Buch lesen: «Der Weg zur Energiewende»
Fritz Dieter Erbslöh
Der Weg zur Energiewende
… mit besonderem Fokus auf Deutschland
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ISBN 978-3-8169-3508-7 (Print)
ISBN 978-3-8169-0038-2 (ePub)
Inhalt
Vorwort
Zum Thema
1 Einführung: Der Begriff
2 Die Anfänge: Ressourcen
3 Club of Rome: Grenzen des Wachstums?
4 Wahrnehmung und Beginn einer Klimapolitik4.1 Klimakonferenzen4.2 Weltklimarat
5 Klimadiskussion: Treibhausgase 5.1 Klimakonvention und Kyoto-Protokoll 5.2 Pariser Abkommen 2015 (COP 21)
6 Handlungsoptionen 6.1 Wege in die Zukunft 6.2 Sensitive Regionen und Sektoren 6.3 Instrumente
7 Aktionsfelder7.1 Energieeffizienz und Energiemanagement7.1.1 Historische Hintergründe7.1.2 Energiemanagement7.1.3 Energiemanagement nach ISO7.2 Zertifikatehandel7.2.1 Funktionsweise7.2.2 Der internationale Emissionshandel (nach Kyoto-Protokoll)7.2.3 Der Emissionshandel in der EU (EU-ETS)7.2.4 Das nationale Emissionshandelssystem (nEHS)7.3 Staatliche Eingriffe: Grenzwerte und Verbote7.3.1 Eingriffe im Bereich des Straßenverkehrs7.3.2 Regelungen für die Schifffahrt7.3.3 Eingriffe in das Gebäudewesen7.3.4 Eingriffe in die Industrie7.3.5 Regelungen Energiewirtschaft7.4 Regenerative Energien: Wasser, Photovoltaik, Bioenergie, Solarthermie, Wind7.4.1 Wasserkraft7.4.2 Photovoltaik7.4.3 Bioenergie-Anlagen7.4.4 Solarthermie7.4.5 Windenergie7.4.6 Erneuerbare Energien in der Bilanz7.4.7 Erneuerbare Energien brauchen Speicher7.4.8 Erneuerbare Energien brauchen Netze7.4.9 Erneuerbare Energien brauchen Förderung7.4.10 Brauchen Erneuerbare Energien eine Regulierung?7.5 Geothermie und Wärmepumpen7.6 Systemlösungen7.6.1 Kraft-Wärme-Kopplung7.6.2 Brennstoffzellen7.6.3 Von Power-to-Gas zu Power-to-X7.6.4 Sektorkopplung7.6.5 Energiemärkte7.6.6 Intelligente Netze7.6.7 Virtuelle Kraftwerke7.7 Kernspaltung und Kernfusion7.7.1 Kernkraftwerke7.7.2 Uranvorräte7.7.3 Kernfusion7.8 CO2-Verwendung und -Entsorgung7.8.1 CO2 als Rohstoff7.8.2 CO2-Speicherung
8 Die Politik der (deutschen) Energiewende
9 Energiewende, Wirtschaft und Gesellschaft
10 Kollision der Interessen 10.1 Einfluss der (organisierten und nichtorganisierten) Öffentlichkeit 10.2 Parteien und Länder
11 Kosten der Wende und ihre Finanzierung
12 Folgen des (ungebremsten) Klimawandels
13 Das Akzeptanzproblem
14 Ausblick: Ein ergebnisoffener Prozess
15 Abkürzungen
16 Literatur und wichtige Quellen
Vorwort
Im physikalisch-chemischen Praktikum wurde uns, die wir Chemie studierten, deutlich vor Augen geführt: Kohlendioxid (CO2) ist ein besonderes Molekül. Die Absorptionseigenschaft für infrarotes Licht ist derart ausgeprägt, dass sie für die üblicherweise robusten Messaufbauten eines Praktikums leicht detektierbar war. Wir erinnern uns an die Tour de Force durch die mathematische Behandlung der verschiedensten Rotationsschwingungsspektren und weiterer prüfungsrelevanter Tiefgänge eines klassischen naturwissenschaftlichen Studiums. Aber damals war uns – auch dank der uns so deutlich vor Augen geführten spektralen Eigenschaften – schon eines klar: bereits geringe Mengen dieses infrarotaktiven Spurengases (und auch anderer) reichen aus, um den Wärmehaushalt des Planeten zu bestimmen.
