Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Porträt

Text
Aus der Reihe: marixwissen
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Nominalisten

Johannes Buridanus

(* um 1300 Béthune [Artuis], † nach 1358 Paris)

Nicole Oresme (Nicolaus von Oresme)

(* 1320/25 in der Diözese Bayeux [Normandie],

† 1382 Lisieux)

Weil ihre Inhalte christlichen Glaubenssätzen widersprachen, war erstmals 1210 auf der Pariser Synode das öffentliche und private Lesen aller naturphilosophischen Schriften des Aristoteles und der Kommentare unter Androhung der Exkommunikation verboten worden. 1215 hatte die Pariser Universität dieses Verbot in ihre Statuten aufgenommen; 1245 war es von Papst Innozenz IV. namentlich auf die 1229 gegründete Universität Toulouse ausgedehnt worden, die gerade mit Aristoteles-Unterricht um die Studierenden geworben hatte; 1231 hatte aber bereits Papst Gregor IX. eine Kommission einberufen, um die dem Universitätsunterricht (in der Logik ja seit langem) zugrunde gelegten aristotelischen Schriften in christlichem Sinne zu revidieren. – Albertus Magnus sollte sich dieses davon unabhängig zur Lebensaufgabe machen und durch eine christliche Umformung von Grundideen des Aristoteles in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts den sogenannten Christlichen Aristotelismus schaffen, auf dessen Basis er mit eigens dazu erstellten Übersetzungen und Lücken ergänzenden Schriften vor allem aus dem Bereich der Naturkunde (Botanik, Alchemie) die für die Folgezeit maßgebliche ›Aristoteles-Enzyklopädie‹ erstellte. – 1255 war dann zwar das Verbot, das für England nie gegolten hatte und selbst in Paris immer offener umgangen wurde, aufgehoben worden, doch waren inzwischen auch die Schriften des Averroës bekannt und eingeführt worden, mit Hilfe der darin vertretenen These der ›doppelten Wahrheit‹ die Magistri der Artistenfakultät christlichen Glaubenssätzen widersprechende Lehren des Aristoteles zu rechtfertigen vermochten. Auf päpstliche Intervention hin verbat daraufhin der auch für die Universität verantwortliche Bischof Tempier von Paris 1270, über einzelne Sätze des Averroës zu lehren, was 1277 auf insgesamt 219 das Naturgeschehen determinierende oder Bibelaussagen direkt widersprechende Lehren von Aristoteles, Averroës und dem Albertus-Schüler Thomas von Aquino ausgedehnt wurde und nach und nach für ganz Europa nördlich der Alpen galt. Diese Form, Widersprüche zwischen Vernunft (Wissen) und Glauben durch Verbot zu lösen, war natürlich unbefriedigend, mündete aber schließlich in den philosophischen Empirismus und Nominalismus, die im 14. Jahrhunderts als Reaktion gegen den an Aristoteles orientierten Realismus von Albertus Magnus und Thomas von Aquino und den Averroismus erneuert wurden und denen der Franziskaner Wilhelm von Ockham, der allein einen inneren Widerspruch ausschloss, zum Durchbruch verhalf. Daraufhin waren die Verbote nicht mehr nötig, zumal die Theologie mit philosophischen Mitteln hatte aufzeigen können, wie sinnlos es sei, die Existenz Gottes und seine Eigenschaften und Absichten logisch beweisen zu wollen. Eben diese Verbote hatten aber bewirkt, dass die Überzeugung von der jeglichem Determinismus widersprechenden Allmacht Gottes als spezifisch theologisches Axiom der Naturwissenschaft bis tief in die Neuzeit erhalten blieb.

