Buch lesen: «Ein Kuckuckskind»

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Table of Contents

Title Page

Vorwort

Motiv

Henny in der Börde

Der Alltag hielt Einzug

Volksfest

1961

Hasso

Der Tabakboden

Der Kindergarten

Mein HASSO

Die Einladung

Totschlag oder Mord?

Schon wieder Nachwuchs

Blut ist dicker als Wasser

Der Selbstmordversuch

Der Jugendklub

Mein Berufsweg

Meine erste Wohnung

Hoher Besuch aus Berlin

Wirren der Seele

Nachbarn

Verdrängung

Die Hochzeit

Alkohol

Im Krankenhaus

Die Therapie

Der Test

Im Büro

Trauer

Warum

Dumm gelaufen

Die Diagnose

Bremen

Kindeswohl, dass ich nicht lache …

Schönebeck

Streber

Der Geburtstag

Theaterprobe

Chor

Kultur als Überlebenselixier

Danksagung

G. Ungewiss

Ein Kuckuckskind

Erinnerungen eines Bördemädchens

im Sozialismus

Autobiografie

Ich erkläre hiermit, dass die Namen frei erfunden und die Darstellungen aus Erinnerungen, Erfahrungen und Geschildertem von der Phantasie untermalt niedergeschrieben sind.

G. Ungewiss

VORWORT

Ich weiß ... Es ist immer schwer, einen gelungenen Einstieg zu finden.

Ich möchte dich mit diesen Zeilen zu den Erfahrungen einer inzwischen alten Frau führen, die ihr Leben bereits hinter sich hat. Zu Lebzeiten fiel es ihr schwer, auf sich zu achten und für sich selbst da zu sein. Ihr Einsatz galt trotz der Tiefschläge dem Menschen.

Mein Ziel ist es, dich zum Lesen zu motivieren, zum Nachdenken anzuregen und auch zum Schmunzeln zu bringen.

In diesem Buch werden Erfahrungen von einer Frau beschrieben, die wahrscheinlich einen ganz normalen Lebensweg beschritten hat. Wobei es sich über eine Formulierung wie ›ganz normal‹ natürlich streiten lässt.

Ein Mädchen, aufgewachsen in einer Großfamilie als Kuckuckskind. Geprägt durch diese Rolle in der Familie und von den Erlebnissen, die ihr widerfahren sind. Ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Aber dennoch liebenswert. Ihre Situation war nicht zu vergleichen mit jener in heute üblichen Patchwork-Familien.

Es handelt sich um eine Biografie einer Frau, die ich meinte zu kennen, und doch war alles anders.

Genieße die Zeilen. Wenn sie dich von deinem Alltag ablenken, etwas in dir bewegen oder du gar dadurch vielleicht zu einem besseren Zuhörer wirst, habe ich mein Ziel erreicht.

Viel Freude beim Lesen.

Gisela Ungewiss

MOTIV

Dieses Buch entstand aus einer Einsamkeit heraus. Allein, zu Hause, vergessen von sogenannten Freunden. Gefangen im tiefen Loch einer Depression, in dem der Abstand zu den Mitmenschen immer größer zu werden schien. Kein Antrieb. Der Wunsch auf zwischenmenschliche Kontakte war verloren gegangen. Zu anstrengend. Das Gefühl der Ablehnung hielt sich beharrlich. Der Tag war schwer zu ertragen. Ich wollte nicht aufstehen. Nicht rausgehen und mir womöglich noch sagen lassen, dass der Tag schön sei. Ich sah das nicht. Ich sah ES nicht. Das Schöne. Alles war grau, trotz Sonnenschein.

Die Worte dröhnen wie Gebrüll in meinen Ohren. Nein! Ich will niemanden hören, niemanden sehen. Es ist zu anstrengend. Mir fehlt die Kraft. Es ist schwer, sich ständig erklären zu müssen. Missverstanden zu werden. ›Draußen‹, im Abseits zu sein.