Wenige Jahre später, als Doktorand, der sich mit Kohlenhydraten und dem Einsatz von Enzymen in der Synthese von physiologisch wirksamen Glycosiden beschäftigte, kam ich in meinem Arbeitsgebiet wieder mit dem CO2 in Berührung. Nur, eben jetzt als Photosyntheseprodukt mit der Summenformel C6H12O6. Und spätestens von hier an war es sonnenklar, dass die unbegrenzte Umwandlung von in der Erde gelagerten Kohlenstoffvorräten in Verbrennungsvorgängen die feine Balance zwischen Freisetzung und Bindung des CO2 in empfindlicher Weise stören würde.
Jetzt, gute dreißig Jahre später, ist die Problematik der steigenden CO2-Konzentrationen durch die anthropogene Zuführung dieses Gases in die Atmosphäre als Konsequenz der Verbrennung fossiler Kohlenstoffquellen längst im Alltag angekommen und wird breit akzeptiert, sieht man einmal von realitätsisolierten Meinungsblasen in Internetforen ab.
Umso wichtiger wird es, die Diskussion um die sich daraus ergebenden Möglichkeiten der Schadensbegrenzung – denn um nichts anderes mehr kann es sich zu diesem sehr späten Zeitpunkt im globalen Klimageschehen handeln – auf eine breite, allgemein verständliche Basis zu stellen. Nur eine informierte Bürgerschaft ist in der Lage, die politischen Ansätze zur Begrenzung der Kohlendioxidkonzentrationen miteinander zu vergleichen und abzuwägen.
Deutschland hat sich unter den letzten Regierungskoalitionen zur „Energiewende“ bekannt, die unter ihrer deutschen Bezeichnung in der New York Times bereits ein fester Begriff geworden ist, der einer internationalen Leserschaft nur noch sporadisch mit einem Zusatz wie „Angela Merkel’s Green Energy Plan“ erläutert werden muss.
Der nationale Plan der Verdrängung fossiler (und atomarer) Energieerzeugung zu Gunsten der aus Sonne, Wind und recyclingfähigen Energieträgern folgt dem Gedanken des kalifornischen „Clean Air Act“ und des deutschen Immissionsschutzgesetzes. Letzteres hat in den 1970er Jahren den Eingriff in die Grundrechte der Gewerbefreiheit von Unternehmern damit begründet, dass dadurch der Eintrag von Schadstoffen in den eigenen Grund und Boden verringert oder abgewendet werden sollte. Damit stellte dieser Ansatz eine klassische Rechtsgüterabwägung dar und hat die Freiheit des Einen dort eingeschränkt, wo die Unversehrtheit des Eigentums eines Anderen bedroht wird. Letztlich hat der Gesetzgeber die Gefahrenabwehr und Daseinsvorsorge damit priorisiert. Im Ansatz folgt man mit der Verdrängung fossiler Brennstoffe der gleichen Richtung.
Allerdings läuft die Debatte Gefahr, den eigentlichen Gedanken aus dem Auge zu verlieren: Es geht um die Reduktion der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Natürlich gibt es zahlreiche Vorschläge, der globalen Erwärmung auf andere Weise die Stirn zu bieten, wie etwa diese hinzunehmen und durch Anpassung der Umwelt zu begegnen, angefangen beim Deichbau bis hin zum Bioengineering, um Pflanzen hitzebeständiger zu machen. Oder die Senkung der Strahlungsaufnahme der Erde durch „Geoengineering“. Diese Anpassungsstrategien sind nicht Gegenstand des vorliegenden Buches und nach Ansicht dieses Autors darf bei den „Engineering“-Ansätzen durchaus bezweifelt werden, ob der Mensch es wirklich beherrscht, komplexe Systeme durch gezielte, technologiebegeisterte, ja geradezu ingenieurbesessene Eingriffe in die gewünschte Richtung zu drängen, ohne dabei gleich die nächsten Nebenwirkungen auf den Plan zu rufen. Das war nämlich in der Menschheitsgeschichte bislang immer wieder der Fall und zu selten von nachhaltigem Erfolg gekrönt. Versteppung, Monokulturen, Plagen, Flächenkontamination, Flutkatastrophen, Artensterben waren zumeist die Ergebnisse solcher Experimente. Bei kritischer Betrachtung war dann auch die Beseitigung unerwünschter Nebenwirkungen häufig teurer als die ursprüngliche Maßnahme.