Wichtigste Grundlage des erneuerten Nominalismus ist die Annahme, dass nur das Einzelne als real gilt, das Allgemeine aber als bloßer Begriff des denkenden Geistes. Wegen der alleinigen Realität beruht aber jegliche Erkenntnis des Einzelnen auf Intuition und lässt sich nicht a priori ableiten. Gott sei allerdings nicht intuitiv erkennbar, sondern durch einen Begriff, dessen Elemente von den Dingen der Schöpfung abstrahiert wurden, so dass daraus nicht seine Existenz folge. Die üblichen Gottesbeweise a priori werden deshalb durch Bezweifeln der aristotelischen Voraussetzungen bekämpft; ein Beweis Gottes könne nur a posteriori erfolgen und wäre daraufhin auch nicht zwingend. Theologische Sätze und Dogmen werden folglich als bloße unbeweisbare Glaubensartikel deklariert – und das musste natürlich Reaktionen seitens der noch anders fundamentierten Theologie nach sich ziehen, hatte aber auch Konsequenzen für die Naturphilosophie, insofern der das Einzelne erfassenden Wahrnehmung größeres Gewicht zugeschrieben wurde, und die Frage nach dem Allgemeinen (dem ›Wesen‹ der Dinge) zurücktrat hinter die nach dem bloßen ›wie‹ des Geschehens und die apriorischen Grundprinzipien des Aristoteles als solche in Frage gestellt wurden: Die Ursachenkette kann unendlich sein, Gott braucht nicht die erste Ursache zu sein / nicht jede Bewegung bedarf eines Bewegers / Gottes Einheit und Unendlichkeit ist nicht nachweisbar / eine Mehrheit von Welten verschiedener Urheber ist denkbar usw.

Diese nominalistische Skepsis, welche die vertrauten aristotelischen Grundsätze auch der Theologie als in der Tat ›fragwürdig‹ bloßlegte, eröffnete allerdings der Naturerkenntnis ganz neue Wege. Diese wurden zwar vorerst rein spekulativ als Diskussion verschiedener Möglichkeiten beschritten, wurden dann aber teilweise im 16. und 17. Jahrhundert als der Realität entsprechende erkannt oder gesetzt und führten so zur Überwindung des Weltbildes und der Naturwissenschaft des Aristoteles. Ansätze in dieser Richtung bei Wilhelm von Ockham wurden besonders an der Universität Paris weiter gebildet. Stieß hier jedoch die theologische Ausrichtung des Ockhamismus auf harte Kritik seitens der Kurie, so blieben die vorwiegend naturphilosophisch orientierten Anhänger unbehelligt. Unter ihnen ragte neben Nicole Oresme besonders Johannes Buridanus hervor.

Johannes Buridanus war angesehener Lehrer und mehrmals Rektor der Pariser Universität, in deren Kollegium von Navarra auch Nicole Oresme 1348 zum Studium der Theologie eintrat. Nach Erwerb des Doktortitels wurde Oresme 1356 Großmeister des Kollegiums, welches Amt er bis 1362 bekleidete; er scheint seine Lehrtätigkeit darüber hinaus auch nach der Übertragung verschiedener kirchlicher Ämter weiter ausgeübt zu haben, bevor er 1377 zum Bischof von Lisieux gewählt wurde und im Herbst 1380 dorthin übersiedelte. Die große Wirkung, die Oresme mit seinem naturphilosophischen Nominalismus ockhamistischer Prägung in Paris, meist im Zusammenhang mit Kommentaren zu Schriften des Aristoteles, entfalten konnte, hing sicherlich zum Teil auch damit zusammen, dass er seine wichtigsten Schriften nicht nur in der damaligen Gelehrtensprache des Lateinischen abfasste, sondern auf Befehl des Königs erstmals auch in seine Landessprache übertrug. Durch die Prägung einer großen Anzahl neuer Ausdrücke legte er so den Grundstein für den wissenschaftlichen Wortschatz des Französischen.