Niemand hört mehr zu. Immer nur höre ich: »Die schon wieder, mit ihrem Selbstmitleid!«

Selbst-mit-leid? Was soll das überhaupt sein? Ja, ich leide, aber was ich nicht will, ist Mitleid. Und >Selbst< schon gar nicht. Mir selbst gegenüber bin ich nicht so rücksichtsvoll und verständnisvoll. Mir fehlt der Wegweiser aus der Dunkelheit. Das schmerzt, als würde man den Daumen in die offene Wunde legen. Niemand muss mit mir mitleiden.

Verständnis wäre gut. Aber woher soll das kommen, wenn ich niemandem sage, was mich bewegt? Und selbst wenn ich wüsste, was mich bewegt, wer würde das hören wollen? Wem will und vor allem wem kann ich mich denn anvertrauen … ohne, dass es gleich die Runde macht und ›alle‹ mit dem Finger auf mich zeigen ... Und warum sollte ich jemanden mit meinen Gedanken, Sorgen und Gefühlen belasten. Hat irgendwer es verdient, dass ich ihn oder sie auch noch runterziehe? Nein. Ich will nicht zur Last, zur Belastung werden. Also, schweige ich und lächele. Aber meine Seele weint. Ich brauche jemanden, dem es gelingt, die grauen Wolken, die mich erdrücken, beiseite zu schieben, damit ich die Sonne wieder sehen kann.

Und warum dürfen Menschen das überhaupt – Andersdenkende und anders Fühlende verurteilen? Woher nimmt ein Fremder das Recht, über sein Gegenüber zu richten? Ist er auch nur ein kleines Stück des Weges mit mir gegangen, um mitreden zu können? Dieses Verurteilen anderer macht mich so wütend. Hat nicht jeder Dreck vor der Tür? Auch ich – obwohl, das meiste ist nicht einmal mein Dreck. Der wird halt nur zu meinem gemacht. Oder bin ich es selbst, die den Schmutz anderer zu meinem eigenen macht?

Was ist los mit mir? Warum so viele Fragen? Warum die Zweifel? Macht sich nicht jeder Mensch solche Gedanken? Nehme ich mir nicht selbst zu viel Recht auf Gerechtigkeit heraus? Bin ich es, die ungerecht ist? Sind es die anderen? Mit welchem Recht dürfen sie urteilen – nein, verurteilen? Oder verurteile ich zu Unrecht? Die Welt ist aus den Fugen geraten. So scheint es, wenn die Gefühle nicht mehr mit den Gedanken Schritt halten können. Es macht mir Angst. Ich bekomme Bauch- und Kopfweh. Mir wird schwindelig.

Warum wird der Abstand zu meinen Nachbarn und Bekannten gehalten und ist die Liebe zu den Tieren größer als zum Menschen?

Wo sind sie nur, die Mit-Menschen? Warum sitze ich jetzt hier Ohne-Menschen? Komisch, das Wort Ohne-Menschen kennt das Rechtschreibprogramm des Computers nicht. Warum eigentlich nicht? Es sind doch so viele ohne Menschen. Allein. Einsam. Die sich lieber für ein Haustier entscheiden, als dass sie sich noch jemand anderem anvertrauen ...

Nun gut. »Jeder ist seines Glückes Schmied!« Wer war das, der solch einen ›klugen‹ Spruch abgelassen hat? Ich weiß es nicht. Habe auch so meine Zweifel an dieser Aussage. Für mich klingt es eher wie ein Vorwurf. ALSO: Selbst schuld ... Da ist sie wieder, diese Schuld! Aber wer ist schuld? Warum? An was?

Quälende Fragen und Selbstzweifel bereiten meinen Weg … machen mich kaputt.

Ich will euch sagen, warum. Dazu muss ich euch eine Geschichte erzählen ...

... eine Geschichte von einem kleinen Mädchen, das auf dem Land aufgewachsen ist.

Meine Mutter kam aus dem Norden, aus einem Dörfchen in der Nähe von Schwerin. Wir würden sagen, wo sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagen. Ihr Name war Henny. Sie war schön und unschuldig. Eine liebenswerte Frau. Schlank, braunes Haar, voller Lebenslust.