Wenn es also um das Ziel Reduktion der CO2-Konzentration geht, dann bedarf es einer ganzheitlichen Denkweise, dann muss neben der Wärmedämmung von Gebäuden auch der Energieaufwand zur Herstellung und Anbringung der Isolationsmaterialien betrachtet werden, dann kann auch ein bei einem Geschwindigkeitslimit von 100 km/h gefahrenes Auto mit modernem Verbrenner eine durchaus niedrigere CO2-Bilanz aufweisen als ein batterieelektrischer SUV mit einem Leergewicht von 2 t bei freier Fahrt. Die Liste ließe sich durchaus beliebig erweitern.
Fest steht auf jeden Fall, dass alle Kreislaufeffekte bei jeder staatlichen Lenkung immer mitgedacht werden müssen. Statt also eine bestimmte Technologie zu fördern, statt eine andere zu bepreisen, sollte der Hebel nicht am Detail, sondern am Ergebnis, am Ziel ansetzen: Die Freisetzung von CO2 zu verteuern.
Dabei liegt eine Frage natürlich auf der Hand: Warum sollte sich eine technologiebasierte Volkswirtschaft wie die der Bundesrepublik, mit ihrem nicht mehr als zweiprozentigen Beitrag am globalen Kohlendioxidgeschehen überhaupt dazu Gedanken machen? Schließlich ist es eine Binse, dass Gase keine Grenzen kennen und die Emissionen anderer Emittenten − der Menge nach geordnet China, USA, Indien, Russland, Japan und Iran, bevor Deutschland in der Statistik an der Reihe ist − wesentlich deutlicher unsere Unversehrtheit aufs Spiel setzen.
Jenen, die daraus ableiten, besser nichts zu tun, muss man vorhalten, dass gerade in der Entwicklung von Strategien, Verfahren und Technologien enorme Marktpotentiale schlummern, die gerade Deutschland als Hochtechnologie- und Hochlohnland heben kann – nein – heben muss. Um diese Technologien dann dort anzuwenden, wo sie am effizientesten ihre Wirkung entfalten können, also dort, wo gerade jetzt viel CO2 freigesetzt wird. So ließe sich die Entwicklung von geeigneten Technologien in einen wirtschaftlichen Nutzen umsetzen und bei globaler Bepreisung von CO2-Emission ein Anreiz schaffen, der biotischen Umwelt und dem Erhalt der Klima- wie Ökosysteme zu dienen.
Um die Grundsteine für eine eher allumfassende Betrachtung der Problematik zu legen, ist ein solides Verständnis der sehr komplexen Zusammenhänge von Energiegewinnung, Energietransport, Energiespeicherung, Energieumwandlung und der Regulierung der Distribution notwendig. Dazu versucht das vorliegende Buch Beiträge zu leisten, indem es Zusammenhänge darstellt, statt sich in Technikecken zu vergraben, indem es den Leser den Gesamtzusammenhang zu erfassen anleitet. Damit stellt es eine sinnvolle wie natürliche Ergänzung zum früher vorgelegten Band über „Energietransport und Energiespeicherung“ dar.
Wohltuend ist zudem, dass es zum Selbstdenken animiert, indem es keine Rezepte verordnet, indem es die Intention hinter den verschiedenen staatlichen Eingriffen erläutert und dabei durchaus dazu anregt, die Perspektive zu ändern und effiziente, technologieoffene Lösungen für ein mittlerweile unbestrittenes Problem aufzusuchen.
Viel Zeit bleibt nicht mehr – aus heutiger Sicht sind es bereits 2,5 °C durchschnittlicher Temperaturerhöhung, die noch erreichbar scheinen. Aber nur, wenn dieser Gefahr mit den geeigneten Mitteln beherzt und vor allem global begegnet wird.
Bereits Seneca hat uns gelehrt: „Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen.“
Essen, im Februar 2021 Prof. Dr. Werner Klaffke
Haus der Technik e. V.
Zum Thema
Die Ziele der sogenannten Energiewende lassen sich nach gegenwärtigem Verständnis klar und einfach, wenn auch etwas verkürzt, so benennen: Sie soll den Rückzug aus der Kernenergie bewirken und kompensieren, fossile Brennstoffe durch die erneuerbaren Energien ersetzen und den Ausstoß an klimaschädlichen Gasen, insbesondere des CO2, reduzieren bzw. neutralisieren und schließlich das Schadstofflevel bis zum Ende des Jahrhunderts dauerhaft absenken.