In verstärktem Maße beschränkten Buridanus und Oresme sich in der Naturphilosophie auf die Frage nach dem ›wie‹ eines Vorganges. Hierzu entwickelte Oresme unter dem Einfluss platonischer Ideen eine geometrisch-graphische Methode zur Fixierung aller Arten von Veränderungen in Abhängigkeit von der Zeit. In seiner mehrteiligen Abhandlung ›De difformitate qualitatum‹, auch ›De latitudinibus formarum‹ (›Breite der Formen‹, Eigenschaften) genannt, stellte er diese erste graphische Darstellungsweise von Bewegungen und Veränderungen dar, eine Art Koordinatensystem mit der Zeit als ›Länge‹ und dem jeweiligen Grad oder der ›Intensität‹ einer Eigenschaft oder Bewegung (Wärme, Geschwindigkeit, aber auch Frömmigkeit und ähnliches) als ›Breite‹. Er weitet damit den Anwendungsbereich einer aus der Astronomie und Geographie seit der Antike gebräuchlichen punktuellen Bestimmungsmethode auf Prozesse qualitativer, quantitativer und kinematischer Veränderungen aus und führt den späteren Begriff der Funktion ein, der heute wieder eine ähnlich breite Anwendung über Mathematik und Physik hinaus wie bei Oresme erfahren hat. Nur ein Fall unter anderen war für ihn die Anwendung dieser Vorform der analytischen Geometrie René Descartes’ auch auf die gleichförmig ungleichförmige, das ist die gleichförmig beschleunigte Fallbewegung. Damit wurde er zum Wegbereiter der Entdeckung des Fallgesetzes durch Galileo Galilei, indem er aufzeigte, dass das die Bewegung nach dieser Methode graphisch wiedergebende Dreieck in ein gleichgroßes Rechteck verwandelt werden kann, das die mittlere Geschwindigkeit über denselben Zeitraum bestimmt. Für die Entwicklung der abendländischen Physik bestand seine Bedeutung daneben im wesentlichen in der Übernahme und Ausweitung der Impetustheorie von Johannes Buridanus.

Um Fall- und Wurfbewegung nach Aristoteles im Sinne von Gottes Allmacht christlich umformen zu können, hatte letzterer den Bewegungsantrieb der Einfachen Körper nach ihrer Erschaffung ihnen von Gott als (immerwährenden) Impuls, ›impetus‹, einpflanzen lassen, so auch die Rotationsbewegung den Äthersphären, für die es somit keines separaten Bewegers (Gott als Erster unbewegter Beweger oder die Geistseelen der Sphären, ›intelligentiae‹) mehr bedurfte. – Dank dieser Impetustheorie, die schon einmal im 6. Jahrhundert von Ioannes Philoponos aufgrund ähnlicher Überlegungen als Christianisierung aristotelischer Lehren erstellt worden war, ohne dass Buridanus davon gewusst zu haben scheint, brauchte die Astronomie (und ›Astrophysik‹) bis einschließlich N. Copernicus die Frage nach dem Beweger erst wieder zu stellen, als die Äthersphären als Träger und Beweger der Gestirne wegfielen.

Ohne direkte Einwirkung auf das spätere Weltbild scheinen dagegen Buridanus’ und Oresmes äußerst scharfsinnigen Bemerkungen zu den physikalischen und astronomischen Konsequenzen einer durchaus möglichen anderen Welt, etwa mit rotierender Erde und ruhender Fixsternsphäre, gewesen zu sein. Die These, für unsere Welt seit dem ausgehenden fünften vorchristlichen Jahrhundert immer wieder einmal diskutiert – auch Ptolemaios setzte sich ausführlich mit ihren physikalischen Konsequenzen auseinander wie später die Copernicaner, allerdings mit gegenteiligem Schluss –, ist auch keine Vorwegnahme der heliozentrischen Theorie des Nicolaus Copernicus, da sie nur spekulativ erörtert wurde, wenn auch scharfsinniger als durch Copernicus selbst. Veranlasst durch die Verbote (1277) naturphilosophisch-deterministischer Sätze, welche die Allmacht Gottes eingeschränkt hätten – wie: dass Gott nur eine Welt hätte erschaffen können, dass Gott die Welt nicht geradlinig bewegen könne usw. – werden aus Erfahrungen und Beobachtungen der Erscheinungen am Himmel (gemäß der ›Optik‹ des Eukleides ohne Unterscheidungskriterien für scheinbare oder tatsächliche Bewegungen) zahlreiche Argumente für die Existenz einer heliozen­trischen Welt (der Achsendrehung usw.) in extenso dargelegt, so dass der Schluss auf die Richtigkeit dieses Weltbildes unumgänglich schien, bis er, für spätere Zeiten überraschend, schloss: »Da die Vorstellungen unseres Verstandes von unseren Sinnen abhängen, können wir den unkörperlichen Raum jenseits der Himmel weder begreifen noch erfassen. Verstand und Glaube sagen uns aber, dass er existiert. Deshalb folgere ich, dass Gott in seiner Allmacht eine andere Welt neben dieser oder mehrere, gleiche oder andersartige, schaffen kann und könnte. Weder Aris-

