Du hoffst, und ich gehe

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Du hoffst, und ich gehe
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Fritz Leverenz

Du hoffst, und ich gehe

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das geschminkte Haus

Der lange Weg nach Tipperary

Dorles Ausgang

Eine beiläufige Bemerkung

Das Forellenquintett

Frischer Schnee, und sonst nichts

Du hoffst, und ich gehe

Warten

Alaska-Highway

Bei uns zum gleichen Thema als eBook erschienen

Impressum neobooks

Das geschminkte Haus

Eine alte Frau lehnte auf dem Fensterbrett und sah auf die Straße wie in einem Film, dem sie keine glückliche Wendung mehr zutraute. Jonas erkannte das graue Eckhaus mit den weißen wie mit dem Lidstrich gemalten Fenstern an der Sehnsucht, die noch immer an ihnen hafteten. Von innen hatte er voller unterschiedlicher Empfindungen in den Sommer gesehen. Und da, am frischen Rauputz, entdeckte er, ähnlich einer überpuderten Narbe, den Umriss des vermauerten Eingangs. Er hörte die Straßenbahn nahe der Spree an den Kabelwerken. Kürzlich hatte die Queen sie von der Wasserseite her besucht und ein wenig Hoffnung auf Beschäftigung gebracht.

Damals wollte er zum dreiundsiebzigsten Geburtstag seiner Tante Loni nach Köln fahren. Zum ersten Mal hatte er es gewagt, einen 'Reiseantrag' zu stellen. Obwohl er die Entscheidung erst gegen zwölf Uhr vom Polizeirevier abholen sollte, hatte er bereits um Halbsechs, ohne auf Helga zu warten, hastig gefrühstückt. Als bald darauf Helga frühstückte, setzte er sich zu ihr, trank zwei Tassen Kaffee, bemüht, die fantastische Möglichkeit der folgenden Tage durch ein Gespräch über seinen Enkel, zu überspielen. Dann begleitete er Helga zur Straßenbahn und eilte zurück in die Wohnung. In den restlichen Wartestunden der fünf Wochen schlug ihm seine Nervosität auf den Magen. Mehrmals lief er zur Toilette. Gegen zehn Uhr schließlich trieb ihn die Ungewissheit aus dem Haus. Die Wärme stand in Säulen zwischen den Häusern. Es roch nach warmem Asphalt und nach Abgasen. Der Straßenverkehr lärmte blechern, und Jonas schmeckte Staub auf der Zunge. Erst im Park vor dem VP-Revier atmete er durch. Die Nachrichten versprachen gleichbleibendes Wetter. Doch, abgesehen von touristischen Spaziergängen in den Städten (falls ihn das unendliche Glück träfe), würde er bloß wandern, um an Autorastplätze zu gelangen. Um sich nicht in Vorfreude zu verlieren, versuchte er sich abzulenken. Er war nicht abergläubisch, doch ahnte er Macht und Intrigen der Entscheidungsbürokratie. Sie flößten ihm Respekt vor gewissen Sprichwörtern ein. Erträglicher, er rechnete mit Ablehnung. Insgeheim, hinter aller Skepsis, aber erwartete er fest eine Zusage. Vor einer Rabatte mit Studentenblumen setzte er sich auf eine Bank und rauchte. Fand aber nicht die Ruhe, sich zurückzulehnen, warf die angerauchte Zigarette fort und ging weiter.

Er kam siebzig Minuten verfrüht. Aus dem schwarzen Kästchen vor dem Schalter des Wachhabenden nahm er ein Nummernzettelchen, steckte seinen Personalausweis durch den Türschlitz des 'Entscheidungsabholungszimmers', an dem neuerdings verharmlosend 'E-Zimmer' zu lesen stand und setzte sich in den Warteraum nahe der Tür. Beim Anblick der Leute, die schweigend oder flüsternd auf Stahlrohrstühlen ringsum an den Wänden saßen, fühlte er sich zornig, klein und wehrlos. Die Jacke legte er über seine Beine. Mit einem Papiertaschentuch betupfte er sein schweißiges Gesicht. Der graue Lautsprecherkasten über ihm unterbrach, von Zeit zu Zeit einen Namen krächzend, die Stille. Er fühlte sich von ihm beobachtet.