Was so einfach klingt, stößt in der harten Wirklichkeit auf große Probleme. Wirtschaftliche Folgen, technische Schwierigkeiten, politischer Streit sind schon heute zu beobachten und werden beim Fortschritt des Programms noch zunehmen. Soziale Verwerfungen durch eine zunehmend allergisch reagierende Öffentlichkeit sind nicht ausgeschlossen.
Das darf nicht verwundern – die Energiewende ist ein Großprojekt, das die gesamte Gesellschaft erfasst und in Umfang und Folgen in der deutschen Geschichte einmalig dasteht.
Wie dieses Projekt entstand, was bis zur Gegenwart mit welchen Mitteln erreicht wurde und wie es schließlich ausgehen könnte, ist Gegenstand dieses Buches. Dabei wird sich einerseits ergeben, dass die Energiewende eine durchaus längere Vorgeschichte hat. Es wird ferner deutlich werden, dass die Energiewende in der beschriebenen Form ein spezifisch deutsches Projekt ist. Und es wird sich auch zeigen, dass angesichts der Größe und Vielgestaltigkeit ein Erfolg am Ende zwar wünschenswert, aber nicht sicher ist.
Deutschland ist nicht allein auf der Welt, und CO2 und andere Schadstoffe machen nicht an Grenzen halt. Deshalb sind insbesondere die Entwicklungen in den Nachbarländern, speziell den Ländern der Europäischen Union mit einbezogen, zumal inzwischen die EU in etlichen Feldern die Maßnahmen in den Mitgliedsländern vorgibt. Die weiter ausgreifende weltweite Perspektive auf Forschungsstand, internationale Vereinbarungen und Daten macht schließlich deutlich, dass die deutsche Energiewende nur ein Beitrag zur Lösung eines größeren Problems sein kann, der jedoch durch die beispielgebende Entwicklung der technischen Möglichkeiten einen besonderen Stellenwert einnimmt oder diesen zumindest beansprucht.
Was die Technik angeht, so wird in diesem Buch eine Vielzahl von praktizierten und zukünftigen alternativen Lösungen behandelt, die sich teils ergänzen, teils auch miteinander konkurrieren. Wie das Schlusskapitel aufzeigt, besteht der Weg in die Zukunft möglicherweise darin, diese Vielfalt von Pfaden bewusst beizubehalten und damit zuzugeben, dass es die eine große, alles abdeckende und allen willkommene Lösung nicht gibt.
Die Umsetzung der Energiewende ist ein Prozess, der sich rasch entwickelt. Auch der Ausbruch von Covid-19 hat ihn kaum verlangsamen können. Die vorgelegte Veröffentlichung gibt den Stand von Oktober 2020 wieder, mit einigen bis Dezember 2020 reichenden Aktualisierungen.
1 Einführung: Der Begriff
Die sogenannte Energiewende ist ein Begriff, der in Deutschland geboren wurde. Seine Inhalte sind älter und gehen auf den US-amerikanischen Autor A. LOVINS zurück, der 1976 den Ausdruck »Soft Energy Path« benutzte, unter dem er seine Vorstellung eines zukünftigen Energiesystems schlagwortartig in die Öffentlichkeit trug. Sein Hauptanliegen war es, das klassische Energieversorgungssystem durch Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen zu ersetzen und mit forcierter Energieeffizienz eine weitere Energieressource zu installieren. Der Begriff findet sich in einem Artikel für die Z. Foreign Affairs, veröffentlicht unter dem Titel „Energy Strategy: The Road Not Taken?“.
LOVINS stellte hier zwei Entwicklungspfade einander gegenüber: den harten und den weichen Pfad, s. nachstehende Abbildung.
Abb. 1‑1:
‚Soft‘ and ‚Hard‘ Energy Paths; Quelle: A. Lovins, Energy Strategy: The Road Not Taken, 1976
Ein Jahr später präzisierte LOVINS sein Programm ausführlicher mit der Buchveröffentlichung „Soft Energy Paths: Towards a Durable Peace”.1 Es erschien 1978 auch in Deutschland.