 

toteles noch irgendjemand anderes wird in der Lage sein, das Gegenteil zu beweisen. – Aber es hat natürlich nie noch wird es je mehr als diese eine körperliche Welt [in dieser geozentrischen Anordnung] geben«, wie die Bibel und Aristoteles bezeugten. Ähnlich wird lang und breit – und mit demselben Schluss – beispielsweise für eine Achsendrehung argumentiert, wobei die Impetustheorie gute Erklärungsargumente für das später berühmte Beispiel des von dem Mast eines fahrenden Schiffes senkrecht herabfallenden Steines liefert, nur dass das 17. Jahrhundert (G. Galilei, I. Newton) dann nicht mehr von einem ›impetus‹ sprechen sollte, sondern von der durch Gott den Körpern eingeprägte Kraft (›vis impressa‹), während ein Tycho Brahe hieraus noch ein Argument gegen die Achsendrehung hatte ableiten sollen.

Nicolaus Copernicus

(Niklas Koppernigk;

im Deutschen auch fälschlich Kopernikus)

(* 19. 2. 1473 Thorn, † 24. 5. 1543 Frauenburg [Ermland])

Nicolaus Copernicus, wie er sich im Sinne der Renaissance lateinisierend nannte, hatte keineswegs die Absicht, ein revolutionierendes Weltbild und eine neue Astronomie zu schaffen. Er wollte vielmehr durch strenge Beachtung der Grundlagen der vorptolemaiischen Astronomie, die Ptolemaios missachtet hatte, die alte Astronomie mit den Kenntnissen des Ptolemaios und seiner Nachfolger unter den Arabern wieder herstellen – also nicht ›Revolution‹, sondern ›Restauration‹ war sein Ziel, ganz im Sinne des Renaisance-Humanismus. – Ptolemaios hatte ja die gemäß der Physik des Aristoteles zugrunde liegenden ›physikalischen‹ Grundsätze (die Copernicus fälschlich als pythagoreische bezeichnete), woraufhin sämtliche Bewegungen am Himmel auf kreis- und gleichförmige Rotationen von Äthersphären beruhen, in einem Punkte entscheidend verletzen müssen, um die Bewegungserscheinungen überhaupt exakt wiedergeben zu können. Er hatte zur Bestimmung der ersten Anomalie, die später Johannes Kepler durch den Flächensatz beschreiben sollte, die sogenannte Ausgleichsbewegung eingeführt, woraufhin der Mittelpunkt des (ersten) Epizykels auf dem Exzenter eine gleichförmige Winkelbewegung bezüglich eines imaginären Punktes (›punctum aequans‹) spiegelsymmetrisch zur Erde auf der Apsidenlinie ausführen sollte, statt entsprechend der Rotation des Exzenters eine gleichförmige bezüglich dessen Zentrums. Das war aber auf der Basis der damaligen Vorstellungen von gleichförmig rotierenden Äthersphären ›physikalisch‹ unvorstellbar – so dass in der Folgezeit die mathematische Beschreibung der Bewegungen von ihrer physikalischen Erklärung stark abwich und beide Betrachtungsweisen unverbunden parallel nebeneinander herliefen; und das wollte Copernicus durch eine gleichzeitige ›Physikalisierung‹ der ›mathematischen‹ und ›Mathematisierung‹ der ›physikalischen‹ Astronomie wieder in Ordnung bringen – aber natürlich jeweils auf der Basis der ›Physik‹ seiner Zeit, und das war die des Aristoteles.

