Nacktes Entsetzen

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Nacktes Entsetzen
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Friedrich Wulf

Nacktes Entsetzen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Autor

Nacktes Entsetzen

Rache von P bis T

Brüder im Glück

Vollendetes Glück

Jakobs Prophezeiung

Libellenrad

Die Lesung

Zigarettengeld

Elfmeter

Dank fürs Lesen

Impressum neobooks

Der Autor

„Taten ohne Täter“, „Senf, Curry und Ketchup“, „Die letzte Lektion“ - es gibt noch zu viele Leser, die keinen der Krimis gelesen haben.

Nach Schule und Universität arbeitet Wulf als Englischlehrer.

Er hofft darauf, den Satz bald so abwandeln zu können: Nach Schule und Universität arbeitete Wulf als Englischlehrer, bis ihm der Erfolg der Kriminalromane erlaubte, als Schriftsteller zu leben.

Sein Leben ging dann so weiter: Jeden Morgen um acht setzt er sich an den Schreibtisch. Mittags läuft er zehn Kilometer, in Gedanken immer noch bei seinen Figuren, um am Nachmittag weiterzuschreiben.

Drei weitere E-Books erschienen bei Amazon und bei den großen Anbietern von E-Books im epub-Format.

Senf, Curry und Ketchup“ (Krimi)

Die letzte Lektion“ (Krimi)

Taten ohne Täter (Thriller)

Weitere Information gibt es regelmäßig auf seiner Homepage:

https://sites.google.com/site/frwulf/

Auf der Google+ Plattform veröffentlicht er Menschliches, Allzumenschliches aus dem menschlichen Zoo.

https://plus.google.com/u/0/114571594070901332794/posts

Nacktes Entsetzen

Wie fing es an? Wie die meisten verstörenden Ereignisse. Es begann mit dem Alltäglichen, dem Gewöhnlichen, dem Familienleben.

Ich dachte, Vanessa suchte die Hausschlüssel.

„Ablage, Jackentasche, Handtasche, Schublade. Wann hast du sie zum letzten Mal benutzt“, fragte ich.

„Gestern“, antwortete sie.

„Seit gestern warst du nicht mehr raus?“

„Nicht mit dem Auto, ich brauche deine Autoschlüssel.“

„Warum nimmst du nicht dein Auto?“

„Thomas, das Ding ist kaputt.“

„Welches Ding?“, fragte ich.

„Der Schlüssel, der Sender… Hast du doch kaputtgemacht, als die Alarmanlage losplärrte.

Es gibt Tage, an denen das Schicksal besonderen Spaß am Schabernack zu haben scheint. Als ob es nicht gereicht hätte, die Ruhe der Nachbarschaft zu stören, aber nein, ich versuchte den Schaden selbst zu beheben und benutzte dazu ein Brotmesser. In meiner Hast, das wüste Jaulen der Alarmanlage abzustellen, stieß ich mir beim Einsteigen die Brille von der Nase. Halb blind fummelte ich mit dem Brotmesser am Schlüsselsender herum, rutschte ab und stieß mir mit der Messerspitze in den Handballen.

„Hast du den Sender reparieren lassen? Eine neue Brille?“, fragte Vanessa.

„Du glaubst nicht, was das kostet“, sagte ich. „Einhundertundvierzig Euro für einen Sender.“

„Bestellen! Was ist mit der Brille?“

„Zu teuer!“

„Du bist Künstler, Thomas. Ich verstehe dich nicht.“

Das Telefon unterbrach unser Gespräch, das seinen gewöhnlichen Verlauf nehmen wollte, denn wenn wir etwas in unserer Ehe gelernt hatten, dann aus jeder Mücke eine Elefantenherde zu machen. Egal wie nichtig der Anlass, nach wenigen Minuten lagen wir uns in den Haaren und weideten uns an unserer Genialität den anderen mit Bosheiten zu übertreffen. Am Telefon war Sebastian, der sich wunderte, dass ich ihn sofort an der Stimme erkannt hatte. Dabei hatte ich ihn schon tausendmal darum gebeten, er möge meinen vollen Namen benutzen. Aber nein, er scherte sich einen Dreck um meinen Wunsch, sondern machte sich offenbar einen Jokus daraus, mich Tom zu nennen.