Abb. 1‑2:
Lovins bei Präsident Carter, Okt. 1977. Carter galt als Freund regenerativer Energiequellen; Quelle: Rocky Mountain Institute (RMI)
LOVINS’ Ideen fanden große Publizität, bis zum Interview mir Präsident CARTER im Weißen Haus, s. Abb. 1‑2. In Deutschland übernahmen der Frankfurter F. KRAUSE und seine beiden Co-Autoren H. BOSSEL und K.-F. MÜLLER die Überlegungen LOVINS‘ und wandten sie auf Deutschland an. Ihr Alternativ-Bericht „Energie-Wende. Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“ erschien 1980 im Selbstverlag der Autoren2 und wurde kurz darauf als Bericht des neu entstandenen Freiburger Öko-Instituts bei S. Fischer verlegt.3 Die These der Autoren war, „dass eine grundsätzliche und radikale Wende in der Energiepolitik der Bundesrepublik (und der Industriestaaten im Allgemeinen) unabdingbar geworden ist.“4 Diese Publikation gilt als Ursprung des heute geläufigen Begriffs.
Das Verständnis der Energiewende als Übergang zu nachhaltiger Energiepolitik findet sich 2002 erstmals in Deutschland in der vom deutschen Bundesumweltministerium in Berlin ausgerichteten Fachtagung „Energiewende – Atomausstieg und Klimaschutz”.5 Das Bundesumweltministerium veranstaltete diese Tagung gemeinsam mit der Forschungsstelle für Umweltpolitik (FFU) der Freien Universität Berlin am 15. und 16. Februar 2002 im Deutschen Architektur Zentrum, Berlin. In den Folgejahren wurde dann „Energiewende“ zunehmend zum Leitbegriff und Schlagwort der energiewirtschaftlichen Diskussion in Deutschland und auch der offiziellen deutschen Politik.
Erst viel später, wohl zuerst 2011 im Bostoner Christian Science Monitor, findet sich der Begriff auch im englischen Sprachraum, als dieser über die Beschlüsse der deutschen Bundesregierung nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima berichtete und Kanzlerin MERKEL zitierte. Hier und danach finden sich Übersetzungen wie „energy transition“ (Energieübergang) oder „energy switchover“ (Energiewechsel), zunehmend aber auch das deutsche Wort Energiewende.6
Energiewende ist also ein Wortbegriff der jüngsten Vergangenheit. Seine komplexen Inhalte sind jedoch älteren Ursprungs, zumindest in Teilen, und haben ihre eigene Geschichte.
Das wird in den folgenden Kapiteln deutlicher werden.
2 Die Anfänge: Ressourcen
Energie wurde schon im Altertum zu einem wichtigen Gewerbe- und Handelsgut, im Wesentlichen in der Form von Holz. Es lohnt, die Geschichte dieser Ressource zu verfolgen – es ist dies ein erstes Beispiel für intensivste Nutzung, hieraus entstehende Probleme, deren Bewusstwerden und schließlich auch für ihre zumindest partielle Lösung.1
Die griechische und römische Antike verwendete umfangreich Holz als Brennstoff für den häuslichen Bereich, also zum Kochen und Heizen in relativ einfachen Öfen, aber auch in den anspruchsvolleren Hypokaustenanlagen. Die meist für das Kochen verwendete Form war die der Holzkohle (anthrax im Griechischen, carbo bei den Römern), weil sie langsamer brannte, weniger Rauch entwickelte und leichter über Fächer oder Blasebälge zu regeln war.2 Holzkohle wurde in der Antike auch gebraucht für Metallschmelzöfen, da sich mit ihr hohe Temperaturen (nach LANDELS bis 1500 °C) erreichen ließen. Da sich nur bestimmte Hölzer (Steineiche, Buche) für die Köhlerei eigneten und deren Meiler von den Verwendungsstätten wegwanderten, dürfte die Transportfrage aufgekommen sein und Holzkohle zu einem durchaus teuren Brennstoff gemacht haben.