Copernicus entstammte einer deutschen Kaufmannsfamilie in Thorn, das im Vertrag von Thorn 1466 vom deutschen Ritterorden wieder an den polnischen König abgetreten worden war (seine Umgangssprache blieb zeitlebens das Deutsche, so dass er sich später bei Verhandlungen mit der Bevölkerung stets eines Dolmetschers bedienen musste, seine Wissenschaftssprache wurde das Lateinische). Nach dem Tode des Vaters übernahm 1483 der Onkel Lukas Watzenrode, ab 1479 Domherr in Frauenburg und später ab 1489 Bischof von Ermland, Nicolaus und dessen Bruder in seine Obhut und sorgte für ihre Unterrichtung bis hin zum Studium an der Universität Krakau, wo schwerpunktmäßig Mathematik und Astronomie nach den Werken und mit den Instrumenten von Georg Peurbach und Johannes Regiomontanus aus der bekannten Wiener Mathematiker- und Astronomenschule gelehrt wurden. Danach nahm Watzenrode Copernicus in seine persönlichen Dienste und sandte ihn zur weiteren Ausbildung und Vorbereitung auf die ihm zugedachte Domherrenstelle in Frauenburg nach Italien. Hier studierte er von 1496 bis 1500 in Bologna, wurde vor 1499 ›magister artium‹, widmete sich aber auch astronomischen Studien, zu denen er schon in Krakau angeregt worden war, und war Mitarbeiter des angesehenen Regiomontanus-Schülers Dominico Maria di Novara. Nach Ernennung zum Domherren setzte Copernicus 1501 sein Studium, jetzt der Medizin und des Kirchenrechts, in Padua fort und promovierte 1503 in Ferrara zum Doktor des kanonischen Rechtes. Nach Polen zurückgekehrt, war er zunächst persönlicher Sekretär und Leibarzt seines Onkels, bevor er 1510 die Domherrenstelle in Frauenburg antrat, die kein geistliches Amt darstellte, sondern eine Verwaltungsstelle mit juristischen, politischen und medizinischen Tätigkeitsmerkmalen. Abgeschlossen von der Welt, übte er hier sein Amt aus, unterbrochen nur durch eine Kommandantur der Burg und Stadt Allenstein während des sogenannten Reiterkrieges gegen den Ritterorden. Landesweit hatte er sich aber auch einen guten Ruf als Arzt erwerben können, den neben dem Klerus im Bistum Ermland auch das polnische Könighaus konsultierte. Zudem wurde er als Vertreter des Bistums zum Preußischen Landtag abgeordnet und verfasste 1517–1526 im Zusammenhang mit der angestrebten Reform der preußischen Münze insgesamt drei Denkschriften.

Zu dieser Zeit galt Copernicus aber auch bereits als Experte der Astronomie. Vermutlich kurz nach seiner endgültigen Rückkehr aus Italien hatte er eine kurze Abhandlung, den ›Commentariolus‹, verfasst, in der er seine neuen astronomischen Ideen niedergelegt hatte. Sie kursierte in mehreren Abschriften und fand besonders wegen der in Angriff genommenen Kalenderreform auch an der Curie große Beachtung, weil Copernicus in ihr die Möglichkeit einer Vereinfachung und Verbesserung der mathematischen Grundlagen der Astronomie andeutete: 1533 ließ Papst Klemens VII. sich von seinem Sekretär die Grundzüge des neuen Systems vortragen, 1536 forderte der Kardinal und Erzbischof von Capua eine Abschrift des angekündigten großen Werkes, das später Papst Paul III. gewidmet wurde. Die mit diesem System verbundene Einführung der Heliozentrik wurde vorerst gar nicht beachtet; vordringlicher war die versprochene Einfachheit mit der vermuteten Folge einer exakteren Vorhersage der Planetenstellungen und einer vereinfachten Darstellung des Sonnenlaufes für die Erstellung eines Kalenders, der in der von Gaius Julius Caesar eingeführten Form ja inzwischen zu einer Abweichung des Kalenderjahres von dem natürlichen Jahr um zehn Tage geführt hatte. Dass die Berechnung der Planetenörter nach den auf den ptolemaiischen Theorien beruhenden Tafelwerken durch die Beobachtung nicht mehr bestätigt wurde, hatte Copernicus bereits während seines Aufenthaltes in Bologna an eigenen Beobachtungen erfahren können, ohne dass allerdings Zeitpunkt und direkter Anlass für die Erarbeitung seiner neuen Theorien bekannt wären. In Italien hatte er in humanistischen und neuplatonisch beeinflussten Kreisen verkehrt, ihre Anregungen empfangen und als echter Humanist in griechischen und lateinischen Autoren nach Vertretern möglicher anderer astronomischer Systeme geforscht, von deren Existenz er aus der allgemeinen Kritik des Ptolemai­os gewusst haben muss; seit Nicole Oresme war auch im lateinischen Mittelalter, jüngst etwa von Regiomontanus, zumindest eine Erdrotation als theoretische Möglichkeit erörtert worden.

