literatur

Über die Autoren

Einleitung

»Das stört keinen großen Geist.«

Astrid Lindgren, Karlsson vom Dach

Dieses Buch handelt nicht davon:

 wie man an Problemen und Defiziten haften bleibt;

 wie man Probleme und Defizite erzeugt, um sich z. B. besonders wichtig zu fühlen;

 wie man über Probleme und Defizite und schlechte Ressourcen jammert, um sich z. B. besonders bemitleidenswert zu fühlen;

 wie man »1, 2, 3 im Handumdrehen« mit ein paar systemischen Zirkusnummern im Schnellkurs systemisch arbeiten kann.

Dieses Buch handelt davon:

 sich auf den Weg zu machen;

 mehr von dem zu tun, was funktioniert;

 das Große im Kleinen und das Kleine im Großen zu sehen;

 zu verstehen, dass kleine Handlungen große Wirkungen haben können;

 die vorhandenen Rahmenbedingungen für sich zu nutzen;

 ein gutes Navigieren zwischen Akzeptanz und proaktiver Gestaltung zu erreichen;

 eine Haltung zu entwickeln, die auf Neugier, Wertschätzung und Wachstum gründet.

Dieses Buch ist unser Beitrag, den von uns gelernten und gelebten systemischen Ansatz zu vermitteln. Gleichwohl bewegen wir uns nicht im luftleeren Raum. Wir – Gabi Wiegel ganz explizit – arbeiten seit vielen Jahren täglich praktisch oder auch beratend im Kindergarten. Die Anforderungen und der Arbeitsalltag dort haben sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Diese Anforderungen und auch die Rahmenbedingungen gelten für alle, sie treffen auch alle.

Erzieher und Erzieherinnen sind, wenn Sie heute auf den Internetseiten der Agentur für Arbeit nachsehen, gefragt wie nie. Ob im Kindergarten oder in der Jugendhilfe, in allen Bereichen haben Personalverantwortliche heute Schwierigkeiten, gute, qualifizierte Fachkräfte zu finden, denn der berufliche Nachwuchs ist mehr als knapp. Eines eben gilt nach wie vor – dieser Beruf ist vor allen Dingen eins: unattraktiv.

Die soziale Anerkennung ist bis heute, verglichen mit der Bedeutsamkeit und Größe der Aufgabe, eine Katastrophe. Für ein Land mit dem Anspruch, den wir haben und nach außen tragen, könnte die Blamage nicht größer sein. Damit verbunden ist die auch weiterhin absolut katastrophale Entlohnung, die dazu führt, dass in vielen Städten Erzieherinnen und Erzieher, selbst wenn sie über viele Jahre Berufserfahrung verfügen, immer noch weniger als 2000 € brutto mit nach Hause bringen. Von öffentlichen Verwaltungen und von Verwaltungen freier Träger werden im Rahmen geltender Tarifverträge Menschen mit vier- bis fünfjähriger Ausbildung, die von der Dauer her der eines Studiums entspricht, in Gehaltstufen eingruppiert, die auf Verwaltungsebene kein Mensch akzeptieren würde.

Dies wird bereits seit Jahren selbst von den Spitzen der deutschen Wirtschaft kritisiert, da auch dort seit Langem verstanden wird, wie wichtig eine gute Kinderbetreuung für die Zukunft unseres Landes ist. Es ist zwar banal, gleichwohl aber auch Realität: Wir haben keine besseren und keine besser verfügbaren Ressourcen zu bieten als die Potenziale in unseren Kindern.