Ganz wesentlich war schon früh der Einsatz von Holz für die Salzgewinnung. Zwar war im sonnenreichen antiken Mittelmeerraum die Gewinnung von Salz aus dem Meer naheliegend. Nördlich entwickelte sich jedoch der Trockenabbau von Steinsalz und damit die auf Brennholz angewiesenen Salzsiederei. Eines der ältesten Salzbergwerke befindet sich in Wieliczka in Polen, eine Salzsiederei gab es dort seit 3500 v. Chr., unterirdischen Abbau seit dem 13.Jahrhundert. Aus der Bronzezeit gibt es Hinweise auf Salzabbau in Hallstatt im Salzkammergut. Der konkurrierende Nassabbau geht auf die Jungsteinzeit und die Bronzezeit zurück, als im heutigen Sachsen-Anhalt Salz aus der Sole gewonnen wurde. In der Eisenzeit (Hallstattzeit) bestanden Salinen an zahlreichen Solequellen und an den Küsten. Wichtigste Standorte in Deutschland waren: Halle (Saale), Bad Nauheim, Schwäbisch Hall, Werl (Westfalen). Die Solequellen waren meist im Besitz der Landesherren; sie vergaben den Betrieb an die selbständigen „Pfänner“, die eigentlichen Hersteller des Salzes, die dann auch den Vertrieb übernahmen. In Halle hatte die im Jahre 1491 gegründete „Salzwirker-Brüderschaft im Thale zu Halle”, deren Mitglieder Halloren genannt wurden, das Recht zu Gewinnung und Vertrieb über Jahrhunderte hinweg. Ähnlich war es in Werl, wo die Gilde der Erbsälzer schon 1246 erstmalig genannt wurde, als der Kölner Erzbischof die besonderen Privilegien der Werler Sälzer bestätigte und ihnen das erbliche Recht der alleinigen Salzgewinnung in der Stadt zuerkannte. 1708 wurden sie schließlich noch in den Adelsstand erhoben – was den Stellenwert herausstellt, den das kostbare Salz vermitteln konnte.3
Abgesehen von der Gewinnung aus dem Meer war für die verschiedenen Verfahren ein hoher spezifischer Energiebedarf typisch. Aber auch die Menge an produziertem Salz war erheblich. Allein für Lüneburg mit den bedeutendsten Salinen des Nordens stieg im 13.Jahrhundert der Jahresertrag an Salz auf 15–16.000 Tonnen und der Verbrauch an Holz stieg mit.4 Schätzungen aus späterer Zeit kommen im Mittel auf 1:100 als Relation von 1kg Salz zum Raummeter Holz.5 Die Folge waren umfangreiche Rodungen, die zu Holzverknappung und in der Folge zu beträchtlichem Holzhandel führten. Die These, dass hierauf die Entstehung der Lüneburger Heide zurückzuführen sei, gilt inzwischen zwar als widerlegt – jedoch bleibt es aufgrund der aufgefundenen Lieferscheine bei weiten, umfangreich genutzten Transportwegen und -mengen.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass Holz auch als Werkstoff und nicht nur als Brennholz Verwendung fand. Die entstehende Holznot brachte die mittelalterliche Gesellschaft an sozial umkämpfte Grenzen der Waldnutzung und verstärkte sich im ausgehenden Mittelalter noch aufgrund der expandierenden gewerblichen Nutzung von Brennholz, v.a. im Bergbau (Metalle, Salz) und in der „protoindustriellen Produktion“ (RADKAU)6. Das führte zur Verlängerung der Transportwege und zur steigenden Bedeutung des Holzhandels.
Der Bergbau auf Erz, die Salinen zur Salzgewinnung und die Holzköhlerei für die Aufbereitung des Erzes ließen im Mittelalter Holzgroßverbraucher entstehen. Salinen und Hüttenwerke bekamen ganze Waldungen „gewidmet”. Sie hatten Anrecht auf riesige Holzmengen zu geringen Preisen, was zu großen Entwaldungen und immer längeren Transportwegen führte. Die Folge waren erste Eingriffe der Obrigkeit. So ist aus Dortmund ein früher Bericht über verordneten Holzanbau erhalten. Im Jahre 1343 wurde dort im Dortmunder Reichswald eine Laubholzpflanzung angelegt.
Bekannt sind auch erste Aufforstungen im Nürnberger Reichswald. Mit dem Ende der letzten Eiszeit wurde die dort ursprünglich waldfreie Tundra von Bäumen besiedelt und nach 9.000 Jahren hatte sich ein geschlossener Waldbestand aus Kiefern-, Birken-, Eichen-, Buchen- und anderen Waldformen entwickelt. Im Mittelalter war der Wald Krongut der deutschen Kaiser, in der Verwaltung durch die Stadt Nürnberg. Von daher stammt auch die Bezeichnung Reichswald, die es auch für andere Wälder in Deutschland gibt, s. oben. Im 13.Jahrhundert wurde der Nürnberger Forst durch Entnahme von Holz, Streu und Rodungen stark übernutzt.