Im Ort gab es nur Sandwege, einen kleinen Laden mit Waren für den täglichen Bedarf, ansonsten nichts, nicht mal einen Arzt. Dafür gab es eine Badeanstalt in der Nähe. Ein Tummelplatz für die Familien im Sommer. Viele andere Gelegenheiten zum Zeitvertreib außer Arbeiten gab es nicht. Der Weg dorthin, entlang der Wiesen, Baumreihen und einer Eisenbahnstrecke, wo noch die Dampflok regelmäßig entlang zog, war romantisch und schön. Knallerbsenbüsche, riesige Laubbäume, die Schatten und Trost spendeten und weite Wiesenlandschaften bis an die Wälder heran. Man konnte sich hier auch einfach ins Gras legen und in den Himmel schauen, die Vögel beobachten oder auf Rehe warten. Mit den Gräsern spielten wir ›Hühnchen oder Hähnchen‹. Die kleinen Dinge brachten Abwechslung und Freude. Ich war sehr gern dort in den Ferien. Weg von dieser Familie ... Aber dazu später.

Henny lernte, wie viele Mädchen in den Vierzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts Hauswirtschafterin in Kühlungsborn. War dort während der Ausbildung bei Verwandten untergebracht, denn Geld für ein Zimmer hatte sie nicht. An manchen Wochenenden fuhr sie nach Hause zu ihrer Mutter und legte stets den Weg über Schwerin zurück. Die Verkehrsanbindung gab nichts anderes her. Sie fuhr mit der Bahn: zuerst mit der ›Molli‹, der mecklenburgischen Bäderbahn, einer dampfbetriebene Schmalspurbahn mit einer Höchstgeschwindigkeit von vierzig Kilometern pro Stunde, dann musste sie zweimal umsteigen auf den großen Zug. Der Rest wurde auf Schusters Rappen zurückgelegt. Bis sie zu Hause war, gingen schon mal weitere drei bis vier Stunden ins Land. Deshalb fuhr sie nicht mehr so häufig nach Hause. Es war umständlich, langwierig und teuer.

Sie stand schon bald auf eigenen Beinen. Wurde immer selbstständiger und verdiente ihr eigenes Geld als ›Mädchen für alles‹. Mit sechszehn Jahren fühlte sie sich schon erwachsen. Zu dieser Zeit musste man bereits alleine zurechtkommen. Es gab keine Möglichkeit, bei jedem Problemchen Mama anzurufen und um Hilfe zu bitten. Telefon hatte nur der Bürgermeister und der Pfarrer. Zu der Zeit wurden statt WhatsApp noch Briefe geschrieben, die mitunter eine Woche unterwegs waren, bis sie den Adressaten erreichten. So blieb sie also vor Ort oder fuhr maximal bis in die Kreisstadt Schwerin. Sie schlug sich durch. Es war 1946.

Oft machte die junge Frau, wenn sie frei hatte, bereits in Schwerin halt, weil dort ihre Cousine lebte. Sie war älter als Henny. Kannte sich gut aus in dieser Stadt. Hier pulsierte das Leben nach dem Krieg. Die Armee unterhielt in der Nähe ein Schützen-Bataillon. Bereits 1822 begann hier schon die militärische Nutzung der Region. Ein Artillerieschießplatz wurde im Schutz des ringsherum liegenden Waldes eingerichtet. Es entstand der Militärstützpunkt Stern Buchholz. Die Wehrmacht begann mit dem Bau eines Versorgungsdepots und einer Heeresmunitionsanstalt. Später galt es nur noch, dieses Lager zu bewachen und zu verwalten. Der Krieg war seit Mai 1945 zu Ende – in manchen Regionen etwas später. Häuser und Landschaften waren genauso kaputt wie die Ideale der Menschen, Gefühle lagen in Trümmern, Männer waren knapp.