Norbert Hocke, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, warnt daher: »Wenn sich daran nicht schnell etwas ändert, werden Krippen und Kindergärten bald unausgebildetes Personal einstellen müssen.«

Dies, und da sind wir ohne jeglichen Zynismus sicher, dürfte so manchen Kämmerer und Sparkommissar erfreuen. Die nun im Jahre 2013 in großer Zahl fehlenden Krippenplätze machen dies noch schlimmer, weil die Förderung unserer Kinder, auch unter Bildungsgesichtspunkten, deutlich zu intensivieren ist. Viele Experten sind sich seit Jahren einig: Wir benötigen, um den Anforderungen an frühe Förderung wirklich gerecht zu werden, gut ausgebildetes Personal, gut qualifizierte Pädagoginnen und Pädagogen, gerne auch verstärkt solche mit Hochschulabschluss. All dies wäre aber verbunden mit einer höheren Entlohnung. Geplant ist Letzteres bisher nicht.

Allerdings sollten wir auch festhalten: Laut dem Entwurf des Armutsberichts der Bundesregierung (Stand 17.09.2012) liegt Deutschland im Vergleich von 25 OECD-Staaten bei den öffentlichen Ausgaben für die Betreuung von Kindern unter sechs Jahren im Jahre 2011 auf dem 19. Platz. Während ein Land wie Dänemark knapp 1,3 % des Bruttoinlandsproduktes einsetzt, werden in Deutschland nur 0,4 % des BIP für die Betreuung von Kindern unter sechs Jahren investiert.

Die Einführung von Kinderkrippen, die Entwicklung von Kindergärten hin zu Familienbegegnungsstätten sowie die größtmögliche Förderung von Kindern unter dem Gesichtspunkt ganzheitlicher Bildung erfordert auch eine hohe Kompetenz in der Kooperation mit Eltern und mit anderen Diensten.

Ein systemischer Blick auf die Welt, verbunden mit einer Vielzahl an Werkzeugen und Vorgehensweisen, fördert die geeignete Haltung und Professionalität, die man benötigt, um den Herausforderungen gerecht zu werden.

Dieses Buch stellt einen Einstieg in das Thema dar. Es kann Mut machen, soll Türen öffnen und Sie einladen, neue Möglichkeiten für sich, Ihr Team und Ihre Organisation zu gestalten.

Nun zu seinen Inhalten. Wir beginnen damit, dass wir Ihnen unsere Ideen zu einer systemisch-ganzheitlichen Sicht nahebringen. Danach folgt etwas, das manche in einem solchen Handbuch womöglich nicht erwarten würden: ein großer Theorieblock. In den Fortbildungen, die wir zu diesem Thema geben, haben wir es zu Beginn meist mit einer Vielzahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu tun, die relativ skeptisch sind, wenn wir in ihre Einrichtung kommen, sie mit einem recht großen Ausmaß an Theorie konfrontieren und damit die Einladung verbinden, die Dinge neu zu betrachten. Unsere Erfahrung ist aber, dass sich dies lohnt.

Im Theorieteil geht es um Systemtheorie, Bindungstheorie und Resilienz sowie um das Thema Lernen und Bildung.

Auf dieser Grundlage beschäftigen wir uns dann mit der Umsetzung und dem Transfer in die Praxis. Es folgt ein großes Kapitel mit vielen Tipps und Anregungen dazu, wie Sie Ihre Einrichtung systemisch organisieren können. Anschließend erhalten Sie ebenso praxisnahe Anregungen für die Umsetzung im Kita-Alltag mit Eltern und Kindern. Dabei dreht es sich darum, wie Sie die Zusammenarbeit mit Eltern gestalten oder welches die Grundzüge von pädagogischer Förderung unter solchen Gesichtspunkten sein können.

Wir beenden unseren Rundflug schließlich mit dem Thema Selfcare, widmen uns also der Frage, was Sie tun können, um gesund und voller Tatkraft zu bleiben. Hierzu werden wir Ihnen einige Anregungen und Übungen an die Hand geben.