Im E-Zimmer saß er dann um Selbstsicherheit bemüht einem steif wirkenden jungen Polizeileutnant gegenüber. Der hielt quälend lange einen aufgeklappten Personalausweis in der Hand und fächelte damit wie abwägend seinen Daumen. Er trug eine bügelfrische Uniform und roch wie eine Pfefferminzstaude. Auf der Schreibunterlage vor ihm lag ein blitzblauer Pass. Jonas blickte enttäuscht durch das halb offene Fenster auf die helle Straße. Gäbe ihm dieser Esel den Ausweis zurück, hieße das: Reise abgelehnt. Er hatte sich wohl doch zu sehr gefreut. Wozu aber sollte der Leutnant mit ihm spielen, wenn sie nicht genehmigt worden war? So durchtrieben sah er nicht aus.

"Danke", sagte er deshalb mit gespielter Zurückhaltung. Er konnte es sich nicht verkneifen.

"Wieso danke?" fragte der Leutnant verblüfft und hielt mit dem Fächeln inne. "Wofür?"

"Für die positive Entscheidung."

Der Leutnant hüstelte. Legte mit enttäuschtem Gesicht den Ausweis zur Seite, nahm den Pass, schlug ihn auf, blätterte umständlich darin, blickte auf einen Hundekalender, der seinen halben Tisch belegte, sagte in stereotypem Tonfall: "Herr Nöltes, ihrem Reiseantrag wurde stattgegeben" und reichte Jonas, ohne den Blick zu heben, den Pass mit großmütiger Geste. Jonas bedankte sich gegen seinen Willen überfreundlich. "Ich bekomme von ihnen fünf Mark." Der Leutnant pulte, eine Pfefferminzpastille aus einer Rolle und steckte sie in den Mund. Jonas kramte fahrig in seiner Brieftasche und zahlte. Lässig wollte er den Pass in seine Tasche stecken, verfehlte sie mehrmals, musste, seiner Hand Ruhe verordnend, vor dem Schreibtisch verharren. Und mit einem beinahe fröhlichen ein schönes Wochenende verabschiedete er sich. Draußen biss er sich für diese unbeherrschten Momente auf die Lippen. Benommen, als wäre er unvorhergesehen von einer schweren Krankheit genesen, eilte er durch den Park. In den Wochen zuvor hatte er sich vergeblich bemüht, seinen Reisewunsch als das zu betrachten, was es war: eine Möglichkeit, die er durchträumen durfte wie einen fantastischen Reisebericht, wie die von Westbesuchern großzügig überlassenen Landkarten, Stadtpläne und bunten Reisekataloge von Europa. Nichts weiter. Nun dachte er nur einen Gedanken: Raus! Die wichtigsten Sachen gepackt und raus aus dem Käfig. Unbezwingbare Sehnsucht nach Ferne ergriff ihn. Nie, nie zurück! sagte er sich. Den Zellentürschlüssel nicht freiwillig zurückbringen! Endlich, endlich! Nach wie vielen Jahren eigentlich? Nach vierundzwanzig?! - Raus! Westgeld von der Sparkasse. Koffer. Rucksack. Wichtigste Kleidung, und los! Und - die wichtigsten Papiere! Wo verstecken? Am Körper? Im Rucksack? Mit der Post senden? Gleichgültig. Dieses Visum! Alles Weitere ergäbe sich. Seine persönlichen Dinge holte er nach. Auch Helga, Sybille und den Kleinen. Schritt für Schritt, den seine Gedanken vorausgeflohen waren, aber besänftigten sie ihn. Sie waren es gewohnt, sich mit Ausbrüchen in Fantasieweiten zu begnügen.

Aus der Telefonzelle an der Post rief er Helga an. Käme sie vom Fleischstand weg? Sie hatte ihn gebeten, sie sofort nach dem "Entscheid" zu informieren. Die Ungewissheit der letzten Wochen schien sie noch stärker zu belasten als ihn. Sie hatte wieder auffällig zu räuspern begonnen, klagte über Schluckbeschwerden, über Enge im Brustkorb. Wie damals, als seine Scheidung sich monatelang hingezogen hatte. Erst meldete sich Paulicke, der Bereichsleiter Fleisch und Wurst. Kurz darauf Helgas "Ja, bitte?" Seit sie sich einredete, der Staatsicherheitsdienst würde ihre Gespräche abhören, konnte er sie nicht dazu überreden, sich mit Namen zu melden.