Aber in Schwerin, da waren die Soldaten, Offiziere – Männer! Die Sehnsüchte wuchsen in der schweren Zeit der Zerstörung. Sehnsucht nach Streicheleinheiten, Zuwendung, Nähe, Schutz und Geborgenheit. Henny lernte in der Stadt einen großen und stolzen Offizier kennen, verliebte sich in ihn und heiratete. Mit achtzehn war sie bereits Ehefrau. Sie war versorgt. Das war es zu dieser Zeit, worauf es im Leben eines Mädchens ankam. Verheiratet sein … ›unter der Haube‹ sein. Der Mann hatte das Geld nach Hause zu bringen, und die treusorgende Ehefrau kümmerte sich um den Haushalt. Sie ›durfte‹ kochen, waschen, putzen und den Gatten, als Dank für das Haushaltsgeld, das Bett warm halten. Bald stellte Henny fest, dass das Leben mit ihrem Offizier doch nicht die Erfüllung brachte. Dieser Mann war dienstlich so stark eingebunden, dass er kaum zu Hause war. Sie spielte nur eine untergeordnete Rolle in seinem Leben. Die Nähe und der Schutz, die Geborgenheit fehlten. Bald schon spielte sie gar keine Rolle mehr für ihn. Henny war allein, einsamer als je zuvor.

In Schwerin Stern-Buchholz war auch Wilhelm stationiert. Als Soldat war er kein Kostverächter, genoss das Leben in vollen Zügen. Der Alltag war schon schwer genug, deshalb zog er mit seinen Kameraden an den freien Tagen um die Häuser, durch Kneipen und Bars, und tat, was man halt bei dem spärlichen Sold tun konnte, um den Kopf frei zu kriegen und nicht mehr dem gedanklichen Elend hinterherzuhängen. Fern von der Heimat. Nicht wissend, wie es zu Hause aussah.

Es sprach sich natürlich schnell herum, wo man die übriggebliebenen Männer finden konnte. So ging auch Henny mit ihrer Cousine spazieren, um gesehen zu werden, sie gingen zum Tanzen in die Stadt oder fuhren mit einem kleinen Fährboot über den Pfaffenteich. Dort traf man sich. Hier tummelten sich die jungen Leute und verwickelten sich gegenseitig in Gespräche, während man den Schwänen verträumt hinterher schaute. Manchmal fuhren Wilhelm und Henny, nachdem sie sich kennengelernt hatte, ganze drei Mal über den Pfaffenteich, weil sie so ins Gespräch vertieft waren. Der Teich war nicht sonderlich groß, man könnte auch um ihn herum spazieren, aber das war nichts für Wilhelm mit seinen schweren Armeestiefeln. Er ließ sich lieber chauffieren. Auch wenn es nur vom Fährmann war. Das gab ihnen ein klein wenig das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Es war ein erhebendes Gefühl. Und man konnte seine Angebetete besser im Arm halten. Schließlich waren auch die Männer auf der Suche nach Abwechslung und Liebkosungen. Wenn auch nicht gerade mit noblen Absichten.

Da war er nun: Wilhelm. Er war frech, aufdringlich und doch liebenswert. Er war voller Kraft, Humor und Beschützerinstinkt. Das imponierte ihr. Da Henny Wochen bis Monate allein war, suchte sie das Abenteuer. Frust, Trotz und Neugierde wuchsen in ihr, sie wollte sich auflehnen gegen die Ketten, die ihr durch die Ehe auferlegt waren. Spaß und Freude waren die größte Sehnsucht nach den angsterregenden Erfahrungen, die ihnen die Kriegs- und Nachkriegszeit bescherten. Es kribbelte wieder im Bauch.