Noch eines vorweg: Auf der Basis unserer systemischen Haltung folgen wir bezüglich der Führung von Kollegen und Kolleginnen wie auch der Führung von Kindern (ins Leben) demselben Ansatz, nur benutzen wir teilweise unterschiedliche Begriffe. Bei Kollegen und Kolleginnen sehen wir als Vorgesetzte unsere Aufgabe darin, sie zu befähigen; als Pädagogen sehen wir unseren Auftrag darin, Kindern neue Erfahrungen zur ermöglichen.

Wir haben uns entschlossen, dieses Buch als ein Handbuch zu konzipieren. Dies bedeutet: Sie müssen es nicht von vorne bis hinten durchlesen, Sie können auch mit dem vierten oder dem fünften Kapitel beginnen, springen Sie ruhig immer wieder hin und her. Nutzen Sie das, was Sie benötigen. Wir verstehen dieses Buch wie eine Art Kaleidoskop. Wir laden Sie daher ein, sich von der Vielfalt und den Perspektivenwechseln ver-führen zu lassen.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß und hoffentlich neue Anregungen, die Mut machen.

Wir haben uns bei vielen Menschen zu bedanken. Unseren Kindern Jonas, Béla, Fiona und Kian danken wir für viel Geduld mit und Verständnis für uns und das motorische Geschick, nicht über die vielen Bücher und Zettel, die herumlagen, zu stolpern.

Ganz besonders gilt unser Dank Julia Bolender für ihren genauen Blick, ihre Anregungen und ihre Zeit.

Nicht vergessen dürfen wir das Team der Kindertagesstätte Zauberland. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht.

Dem Team vom Carl-Auer Verlag sagen wir danke für seine Ermutigung und sein Interesse an diesem Projekt und für die Zeit, die es uns gegeben hat, dies so umzusetzen.

Unserem Lektor Herrn Uli Wetz eine tiefe Verneigung. Seine Geduld, sein genauer Blick und sein Mut zu deutlichen Verständnisfragen waren nicht nur hilfreich, sondern haben uns und dem Buch enorm gutgetan.

Unserem Kollegen und wunderbaren Freund Matthias Ochs sagen wir Danke für seine sehr intensive und kreative Mitarbeit am Kapitel zur Systemtheorie.

Danken wollen wir an dieser Stelle zudem den zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an unseren Seminaren, Workshops, Fort- und Weiterbildungen der letzten Jahre. Sie haben uns bestätigt, dass es richtig war dieses Buch zu schreiben. Sie haben uns zudem ermutigt und inspiriert auf diesem Weg weiterzugehen.

Mitunter fehlten uns die Worte, dabei gibt es so viele Sprachen.

Hundert Sprachen hat das Kind

Ein Kind ist aus hundert gemacht

Ein Kind

Hat hundert Sprachen

Hundert Hände

Hundert Gedanken

Hundert Weisen zu denken

Zu spielen und zu sprechen.

Immer hundert Weisen

Zuzuhören

Zu staunen und zu lieben

Hundert Weisen zu singen und zu verstehen

Hundert Welten

Zu erfinden

Hundert Welten

Zu träumen.

Ein Kind hat hundert Sprachen

Doch es werden ihm neunundneunzig geraubt.

Die Schule und die Umwelt trennen ihm den Kopf vom Körper.

Sie bringen ihm bei

Ohne Hände zu denken

Ohne Kopf zu handeln

Ohne Vergnügen zu verstehen

Ohne Sprechen zuzuhören

Nur Ostern und Weihnachten zu lieben und zu staunen.

Sie sagen ihm, dass die Welt bereits entdeckt ist

Und von hundert Sprachen rauben sie ihm neunundneunzig.

Sie sagen ihm

Dass das Spielen und die Arbeit

Die Wirklichkeit und die Fantasie

Die Wissenschaft und die Vorstellungskraft

Der Himmel und die Erde

Die Vernunft und der Traum

Dinge sind, die nicht zusammengehören.

Sie sagen also, dass es die hundert Sprachen nicht gibt.