"Hier auch: Ja, bitte", rief er leise und wartete einen Moment der Spannung ab. Er stellte sich vor, wie er sie aus ihren Kurzgesprächen mit Kunden gerissen hatte, wie sie den Hörer mit zwei Fingern hielt, weil sie ihre fettigen Hände nicht so rasch hatte abwischen können und wie gern sie nach Köln mitgefahren wäre.

"Na, und?" fragte sie vorsichtig. Jonas hörte sie sich mehrmals räuspern. Sie kannte seine Niedergeschlagenheit. Er brauchte Wochen, um die Enttäuschung halbwegs zu überwinden.

"Genehmigt", sagte er gelassen, konnte aber nicht verhindern, dass es fröhlich klang. Er fühlte sich einfach unglaublich. Er hörte Helga durchatmen.

"Ich war mir sicher, sie würden dich fahren lassen." Und erleichtert: "Ich bring Gehacktes mit und brate dir Bouletten für die Fahrt ..."

"Nein", sagte er erschrocken, "ich nehme schon den Zug um siebzehnuhrzwanzig."

"Deine Wäsche ... Auf drei, vier Stunden kommt es nun auch nicht an."

"Auf jede Minute." Und dann entschuldigend: "Ich kann nicht warten. Meine Wäsche werde ich schon finden." Die Luft wurde stickig. Ihm schien plötzlich, als berechnete man ihm für jede Sekunde in der Telefonzelle tausend Prozent Zinsen von den sieben Tagen. "Tschüss", sagte er, "ich melde mich aus Köln." Und bei dem Wort Köln fühlte er sich bereits Wochen von Helga entfernt. Für einen Moment öffnete er die Tür, steckte, auf ein Lüftchen hoffend, seinen Kopf in die Sommerglut. Danach rief er Sibylle im Sekretariat des Krankenhauses an.

"Ich kann morgen nicht mitkommen", sagte er. "Macht euch einen schönen Tag."

 

"Es hat also geklappt?!"

"Ja."

"Schön", sagte sie leise und nach einer Pause: "Gratuliere!" Aus ihrer Stimme hörte er Sehnsucht und Resignation.

"Ich werde euch aus jeder Stadt eine Ansicht schicken - und fotografieren. In einigen Jahren ... Du bist ja noch jung ... Du wirst nicht so lange auf freies Reisen warten müssen wie ich."

"Papa", sagte sie leise, "ich warte schon dreimal so lange." Anschließend rief er seine Arbeitsstelle an. Klemke und Lobisch. Sie betreuten die Kabelautomaten in der Halle II. Mit ihnen wollte er am Abend zum Kegeln. Für den Fall, dass sein 'Spaziergang auf der anderen Seite des Baches' abgelehnt würde. Um nicht in Depressionen zu verharren.