Sie war verheiratet, mit ihrem Offizier. Das war schon etwas. Die sogenannten geordneten Verhältnisse konnte sie vorweisen, aber das genügte ihr nicht mehr. Was sollte sie mit einem Mann, der nur auf dem Papier zu ihr gehörte? Mit den Alltagsproblemen blieb sie allein. Wo war die anfängliche Wärme geblieben? Sie war einsam. Diese Ehe bestand nicht mehr, nicht für sie. Wenn sie doch wenigstens ein Kind von ihm gehabt hätte! Ein Wesen, für das sie hätte sorgen, welches sie hätte liebkosen können. Aber auch das wollte einfach nicht klappen. Es passte eben nicht. Sie entfremdeten sich zusehends. Gespräche, gemeinsame Interessen und oder gar Aktivitäten fanden mit ihrem Offizier nicht mehr statt. Keine Ausflüge, Kutschfahrten durch die Natur mit einem Picknick im Wald, wie man es inzwischen in den Kinos sehen konnte. Sie träumte von romantischen Abenden beim Tanz unter dem Sternenhimmel in den Armen eines starken Mannes, der ihr zuhört. Wo war dieser Mann? Ihr Angetrauter nahm sie gar nicht wahr.

Und da war er nun. Wilhelm. Sie fand nach einer enttäuschten Ehe mit einem Offizier ihre neue Liebe zu Wilhelm, dem Soldaten. Trotz oder wegen der Nachkriegswirren. Henny war verliebt. Heimlich trafen sie sich in der Stadt. Ihre Cousine war pikiert. So etwas schickte sich nicht. »Du bist verheiratet!«, sagte sie immer wieder. »Nein! Nur auf dem Papier!«, trotzte Henny. Sie wollte diese Ehe nicht mehr. Was für eine Schande, aber das war ihr egal. Sie brauchte Streicheleinheiten. Aufmerksamkeit. Respekt. Liebe. Bald monierte ihre Cousine nicht mehr, weil sie ebenfalls ihre große Liebe fand und inzwischen Henny besser verstehen konnte. Damit hatte die junge Frau freie Bahn.

Und er war ihr Wilhelm!

Nach dem Abzug der alliierten Truppen sprengte die Sowjetarmee das Munitionslager in Schwerin. Die deutschen Soldaten wurden nach Hause geschickt. Es gab nichts mehr zu bewachen. In Friedenszeiten warteten andere Aufgaben auf die Jugend. Der alte Schmutz und Ballast musste aufgeräumt werden. Man hatte keine Verwendung mehr für sie in Sternbuchholz. Wilhelm fuhr in seine Heimat, zurück in die Börde. Tränen flossen beim Abschiednehmen, aber er versprach ihr, sie nachzuholen ...

HENNY IN DER BÖRDE

Sie war hübsch, schlank, mit braunem schulterlangen Haar. Ja, die Männer drehten sich nach ihr um. Doch sie dachte nur an den einen. Ein halbes Jahr später fuhr sie ihm nach. Sie hatte gewartet, aber er kam nicht, sie zu holen. So nahm sie ein kleines Köfferchen und setzte sich in den Zug. Zuvor schrieb sie ihrem Geliebten. Sie meinte es ernst und fuhr in ihre Zukunft. Die Aufregung war groß. Willi holte sie vom Bahnhof ab und brachte sie in sein Heim. Der Weg führte durch das halbe Dorf. Beide wurden gesehen.

Wen hat Willi denn da mitgebracht? Eine schmucke Dern. Woher kommt sie? Was ist mit unseren Bräuten im Ort, die jahrelang auf die Rückkehrer gewartet haben? Die Hoffnung der Jungfrauen oder besser, der jungen Frauen war groß, als er ledig und gesund zurückkehrte. Und nun das! War alles vergebens? Das Warten umsonst? So ein gutaussehender Mann … schade!

Wieder flossen Tränen.

Vielleicht war sie schwanger, fragte man sich im Ort. Und dann hatte man die Gewissheit. Er musste sie also mitbringen. Und wann wird nun geheiratet? Nach der Scheidung. Na ja, irgendwas ist ja immer. Verheiratet ist sie also auch noch! So eine Verschwendung. Und die ledigen Frauen hier mussten sich mit dem ›vorhandenen Material‹ an Männern zufriedengeben.

Eine verheiratete, schwangere Frau aus Mecklenburg-Vorpommern!

Wie ungerecht doch die Welt ist!

Bei den Frauen aus dem Ort war sie schon mal unten durch, trotzdem wurde sie mit einer überraschenden Freundlichkeit empfangen, sodass sie sich ziemlich schnell heimisch fühlte.