Das Kind sagt: »Aber sie gibt es doch.«

(Loris Malaguzzi, Reggio Emilia, 1985)

1. Systemisch-ganzheitlich, geht das?


Was Sie erwartet:

In diesem Kapitel geht es uns darum, Ihnen unsere Idee von einer systemisch-ganzheitlichen Sicht nahezubringen.

Dabei stellen wir infrage, ob es sinnvoll ist, den Begriff »systemisch-ganzheitlich« überhaupt zu benutzen. Zudem ist zu diskutieren, was denn ganzheitlich überhaupt bedeuten kann. Eine Er-Klärung dazu versuchen wir und laden Sie ein, uns dabei zu folgen.

Im Sinne systemischen Denkens und Handels schrecken wir auch nicht davor zurück, Sie ein wenig zu verstören – aber bitte keine Angst, lassen Sie sich einfach überraschen.

Sagen wir es mal so: Der Begriff Ganzheitlichkeit ist bereits durch so viele Hände gegangen, dass er im wahrsten Sinne des Wortes abgegriffen wirkt. Es bedarf daher schon einiger Überzeugung, will man ihn offensiv benutzen. Diese Überzeugung haben wir. Wir möchten Ihnen gerne schmackhaft machen, dass eine ganzheitliche Sicht enorm bereichernd und zielführend ist.


Übung

Was verstehen Sie unter ganzheitlich?

Wissen Sie noch, wo Ihnen der Begriff zuerst begegnete?

Gibt es Bedeutungen, die Ihnen merkwürdig erscheinen?

Wie sehen die Kollegen und Kolleginnen in Ihrem Team »Ganzheitlichkeit«?

Glauben Sie, dass wir auch eine ganzheitliche Wirtschaft benötigen?

Der Mensch ist mehr als sein Gehirn. Der Mensch ist mehr als seine Muskeln. Der Mensch ist mehr als sein Skelett. Der Mensch ist mehr als ein unbeschriebenes Blatt. Der Mensch ist mehr als das Ergebnis seiner Eltern. Der Mensch ist mehr als das Ergebnis von Einflüssen seiner Umgebungen. Der Mensch ist all das. Der Mensch ist eine Ganzheit. Und mehr. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile …

Endlos, auch ohne klares Ziel, könnten wir eine solche Reihe fortführen. Wie lang und umfassend würde wohl eine Liste, die aufführte, welche Potenziale ein jeder und eine jede von uns in sich trägt? Eine Liste, die so unüberschaubar wäre, dass sie womöglich den einen oder anderen erschlagen würde …

Erschlagen aber wollen wir Sie nicht. Wir wollen Sie ermutigen. Das Wissen über das Füllhorn an Möglichkeiten, diese im positiven Sinne unkalkulierbare Vielfalt in uns, ist die Triebfeder dafür, nicht nur ein solches Buch zu schreiben, sondern sich auch immer aufs Neue der Arbeit mit Kindern und ihren Familien zu widmen. Vielleicht lassen Sie sich ein wenig anstecken und werfen mit uns einen ersten Blick auf das Thema Ganzheitlichkeit im Kindergarten.


Abb. 1: Die ganzheitliche Kindertagesstätte

Abbildung 1 macht deutlich, wie wir ganzheitliches Arbeiten verstehen. Gerade für Gabi Wiegel, die nun seit vielen Jahren einen Integrationskindergarten leitet, hat dieses Verständnis unter anderem dazu geführt, sofort zuzupacken, als man ihrem Kindergarten vor mehreren Jahren über den örtlichen Kneipp-Verein antrug, zertifizierter Kindergarten nach Kneipp zu werden.

Nun mag so mancher Systemiker und ein sich der Postmoderne zurechnender Mensch zu Recht fragen, wie man eine solch angestaubte Idee wieder hervorholen kann. Man kann, es bedarf dafür jedoch eines gewissen Mutes und des Blicks für die Zusammenhänge. Schauen Sie sich einmal die Abbildungen 2–4 in Ruhe an.