Wieder auf der Straße musste er sich dazu zwingen, seine Gedanken zu ordnen. Die Blätter der Pappeln hingen reglos wie in Sirup. Einige Jungen mit Badehosen um den Hals gingen vorüber und schlugen sich übermütig mit Handtüchern. Jonas schien, er hätte sich vor Jahrzehnten verpuppt wie ein Insekt, ohne je auszuschlüpfen. Und nun irritierte ihn diese kindliche Hast, die ihn trieb, die stolpernde Eile, die kleinliche Furcht, mit jeder Verzögerung seiner Abfahrt, längst Vergangenes zu versäumen. Er spielte mit dem Gedanken, sich ins Café Jacqueline nahe der Straßenbahnhaltestelle zu setzen und gemütlich diesen stillen Triumph über die Entscheidungsmafia auszukosten, bei einer Tasse Cappuccino lässig ungezwungen eine Zigarre zu rauchen, als wäre er nun tatsächlich erwachsen. Doch die Straßenbahn kam, und er stieg ein. Als sie rumpelnd in die Edisonstraße einbog und ihn gegen einen Haltegriff warf, sah er angstvoll auf die Uhr. Seit er das Polizeirevier verlassen hatte, waren bereits zweiundzwanzig Minuten vergangen. Das Visum galt ab Mitternacht. Ab Mitternacht in Helmstedt. Zur vorgesehenen Abfahrtszeit stünde er bereits auf dem Hauptbahnhof Köln, seiner Zeitplanung acht Stunden voraus. Einmal um den Dom herumtippeln, sich den Hals verrenken, sozusagen der Größe des Augenblicks angepasst, sich auf einer Parkbank sammeln, mit einem Taxi zu Tante Loni und Onkel Walter (Tante Loni bestand darauf, ihm das Taxigeld zu spendieren), Küsschen, Umarmungen, Geschenke überreichen, die Helga vorbereitet hatte: Häkeldeckchen, selbstgekochte Konfitüre aus selbstgeernteten Stachelbeeren, 'Märchen und Sagen aus den Beskiden'. Tante Loni stammte aus Oberschlesien. Er kannte sie nur durch ihre gelegentlichen Besuche. Doch nun, Gott schütze ihre Gesundheit und bessere die Reiseregelung nach, stand sie ihm näher als je zuvor. Einen Cousin seiner Mutter, den er als Onkel hatte vermerken lassen, besaß erst in acht Jahren das geforderte Besuchsalter. Und seine List, einen Kriegskameraden seines Vaters als dessen Stiefbruder auszugeben, hatte eine hartnäckige Befragerin bei einem Gespräch mit Helga durchschaut und aus seiner Reiseakte gestrichen. Nach ausgiebiger Erfrischung und kurzem Schlaf würde er sich von Tante und Onkel verabschieden, nicht ohne zu versprechen, am Tag seiner Rückfahrt zu einer “winzigen Nachfeier“ einzutreffen. Sie sollten ihn verstehen: Es läge ihm viel an dem Geburtstag, doch müsse er seinen Ausgang in die Freiheit nutzen, um sich umzusehen. Das Wörtchen Freiheit musste ihnen doch etwas bedeuten.

Zum ungezählten Mal stellte Jonas sich vor, wie die sieben Tage für ihn ablaufen könnten. Am ersten Tag, also morgen, sofort zur Kölner Polizei, einen Bundespass beschaffen, den DDR-Pass hinterlegen, zum Sozialamt, das Begrüßungsgeld abfassen (Schön wär’s, Tante und Onkel erinnerten sich daran, dass ihre Währung in seinem Lebensbereich nicht selbstverständlich war), zurück zu ihnen und den Rucksack gegriffen. Darin das Nötigste für eine Tramperwoche: Regenplane, Parker, zwei Handtücher, zwei Paar Socken, Badehose, Taschentücher, Zahnbürste, Seife, Vitaminbonbon, ein Plastbecher, Besteck und zwei Kilogramm Müsli als eiserne Reserve. Noch am Nachmittag würde er sich zu einer der Tankstellen an die Auffahrt zur Europastraße 41 begeben. Winkzettel, die er sich auf die Brust heftete, für die Hauptrichtungen, lagen als Lesezeichen getarnt bereits in mehreren Stadtführern, die er mitnahm. Und dann ginge die Post ab: Die Tramperroute über Holland, Belgien, Frankreich, München und zurück nach Köln hatte er akribisch vorbereitet.

Am S-Bahnhof Schöneweide stieg Jonas aus. Zwischen Imbisskiosk, Losbude und fliegenden Händlern vor Wassereimern mit Margeriten, Studentenblumen und Nelken oder vor Horden mit jungen Möhren, schritt er durch den Fußgängertunnel zur Volksbank. Gegen Vorlage seines Visums tauschte er eins zu eins Mark gegen D-Mark. Die Kassiererin zählte ihm mit großzügiger Geste drei Fünfmarkscheine hin und wünschte kühl eine schöne Reise.

"Danke", sagte Jonas. "Ich bin mir unschlüssig, ob ich mich drüben als Bettler durchschlage oder als Hungerkünstler. Ich werde wohl den Hungerkünstler vorziehen." Dann fuhr er nach Friedrichstraße. Dort stellte er sich an den Fahrkartenschalter 'Für Reisende in die BRD und in das nichtsozialistische Ausland'. Wenige Schritte entfernt, an einer rot-weißen Stahlrohrbegrenzung, lehnten Wartende wie an der Reling eines im Museum vertäuten Schiffes. Einige hielten Blumensträuße. Sie starrten auf die aluminiumverkleidete graue Tür wie auf die silberne Linie am Horizont. Hin und wieder stieß sie ein, Taschen und Koffer schleppender, Westrückkehrer mit dem Fuß auf, worauf sie sich mit dumpfem Krachen hinter ihm schloss. Meist kamen ältere Frauen, Männer seltener. Von den Treppen her, die zu den Toiletten hinunterführten, stach Salmiakgeruch in die Nase. Zwei breithüftige Bahnpolizisten, die Hände hinter dem Rücken, schlenderten im Gleichschritt zwischen den Wartenden auf und ab, sie mit dienstlich-misstrauischen Blicken streifend.