P. STROMEIR, als Nürnberger Ratsherr wie als Miteigentümer von Berg-, Hütten- und Hammerwerken an der Bewirtschaftung der verödeten Flächen und speziell an der Holzversorgung interessiert, experimentierte 1368 auf einigen hundert Morgen des Lorenzer Reichswaldes mit der Anpflanzung von Nadelbäumen, die ihm durch ihr schnelles Wachstum für eine Holzwirtschaft geeignet erschienen. Er hatte tonnenweise Tannen-, Fichten- und Kiefernzapfen sammeln lassen, deren Samen er in den tief umgepflügten Boden streuen ließ. Vor allem mit den Tannen- und Kiefern-Saaten hatte er schließlich Erfolg.7
Abb. 2‑1 zeigt diesen Innovator, der es auch schaffte, mit seinen „Dannensäern” ein ganz neues Geschäftsfeld für Nürnberg zu eröffnen.
Abb. 2‑1:
Der Nürnberger Rats- und Handelsherr Peter Stromeir ließ als erster Nadelbäume aussäen; Quelle: R. Lohberg, Der deutsche Wald kann mehr als rauschen, 1966. Kap. Geschichte der Forstwirtschaft
Nürnberg war damals eine der regsamsten, fortschrittlichsten Städte Europas. Den Nürnberger Kaufleuten wurde rasch klar, welches wirtschaftliche Potenzial in den Ideen STROMEIRS lag und taten es ihm nach, mit beachtlichem Erfolg: Nürnberg exportierte neue Wald-Samen „aller drei Sorten“ überallhin nach Europa. Wo immer Angst vor Holzmangel herrschte, fanden sich Käufer. Nürnberger Fachleute, eben die Dannensäer, reisten mit, um das Anpflanzen zu überwachen. Das kam die Kunden zwar teurer zu stehen als der Erwerb der Samen, war aber letztlich billiger, als noch Zeit zu verlieren mit eigenen Experimenten.
Ab 1500 beginnt dann eine lange Reihe der Forstordnungen. Die Gefahren des Kahlschlages wurden erkannt und führten zumindest regional zur Vorsicht in der Waldnutzung. In Reichenhall wurde so bereits im 16. Jh. eine „nachhaltige“ Holzwirtschaft betrieben. Das kommt in einem späteren Zitat von 1661 deutlich zum Ausdruck: „Gott hat die Wälder für den Salzquell erschaffen, auf daß sie ewig wie er kontinuieren mögen; also solle der Mensch es halten: ehe der alte ausgehet, der junge bereits wieder zum Verhacken herangewachsen ist.”8 Prominente Zeitgenossen nahmen sich des Problems an. So prophezeite MELANCHTON, es werde „der Welt an drei Dingen mangeln: an guter Münze, an Holz und an guten Freunden.” Das Problem war nicht nur ein deutsches: COLBERT, der Finanzminister LUDWIGS XIV, meinte pessimistisch: „Frankreich wird aus Mangel an Holz zugrunde gehen.” Er erließ 1669 eine Forstschutzverordnung. Auch der Physiker RÉAUMUR warnte 1721 eindringlich vor Holzmangel. Der französische Marineinspekteur DUHAMEL DU MONCEAU verfasste zwischen 1755 und 1767 eine Reihe grundlegender Schriften zum Forstwesen und gehört damit zu den Begründern einer Wissenschaft vom Forst.
Parallel mit dem Wandel vom reichlich vorhandenen Naturprodukt zum knappen Wirtschaftsgut mit festen Preisen lief eine gesellschaftliche Veränderung. Indem die Bauern den Gemeindewald als Privatbesitz unter sich aufteilten, entzogen sie der unterbäuerlichen Schicht, die den Wald für ihr Vieh zur Mast und Weide nutzte, die Existenz. Auch die Waldgewerbe wie Köhler, Pechbrenner und Pottaschesieder wurden verdrängt. Im Bayerischen Wald galten Pechbrenner zum Teil als vogelfrei und durften von den Förstern niedergeschossen werden. Holzdiebe wurden gnadenlos verfolgt.