Abb. 2: Die fünf Säulen des Wohlbefindens (nach Kneipp 1995)


Abb. 3: Fünf Säulen der Identität (nach Pearls 1980)


Abb. 4: Was zur Lebensbalance beiträgt (nach Seiwert 2005)

Ehrlich gesagt, sind wir nicht sicher, was nun wirklich spannend ist. Sind die offensichtlichen Überschneidungen spannend? Oder ist es spannend, dass diese offensichtlichen Parallelen und Überlappungen bisher nicht zusammengeführt wurden? Womöglich ist das Ganze einfach auch nur banal und hat lediglich damit zu tun, dass dies immer so ist. Immer gibt es Menschen, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten auf ähnliche Ideen kommen. Sicher.

Ist es aber nicht an der Zeit, diese parallelen und sich eben auch ergänzenden Kenntnisse wahrzunehmen und daraus neue, ganzheitliche Modelle zur Förderung unserer wichtigsten Ressource, unserer Kinder, zu entwickeln?

Lassen Sie uns nach diesem Ausblick in theoretische wie auch zukünftige konzeptionelle Ideen erst einmal zurück an die Basis gehen und konkret werden. Eine Erfahrung ist: Ein systemisch-ganzheitlicher Ansatz kann zum Beispiel dazu führen, dass Kindergärten, die einen hohen Migrantenanteil haben, in der Regel weitaus leichter und gelingender mit den Eltern arbeiten.

Lesen Sie hierzu bitte folgende Auszüge aus dem Artikel von Jürgen Rothlauf, »Interkulturelles Verhalten zielt auf Ganzheitlichkeit« (Frankfurter Allgemeine Zeitung/Sonntagszeitung, 29.10.2007):

[…] gibt es noch gewaltige Defizite im interkulturellen Lernen und Verstehen […]

»Andere Länder, andere Sitten« lautet der landläufige Ausdruck dafür, dass unterschiedliche Kulturen zu unterschiedlichen Handlungen neigen. Die Kultur hat Einfluss darauf, wie die einzelne Person sich sieht und bewertet. Das impliziert, dass auch die Bewertung anderer – sei es innerhalb der eigenen oder einer fremden Kultur – abhängig vom eigenen Kulturstandpunkt ist.

Es ist besonders schwierig, sich […] mit abweichenden Zielen und Werten in einer anderen Kultur durchzusetzen. Traditionen haben immer auch etwas mit dem Festhalten und damit auch mit der Angst und der Unsicherheit vor Neuerungen zu tun. Das beweist, dass trotz einer sehr positiven Bewertung des Kulturbegriffes die Konsequenzen dennoch negativ sein können.

Interkulturelle Kompetenz setzt dabei das Bewusstsein voraus, dass die eigene Kultur nur eine von vielen ist, dass in jeder Kultur eigene Vorstellungen davon existieren, was »real« ist, was Menschen unausgesprochen voneinander erwarten können. Dieses Bewusstsein ist noch kein Wissen um die Unterschiede. Aber es ist eine wesentliche Voraussetzung für die Neugier am Fremden, ohne die jedes Wissen steril bliebe.

Um interkulturelle Handlungskompetenz zu erlangen, sind gewisse Anforderungen zu erfüllen, zu denen unter anderem die nachfolgenden gehören:

Offenheit für fremde Kulturen: Besonderes Interesse und positive Neugier gegenüber fremden natürlichen und kulturellen Umwelten erleichtern die Akzeptanz der Andersartigkeit […], wobei die Bereitschaft zur Akzeptanz überhaupt als Grundlage für Lernfähigkeit in Bezug auf andersartige Lebensverhältnisse gegeben sein muss.