Copernicus bediente sich bei seiner Rückbesinnung auf die Vorstellungen der Astronomie vor der Zeit des gegen sie verstoßenden Ptolemaios im Sinne einer echten ›Revolution‹ (= Zurückwälzung) der aristotelischen Argumente, die schon von Averroës und seinen Anhängern gegen die herrschende Astronomie des Ptolemaios vorgebracht worden waren: Wäre eine Kreisbewegung (Rotation) ungleichförmig, so könnte das nur aufgrund einer Unbeständigkeit in der Natur des Bewegenden (letztlich Gottes) oder wegen einer Unregelmäßigkeit und Veränderlichkeit des bewegten Körpers (der Himmelssphären) geschehen; beides sei undenkbar. Hatte für Ptolemaios ein Exzenter für die kinematische Wiedergabe der ersten Anomalie nicht ausgereicht, so musste Copernicus Ersatz schaffen. Er ließ die ptolemaiische Ausgleichsbewegung aus einer Doppel-Epizykelbewegung resultieren: Der Planet durchläuft danach mit einer bestimmten gleichförmigen Geschwindigkeit eine kleine Kreisbahn (Epizykel), deren Mittelpunkt seinerseits gleichförmig auf einem weiteren Epizykel, dessen Mittelpunkt wiederum auf einem kon­zentrischen Kreis (vorläufig um die Erde) gleichförmig umläuft. Da der Epizykel aber mit anderer Geschwindigkeit bei Ptolemaios der Wiedergabe der scheinbaren Schleifenbewegungen der Planeten, der sogenannten zweiten Anomalie, gedient hatte, musste Copernicus, nachdem er die Gleichförmigkeit der anderen Bewegung wieder hergestellt hatte, diese Erscheinung auf andere Weise erklären.

Copernicus’ Überlegung war, dass die Schleifenbewegungen ja nicht tatsächlich ausgeführt zu werden brauchen, sondern nur als solche dem Beobachter erscheinen können, weil die Erde eine Bewegung ausführt, die diesen Eindruck erweckt. Führt die Erde selber eine dieser Erscheinung entsprechende Bewegung um die Sonne aus, so resultieren die Schleifenbewegungen sämtlicher Planeten eben aus dieser einen Bewegung der Erde, wenn gleichzeitig diese statt des Fixsternhimmels um ihre Achse rotiert. Die Sonne steht somit (fast) im Zentrum aller Planetenbahnen: Der größte Gestirnskörper, das Herz der Welt nach stoisch-neuplatonischer Auffassung, hätte damit die ihm gemäße Stelle eingenommen. Im Gegensatz zu dem Verfahren der antiken Astronomie, das nicht aus Beobachtungen, sondern aus mathematischen Theorieelementen für die einzelnen Planeten die relativen Entfernungen gleichsam ›konstruiert‹ hatte, ergaben sich aus der Größe der Erdbahn jetzt auch die wahren statt der relativen Abstände der Planeten, während die Fixsternsphäre gleichzeitig in weite Ferne rückte, da sich an ihr keine parallaktischen Erscheinungen wie die Schleifenbewegungen der Planeten zeigten. (Diese daraufhin zwischen Saturn und Fixsternsphäre entstehende riesige Lücke sollte später Tycho Brahe und anderen als Argument gegen das heliozentrische System dienen.) Andererseits brauchte aber wegen der Ruhe der Fixsterne deren Sphäre nicht mehr von endlicher Dicke zu sein.