Zurück in der Wohnung, auf dem schmalen Flur, hielt Jonas inne, bis ihm vertraute Details signalisierten, er träume nicht: Der Geruch frischen Holzes vom Schuhschrank, den er kürzlich gewerkelt hatte, das Frühstücksgeschirr, das er unabgewaschen auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, Helgas Nachthemd über der Außenklinke der Schlafzimmertür, sein Pyjama auf der Innenklinke. Wieder spürte er, wie die Hast über ihn herfiel, ihn alle Augenblicke auf die Uhr sehen ließ. In spätestens zwei Stunden musste er gehen. Er setzte den Teekessel auf den Gasherd, verplemperte Wasser, nahm den Pass mit dem Westgeld und der Fahrkarte aus der Jackentasche legte beides in die Glasschale auf dem Wohnzimmertisch. Daneben lag die ausgebreitete Karte von Mitteleuropa. Dann zerrte er Rucksack und Reisetasche zwischen Schlitten und Skier vom Hängeboden (jetzt konnte kein Sprichwort mehr dazwischenfunken), staubte sie über der Balkonbrüstung ab, stellte beide ins Wohnzimmer, ging in die Küche, goss sich einen Henkeltopf voll Kaffee auf, eilte ins Zimmer, trank einen Schluck, verbrühte sich die Lippen, stellte den Topf auf die Karte, verschüttete Kaffee über Schleswig-Holstein, tupfte ihn mit einem Zellstofftaschentuch, öffnete die Türen der Anrichte und hockte sich vor seine Wäsche. Seine Gedanken aber tummelten sich, unfähig für sachliche Arbeit, bereits an der Grenzkontrolle und an Straßenrändern Westeuropas. Er erhob sich, trank, verschüttete wieder eine Lache, diesmal über Südfrankreich, tupfte mit dem Taschentuch, hockte sich vor die Anrichte. Um sich herum stapelte er mehrere Wäschehäufchen. Legte zurück, stapelte hinzu, packte ein, fühlte sich gehetzt. Er trank vom Kaffee, stellte die Tasse behutsam ab, öffnete das Fenster, ließ Wärme und Lärm herein, suchte im Schreibfach der Schrankwand seine Checkliste, mit der er sich auf längere Wanderungen vorbereitete, fand sie nicht. Zwar war er trainiert und nicht zu sehr verweichlicht, doch nicht mehr der Jüngste.

Schließlich setzte er sich wieder. Er kannte sich. Er brauchte einen Moment des Innehaltens. Er strich die Tischdecke glatt und folgte auf der Karte mit der Bleistiftspitze seiner vorzeichneten Route, die einem lang gestreckten verbogenen Dreieck glich. Auf seinem Kartenweg begegneten ihm seit Wochen bekannte Zeichen, Begriffe und Namen von Städten und Landschaften, Raststätten mit und ohne Übernachtung, Anschlussstellen, der Rhein, Bundestrasse 8, Europastraße 36, Antwerpen, Brüssel, Paris. Bei Paris verlor er den Schwung, verharrte mit dem Bleistift. Geradezu erheiternd, wie das Visum im Pass ihn dazu brachte, Hals über Kopf seinen Alltag in Stich zu lassen, Freunde, Helga, Sibylle, sogar den Kleinen. Falls das Leben und der staatliche Großmut mitspielten, durfte er den Antrag in fünf Jahren und dann jedes folgende Jahr wiederholen. Und er, kaum den Pass in Händen, lief wie aufgezogen, um keine Sekunde von den sieben Tagen Frist zu verlieren. Lächerlich und beschämend, wie er an der Leine hing und sich abstrampelte. Wie sehr hatte sein Empfinden für den Wert der eigenen Würde in den Mauerjahren gelitten. Er grapschte nach dem Siebentagealmosen, nach dessen Aufzehrung er sich schlechter fühlen würde als zuvor. Gesünder, er führe nicht. Sich überwinden und die Betteltage zurückzahlen.