Aber ...

Sie hatte keinen leichten Einstieg bei der Mutter des Geliebten und blieb immer die Unerwünschte. Aber was soll’s? Eine starke Liebe kann doch nichts erschüttern, dachte sie. Sie ward geschieden von ihrem Offizier, gebar im Dezember ihren Sohn Rudolf und heiratete im folgenden Jahr, am 16. Februar 1952, mit 22 Jahren den Soldaten Wilhelm.

Sie war lebenslustig und verliebt. Ihre Wünsche gingen in Erfüllung. Nun hatte sie einen Mann, der für sie da war, und ein Baby. Wilhelm wusste, wie man Frauen verwöhnt. Er war ein Charmeur vor dem Herren. Das Leben kann so schön sein. Im Dorf lebte sie sich durch ihre aufgeschlossene Art schnell ein. Die Männer flirteten mit ihr. Die Frauen fragten sie aus und beäugten sie neidisch. Es war ein ruhiges und friedliches Leben. Einfach schön. Drei Jahre später brachte sie eine Tochter zur Welt. Sie nannte sie Karla. Jetzt schien sie das Glück auf ihrer Seite zu haben. Es war eine Freude. Die Familie war komplett.

Der Kindesvater arbeitete in der LPG. Die Landwirtschaft, das war die einzig mögliche Arbeit in der Börde, die für den inzwischen 29-Jährigen infrage kam. Der Armee hatte er den Rücken gekehrt. Die Soldaten wurden sowieso nicht mehr gebraucht. Somit war er zu Hause in Klein Siehstenicht – bei seiner schönen Frau und seinem Sohn. Und wie stolz war er erst, als er auch noch eine Tochter bekam. »Wir müssen zusammenrücken«, sagte er. Aber liebende Menschen haben auch in der kleinsten Hütte Platz.

Schließlich waren da auch noch seine Eltern. Die freuten sich sicher auch, wenn sie die Kinder umsorgen durften. Kinder bringen Liebe und Wärme ins Heim. So ein kleiner Mensch scheint wie ein großes Wunder. Man musste sie einfach liebhaben.

Bald bekamen sie einen kleinen, verkommenen Wohnraum, den sie sich gemütlich herrichten konnten. Henny hatte schließlich gelernt, wie es geht. Mit einfachen Mitteln dekorierte sie für die Familie ein gemütliches Zuhause. Die Wände wurden getüncht, Stoffe als Tischdecken ausgelegt und Feldblumen für den Tischschmuck gepflückt. Dann noch ein altes Foto an die Wand – und nach und nach entwickelte Henny ihren eigenen Stil. Und für die Sorgen gab es Likör. Ein Allheilmittel gegen Langeweile, Betrübtheit, Ärger und Bauchweh. Das hatte man ihr in diesem Ort beigebracht: »Es ist bekannt von Alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör.« Also musste dieser auch im Hause sein.

Willi übernahm schließlich die Verantwortung eines ehrenamtlichen Dorfpolizisten. Die wurden gesucht von staatlicher Seite. Die Ausbildung in Theorie und Praxis übernahm die provisorische Regierung. Das war eine ungeübte Verwaltung, angeleitet von russischen Soldaten mit willigen Bauern, die etwas ›Besseres‹ werden wollten oder sollten. Sie versuchten, die neuen Gesetze und Verordnungen, die von ›Oben‹ kamen, umzusetzen. So schulte diese Regierung die Bauern zu Hilfspolizisten. Alle waren dabei, weil es offensichtlich alle gestandenen Männer machen mussten. So auch Wilhelm. Schließlich galt es, »die Grenze zu schützen«, wie es hieß. Soldaten durften dort nicht agieren, da die Gefahr bestand, dass zwei Streitmächte aufeinandertreffen und somit Grundlagen für einen neuen Krieg gelegt würden. Das wollte niemand. Also wurde in Berlin die kasernierte Volkspolizei an den Grenzstreifen gestellt und auf dem Land die Volkspolizei mit Unterstützung der Hilfspolizisten – auch um zu verhindern, dass weitere Anwohner flüchteten und auch noch wertvolle Kulturgüter mitgehen ließen. Sie lebten nahe der niedersächsischen Grenze, in der Ostzone, die immer mehr gesichert wurde. Hier galt es besonders, die wenigen noch verbliebenen Wirtschaftsgüter zu sichern. Oft waren es Fachkräfte, die das Weite suchten, sagte man. Warum eigentlich gerade die gebildeten Leute? Was wissen die, was wir nicht wissen, fragten sich die anderen. Warum treibt es sie fort? Wir sind doch die ›Guten‹. Wir wollten den Neuanfang in einer neuen, besseren Gemeinschaft. Eine Gesellschaft errichten, in der es allen Menschen gleichermaßen gut geht.