Die einzige Konsequenz, mit der Copernicus die gültige Physik des Aristoteles verlassen musste, wird von ihm wiederum durch einen Rückgriff auf antike Vorstellungen, nämlich Platons, autorisiert, wonach nicht das Weltzentrum Schwerezentrum der irdischen Elemente ist, sondern verwandte Stoffe zueinander streben. Schon Nicolaus von Kues hatte nach antiken Ansätzen diese Idee zu einer Kohäsionstheorie ausgebaut, wonach es so viele spezifische Schwerezentren gibt wie Gestirnskörper: Für die Erdmaterie ist es das Erdzentrum, für die Mondmaterie das Mondzentrum und entsprechend für die Sonne und die fünf damals bekannten Planeten. Alles andere blieb für Copernicus beim Alten. Das zeigt besonders die Notwendigkeit der Einführung einer dritten Erdbewegung neben der jährlichen und täglichen, damit die Erdachse ihre Richtung im Weltraum nicht verändert; denn wegen der Rotation der unveränderlichen Himmelssphären, in welche die Erde wie die anderen Planeten eingebettet sei, hätte sie anderenfalls jeweils denselben Pol der Sonne zugekehrt oder von ihr abgekehrt, so dass es nicht zu den Jahreszeiten hätte kommen können. J. Kepler, der dann im Anschluss an Tycho Brahe solche festen Äthersphären leugnete, sollte daraufhin die­se dritte ›Erdbewegung‹ wieder abschaffen und statt dessen die Konstanz der Richtung der Erdachse einer quasi ›magnetischen‹ Kraft zuschreiben. Allerdings hatte Copernicus sich aufgrund der herrschenden Impetus-Theorie über die Mechanik seiner mathematisch-kinematischen Astronomie weiter keine Gedanken gemacht. Seine Astronomie unterscheidet sich deshalb auch nicht wesentlich von der des ›Almagestum‹ von Ptolemaios, dessen Aufbau sogar Vorbild seines Hauptwerkes ›De revolutionibus orbium coelestium‹ gewesen ist (›Über die Umwälzungen der Himmelssphären‹, nicht: der Himmelskörper, gemeint sind vielmehr die Exzenter und Epizykel, in die die Planeten eingefügt sind) – hier fasste Copernicus dann auch den Konzenter und ersten, größeren Epizykel wieder zu einem Exzenter zusammen. Trotzdem ist die Anzahl der schließlich zur Berechnung nötigen Sphären nicht sehr viel geringer als bei Ptolemaios geworden. Copernicus sagt auch ausdrücklich, dass seine Theorie nicht zu einer genaueren Vorhersage führe als die ptolemaiische, sondern dasselbe nur anders, nämlich ›physikalisch‹ korrekt wiedergebe. Seinen Überlegungen und Berechnungen lagen ja auch keine neueren Beobachtungsdaten zugrunde; sie stellen vielmehr eine neue Deutung des Vorhandenen dar, das nur von zwischenzeitlichen ›Verfälschungen‹ zu befreien gewesen wäre.

 

Gerade die Möglichkeit, alles scheinbar wieder auf solide Grundlagen stellen zu können, hat sicherlich verhindert, dass Copernicus die Fülle der physikalischen, theologischen und weltanschaulichen Konsequenzen seiner Idee auch nur geahnt hätte, die seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert einen harten Kampf um die Anerkennung seines heliozentrischen, scheinbar der Bibel widersprechenden Weltbildes entbrennen ließen. Ein gewisses Unbehagen vor dem Wagnis des Neuen scheint man jedoch auch seitens Copernicus zu spüren, wenn er die Ausarbeitung der im ›Commentariolus‹ skizzierten Ideen erst auf Drängen anderer vollendete und sein Hauptwerk dann so lange zurückhielt, dass er dessen endgültiges Erscheinen nicht mehr erlebte. – Die Überwachung des Druckes in Nürnberg hatte er dem jungen Wittenberger Mathematikprofessor Georg Joachim Rh(a)eticus übertragen, der bereits 1540 in seiner ›Narratio prima de libris revolutionum Copernici‹ einen ausführlichen Vorbericht über das Werk des Copernicus veröffentlicht hatte.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?

Weitere Bücher von diesem Autor