Er stellte sich vor, wie er die Wäsche zurück stapelte, auf die Uhr sah. Halbsieben.

"Was ist mit dir?" fragt Helga, die eben nach Hause kommt. "Du wolltest bereits gefahren sein."

"Nichts. Ich lege die Wäsche zurück." Sie steht verblüfft. Er faltet die Mitteleuropakarte zusammen, nimmt den Pass aus der Glasschale. Das Geld und die Fahrkarte steckt er in seine Umhängetasche, zieht seine Turnschuhe an, winkt Helga, die stirnrunzelnd in der Küchentür steht und sagt: "Stelle bitte zwei Flaschen Bier kalt." Da er nicht weiß, ob das Polizeirevier bereits um sieben oder erst um halb acht schließt, fährt er eine Station mit der Straßenbahn. Noch immer steht die Wärme zwischen den Häusern. Im Warteraum sitzen zwei oder drei Leute. Er geht vorüber, klopft an die Tür mit dem zynisch-verharmlosenden E-Schild. Da niemand antwortet, drückt er die Klinke und tritt ein. Der junge Leutnant ist eben dabei, Pässe, Personalausweise und Zettel auf seinem Schreibtisch zu ordnen. Er hebt nur kurz den Blick und sagt lustlos: "Stecken Sie Pass oder Personalausweis von außen durch den Türschlitz und setzen Sie sich bitte in den Warteraum."

"Danke", sagt Jonas ihn unterbrechend, "ich bin gekommen, um meinen Ausweis zu holen."

"Den Personalausweis erhalten Sie im Revier einsnullsieben, in der Hämmerleinstraße", sagt der Leutnant nüchtern, als trüge er keine Verantwortung an diesem jämmerlichen Reiserevier. Stutzt dann, sieht hoch und fragt: "Waren Sie nicht vorhin erst hier?"oder "Wieso heute?"

"Na, wie das Schicksal so spielt", antwortet er, oder: "Weil es zeitiger nicht ging." Er greift in seine Tasche und reicht seinen Pass über den Tisch. Der Leutnant nimmt ihn mit kaum verhohlener Langeweile, gähnt, blättert, blickt, beim Visumstempel angelangt, fragend auf: "Stimmt etwas nicht, Herr Nöltes?"

"Genaugenommen, stimmt Vieles nicht", antwortet er mehrdeutig. Der Polizist blättert, diesmal sichtlich verstört, wiederum im Pass. "Stimmt das Datum nicht?" Blickt neben sich auf den Hundekalender. "Heute haben wir den acht - zehnten Ju - lei." Er spricht das Datum gedehnt, als müsste er es auswendig lernen, und vergleicht es mehrmals mit dem Visum. "Muss der Pass verlängert werden?" Er wird ungeduldig. "Ist eine Seite beschädigt oder herausgerissen? Steht ein unpassender Grenzübergang im Visum? Sie müssen schon sagen, was Sie wollen." Ich habe ihn aus seiner überlegenen Ruhe aufgestört, denkt Jonas, wenigstens das.

"Bitte", sagt er und legt Spannungspausen ein, "ich verzichte. - Nach eingehender Prüfung der gegebenen Umstände habe ich mich entschieden, - Ihrer großzügigen Geste, mich, jedoch ohne meine Frau, zu meiner Tante reisen zu lassen, nicht stattzugeben."

"Ach, so. - Na, schön", sagt der Polizist mit leiser Drohung, "das war’s dann, Herr Nöltes", streicht kurz mit einem Kugelschreiber das Visum, stempelt einen fetten Text darüber und reicht Pass und Ausweis über den Tisch. "Jeder weitere Antrag von Ihnen erübrigt sich künftig. Auf Wiedersehen."

Man müsste die Kraft dazu aufbringen, ihnen den lausigen Knochen zurückzuwerfen. Man müsste ... Ich müsste ... Jonas nahm die Kaffeetasse und nippte daran. Der Kaffee schmeckte lauwarm und abgestanden. Mit der freien Hand schob er ... die Bleistiftspitze auf der Karte weiter: zurück auf der E 11, Nancy ... Stuttgart ... München ... Salzburg ... Wien; zurück auf der E 5, Regensburg ...

(Veröffentlicht in 'East Side Stories', Holzheimer Verlag Hamburg, 2006)