Die Grenzen nach Westdeutschland waren provisorisch geschlossen. Die politischen Abgrenzungen wurden immer drastischer und nahmen zu. Das Land sollte geschützt und gesichert werden, aber vor wem? Ein neues Feindbild wurde von staatlicher Seite aufgebaut und vermittelt. In der Freizeit betrieben viele Propaganda. Später auch ganz offiziell während der Arbeitszeit. Die Stallarbeit blieb liegen. Die politische und gesellschaftliche Verantwortung wurde im sogenannten Ehrenamt verwirklicht.

Henny und ihre Familie befanden sich in der Ostzone, eine der vier Besatzungszonen, die es nach dem zweiten Weltkrieg gab. Das Gebiet war von den Russen besetzt und die Verwaltung wurde von der sowjetischen Staatsmacht diktiert. In Russland gab es schon den Sozialismus. Hier sollte dieser ebenfalls praktiziert werden – nach dem Vorbild der großen Sowjetunion. Sie nannten sich ›Freunde‹. Jahre später wurden sie ›Brüder‹ genannt, weil man zwar das gleiche Ziel verfolgte, man sich schließlich aber die Freunde aussuchen konnte, aber Brüder nicht. Viele hätten lieber andere Wege eingeschlagen, hatten aber keine Wahl. Sie hatten sich zu beugen. Schließlich waren es die Deutschen, die über die Menschheit großes Unglück, Leid, Elend, Armut und Krankheiten gebracht hatten. Somit hatten sie demütig das letzte Hemd herzugeben und zu tun, was die Siegermächte verlangten. Es bestand eine Diktatur. Nach Karl Marx war es die »Diktatur des Proletariats«. Nach der zunehmenden Auffassung der hier lebenden Bürger war es aber eine Diktatur der Russen über die Ostdeutschen. Über den restlichen Teil Deutschlands befanden die Engländer, Franzosen und Amerikaner. Nur die Deutschen hatten nichts mehr zu sagen.

Im Osten sollte der Sozialismus aufgebaut werden. Eine Staatsform, in der es allen gut gehen sollte. Es war schwer, aus Schutt und Asche Optimismus aufzubauen. Sie sollten etwas Neues, Wunderbares schaffen. Eine Gesellschaft, in der alle gleich sind. Ohne Standesdünkel. Ohne Vorurteile. Jetzt sollten die, die die Arbeit leisteten und die Früchte anbauten, diese auch ernten und verzehren. Ja, da machen alle gern mit, oder? Deshalb entschied auch Wilhelm, eine politische Schulung über sich ergehen zu lassen. Er gehörte dazu und verstand die aktuelle Entwicklung besser. »Was ist denn dabei, alles gemeinsam anzupacken, aufzubauen und zu nutzen?«, sagte er. »Das kann nur richtig sein.«

Im Westen hielt man an dem Konkurrenzkampf fest. Der Kapitalismus blieb erhalten. Der Aufbau ging dort durch die amerikanische Unterstützung viel schneller voran. Der Wohlstand wuchs dort im Vergleich zum Osten drastisch. Trotz Ausbeutung der Arbeiterklasse. Und hier? Hier baute man wohl auf Bescheidenheit und Dankbarkeit.