Holzmangel und Holzteuerung waren speziell im Übergang zum 19.Jahrhundert wichtige allgemeine Themen. Rückblickend wurde für diesen Zeitraum oft von Holznot gesprochen – ein Begriff, den J. RADKAU so nicht stehen lassen wollte und damit eine lebhafte Diskussion unter den Historikern auslöste.9,10 1780 musste eine durchschnittliche Berliner Familie erstmals mehr Geld für Brennholz als für Brot ausgeben. 1821 wurde in Preußen ein Allgemeines Holzdiebstahlgesetz erlassen. 1850 kamen dort auf 35.000 gemeine Diebstähle 265.000 Holzdiebstähle, die so konsequent verfolgt wurden, dass sich K. MARX als junger Anwalt 1842 empörte, dass dem modernen Staat das Holz wichtiger sei als der Mensch.
Das Problem war allerdings auch ein großes: Der Waldbestand in Kontinentaleuropa hatte sich bis 1600 schon auf 20 % der Landfläche reduziert (von ursprünglich 90 % in römischer Zeit). Und der Energieverbrauch einer mittelalterlichen Stadt war recht hoch. Er wird auf etwa 20 Watt pro Quadratmeter bebaute Fläche geschätzt; eine Hilfsrechnung ergibt dann, dass hierfür eine Waldfläche vom etwa 100-fachen der Stadtfläche erforderlich war.
Übermäßiger Holzverbrauch und die damit einhergehende drohende Holzverknappung und Degradierung der Wälder führten dazu, dass Anfang des 18. Jahrhunderts systematische Ansätze einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung entwickelt wurden. Im Jahr 1713 brachte der sächsische Oberberghauptmann H. C. VON CARLOWITZ ein Werk heraus, das ihm später den Ruf als Vater der modernen Forstwirtschaft eintrug. In „Sylvicultura Oeconomica“ forderte er, dass Holzeinschlag und planmäßige Aufforstung immer im Gleichgewicht sein müssten. Er benutzte sogar den Begriff der Nachhaltigkeit, ohne ihn allerdings näher zu erläutern (was dann 1795 der Forstwissenschaftler G. L. HARTIG nachholte).
Die erste Energiekrise der Menschheit konnte damit überwunden werden – durch einen Sprung in die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens.
Bei der nicht nachwachsenden Kohle ist dies naturgemäß anders. Der Rohstoff Kohle wurde nach Nutzungsanfängen im Mittelalter im 19.Jahrhundert zum entscheidenden Faktor für die von Europa ausgehende Industrialisierung. Die Förderung und die Verwendung von Kohle standen im Mittelpunkt der Strukturveränderungen, sowohl der Technik wie auch des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Kohle lieferte im Vergleich zum seit der Antike vorherrschenden Holz preiswerte und zuverlässige Energie. Kohle wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Basis für die Leitsektoren Eisengewinnung und -verarbeitung und Verkehrs- und Transportwesen.
Auch die Kohleförderung und -nutzung wurde von kritischen Stimmen begleitet. Die Einsicht, dass die Kohlevorräte irgendwann erschöpft sein könnten und Knappheit drohte, kam Einzelnen schon früh, zunächst im Kohleland England. Es wird berichtet, dass es dort bereits im 16.Jahrhundert vereinzelt zu Befürchtungen kam, dass die Kohle endlich sein könnte, und in deren Folge in den Parlamenten Exportverbote für Kohle debattiert wurden.11
Ab dem späten 18.Jahrhundert spielten zunehmend sich ändernde Vorstellungen von Wachstum und Verbrauch hinein. Bis dahin galt das Dogma der Merkantilisten, die den Staat für die Wirtschaft in der Rolle des Initiators, des Handelnden und der Aufsichtsführung sahen.12 Diese praktisch-politischen Ansätze hatten zwar das Ziel der Steigerung der nationalen Wirtschafts- und Handelskraft (auch der Bevölkerung), basierten jedoch auf keiner in sich geschlossenen wirtschaftstheoretischen und -politischen Konzeption. Es war mehr eine Sammlung punktueller, jeweils problembezogener Ideen und Rezepte, ausgerichtet auf Schaffung einer gewerbefördernden Infrastruktur und staatlicher Manufakturen, auf Preisvorgaben, Privilegien, Produktionsvorschriften und Regelung von Ein- und Ausfuhr, und dies alles zur Mehrung des Staatsschatzes.13