Akzeptanz fremden Verhaltens: Voraussetzungen hierfür sind Selbstdisziplin, Beachtung bestimmter Prinzipien der »ungesprochenen Sprache« sowie Einfühlungsvermögen in einen veränderten Verhaltenskodex. Dazu kommen noch Respekt vor Andersartigkeit, Anerkennung sozialer Ränge, die unter Umständen auch mit anderem Maß gemessen werden, sowie Toleranz gegenüber Ungewöhnlichem […].

Nur ein ganzheitlich ausgerichteter interkultureller Ansatz wird der Herausforderung gerecht, auf internationalen Märkten erfolgreich zu agieren. Dem Stellenwert des Interkulturellen Managements sollte von daher eine höhere Aufmerksamkeit geschenkt werden, als das bisher der Fall war.

Wenn Sie am Ende des Artikels ein leichtes Erstaunen bei sich bemerkt haben, dann haben wir unser Ziel erreicht. Es ist schon erstaunlich: Interessanterweise finden wir, wenn wir die diversen Suchmaschinen im Internet nutzen, immer wieder auch Links, die aus Bereichen stammen, denen wir nun in keiner Weise unterstellen würden, etwas mit ganzheitlicher Sicht zu tun zu haben. Jürgen Rothlauf, der Autor, ist Professor für Internationales Management an der Fachhochschule Stralsund. Viele Passagen aus diesem Text konnten wir hier ohne Bedenken zitieren.

Wie kommt das? Natürlich haben auch wir darauf keine eindeutige Antwort, doch wir sind überzeugt, dass eine systemisch-ganzheitliche Sicht viele Menschen anspricht. Sie können sehr unterschiedliche Gründe dafür haben, weshalb sie eine solche Sicht befürworten. Zum einen entspricht eine Sichtweise, die integriert statt separiert, die also verbindet, statt zu trennen, zentralen humanistischen Gedanken. Andererseits kann man auch einfach fasziniert davon sein, wie sehr ein solches Vorgehen, sich anderen neugierig zuzuwenden, zu sehr pragmatischen, effektiven und effizienten Ergebnissen führt.

So gesehen, ist es alles andere als erstaunlich, dass sich dieser Begriff auch zunehmend in Bereichen von Beratung, Coaching, und, wie oben bereits gezeigt, wirtschaftlichen Zusammenhängen wiederfindet. Im Bereich von systemischer Organisationsberatung findet man den Ausdruck »ganzheitlich« relativ häufig, gerade beim Projektmanagement, wenn es darum geht, verschiedenste Prozesse und Ebenen gleichrangig zu berücksichtigen.

Was nun bedeutet für uns Ganzheitlichkeit vor dem Hintergrund einer systemischen Betrachtung der Arbeit im Kindergarten? Systemische Konzepte sind immer wieder auch als eher intellektuelle, das kognitive Moment betonende Ansätze verstanden worden, und zum Teil wollten sie auch so verstanden werden. Dies hat sich inzwischen wesentlich verändert. Wir erleben eine Entwicklung, in der z. B. der ausgewiesene systemische Theoretiker und Forscher Wolfgang Tschacher zusammen mit der Psychotherapeutin Maja Storch, dem Neurobiologen Gerald Hüther und der Fitnesstrainerin Benita Cantieni ein Buch veröffentlicht hat (Cantieni et al. 2006), das vier verschiedene, sich aber ergänzende Perspektiven zusammenführt. Wir alle wissen mittlerweile durch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung sehr viel darüber, was in unserem Körper abläuft. Eine rein psychische, rein kognitive oder rein somatische Betrachtung des Menschen ist wissenschaftlich überhaupt nicht mehr haltbar.

Systemiker und Nichtsystemiker tun daher äußerst gut daran, die Wechselwirkung aller möglichen Prozesse – auch der körperlichen – mit in ihre Überlegungen einzubeziehen. Man kann dies auch ein wenig poetischer formulieren: Ganzheitlichkeit ist wie Himmel und Erde, Glück und Unglück. Tag und Nacht. Ganzheitlichkeit ist wie ein Magnetfeld.