Hier hieß es: sozialistischer Wettbewerb. Es mangelte an Rohstoffen und materiellen Wirtschaftsgütern. Das, was funktionierte, wurde von den Russen abgebaut und in das gelobte Land geschickt. Man sollte im Osten der Republik aus Scheiße Geld machen. Das Rezept dafür war noch unbekannt. Deshalb wuchs auch der Drang, in den goldenen Westen abzuhauen, um dort ein üppigeres Leben führen zu können. Nach der Zeit des Darbens war jetzt leben angesagt. Dies gelang im Westen besser. Viele junge Menschen wollten sich der Diktatur im Osten nicht fügen. Selbstbestimmt wollten sie ihr Land aufbauen und sich nicht sofort wieder unter einer anderen Knute wissen. Deshalb träumten viele von einem Leben in der Bundesrepublik Deutschland. Die gründete sich nach dem Ausruf des Grundgesetzes der BRD im Mai und ein paar Monate später, im September 1949, mit der Wahl des Bundetages. Vier Monate danach zog die sowjetische Regierung nach und gründete die DDR. Ab dem 7. Oktober 1949 begann man in Deutschland zweisprachig zu sprechen: Westdeutsch und sozialistisches Deutsch. Der Traum von der Wiedervereinigung war ausgeträumt und der Bau der bereits auf dem Papier gezogenen Grenze begann – erst mit Zäunen, Mauern, Gräben, dann mit Stacheldraht, Minenfeldern und auch Selbstschussanlagen.

Um die Flucht einzugrenzen und letztlich auch zu beenden, brauchte man Helfer der Volkspolizei, die mit einschreiten sollten, wenn Republikflüchtige unterwegs waren. Die Grenzen wurden allmählich sicher geschlossen. Neben dem herkömmlichen Stacheldraht wurden bewaffnete Posten aufgestellt, sogar mit abgerichteten Wachhunden und zum Teil eben auch mit mörderischen Selbstschussanlagen, die gegen die eigene Bevölkerung gerichtet waren. Aber Genaues wussten die Grenzschützer nicht. Alles das war geheime Verschlusssache.

Die ausgebildeten ehrenamtlichen Polizisten nannte man hinter vorgehaltener Hand die »Hilfsscheriffs«. Wilhelm war einer von ihnen. Das machte nicht nur die Männer, sondern auch deren Frauen stolz. Sie wurden zu einer Gemeinschaft. Zusammenarbeit wurde großgeschrieben. »Gemeinsam sind wir stark!«, lautete die Parole. Gegenseitige Hilfe wurde selbstverständlich. Keiner blieb mit seinen Sorgen allein. Allerdings wachsen in so einer Gemeinschaft auch das Misstrauen und die Zweifel. Leider! Man erfuhr aber erst Jahre später, dass Menschen bei einer geheimen Mission die eigenen Freunde und Nachbarn ausspionierten und an die Staatssicherheit verrieten, um sich selbst ein paar Mark dazuzuverdienen und einen Posten zu sichern.

Dafür erhielten sie Geld? Um ihre Mitmenschen zu verraten? Sogar vor Provokationen schreckten diese Mitmenschen nicht zurück. Sie provozierten ein brisantes Thema am Kneipentisch, und am nächsten Tag war der ehrliche Nachbar nicht mehr zu erreichen. Allein eine unbestimmte Aussage wie: »Ich haue ab!«, brachte die Stasi später auf den Plan.

Es war nicht zu verstehen, nur verwunderlich, wieso die Stasi immer so gut informiert war, trotz der spärlich vorhandenen Technik. Heute wissen wir es. Nicht die Menschen mit einer anderen Meinung waren Verbrecher, sondern die Spitzel der Stasi. Das war Verrat an der Menschlichkeit. Auch in unserer Familie gab es so einen Verräter. Ein junger Mann, dem ich vertraute. Ein Mensch, der durch seinen Fleiß und seine Weltoffenheit meinen Respekt und meine Bewunderung hatte. Davon ist heute nichts mehr übrig.

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