Ich reichte Vanessa den Hörer und musste mir ihr Gekicher anhören. Auf meine Frage, worüber sie gelacht habe, antwortete sie nur: „Nichts, nichts weiter. Über die Arbeit. Ich muss jetzt los.“

„Jaja, ich weiß. Und sag ihm, wenn er das nächste Mal anruft, soll er mein „as“ nicht vergessen.“

„Ich muss los.“

„Nur zu, und grüße mir die Nutten.“

„Darauf hab ich gewartet, das bist du, das tust du am liebsten, das kannst du. Sie sind keine Nutten, sie sind Tänzerinnen.“

„Sie ziehen sich aus, und sie…“, sagte ich.

„Das ist stark, das ist wirklich scharf von einem Mann, der den ganzen Tag nackte Frauen anstarrt“, sagte Vanessa.

„Nicht nackt, unbekleidet, da gibt es einen Unterschied“, sagte ich.

„Das ist Haarspalterei“, sagte Vanessa.

„Nein, der Unterschied ist Ästhetik.“

„Du moralisierender Heuchler, sie tun es für Geld, genau wie deine Modelle.“

„Der Unterschied ist, ich beute sie nicht aus.“

„Der Unterschied ist, du bezahlst ihnen einen Hungerlohn, wenn das nicht Ausbeutung ist.“

Ich wollte nicht, dass sie ging. Nicht zu ihrer lausigen Arbeit, schon gar nicht zusammen mit dem jovialen Sebastian ihrem lausigen Kollegen. Vanessa unterstellte mir, dass ich ihre Arbeit nicht schätze, dass ich sie immerzu schlechtmache, was ich natürlich abstritt. Auf meine Andeutung, sie möge nichts Dummes machen, verdrehte sie ihre Augen und erwähnte meine dummen, aber nicht reizlosen Modelle. Ich flehte sie an, nicht zur Arbeit zu gehen, sich krank zu melden, aber sie lachte nur, wie das möglich sei, wer ihr das glauben solle, eben noch gesund und jetzt die galoppierende Grippe? Schon in sieben kleinen Tagen sei sie wieder da.

„Geh nicht, wir bleiben eine Woche im Bett.“

„Die Sendung, es geht nicht.“

„Eine Nacht, nur eine Nacht“, sagte ich. „Du kannst mir zeigen, was du bei den Tänzerinnen gelernt hast. Ich hole mein Taschenkamasutra.“

„Ich muss gehen, nur eine Woche. Wenn die Sendung fertig ist…“

„Die Sendung! Ja, ein weiteres Porno-Programm, worauf die Welt gewartet hat.“

„Schon wieder, du machst meine Arbeit klein“, sagte Vanessa.

„Habe ich nicht nötig, machst du schon selbst.”

Das war ein Fehler. In dem Moment, wo ich es sagte, wusste ich, dass ich es nicht hätte sagen sollen. Aber ich konnte keine Ruhe geben, musste immer weitersticheln.

„Ich will natürlich wissen, alle Welt will wissen, welche Weisheiten sie zum Besten geben, deine Tänzerinnen. Was meinst du, wie viele voyeuristische Dokumentarfilme über Nutten vertragen unsere lüsternen Bildschirme?“

Ich verabscheute, was aus dem Fernsehen geworden war, was es aus der Arbeit von Vanessa gemacht hatte, die mal gut war, richtig gut. Und dann machte sie ihren Fehler, als ich sagte, ihre Pseudo-Berichte über die Pornoindustrie seien für verklemmte Wichser. „Zumindest können wir damit die Rechnungen bezahlen“, rief sie. „Einer von uns muss ja was verdienen, oder?“

Das tat weh. Sie hatte ja Recht, aber dennoch war es verletzend. Und um sie zu verletzten, ließ ich nicht locker und warf ihr vor, dass sie keine Gelegenheit verpasse, mir einzubläuen, wer uns am Leben hielt. Damit hatte ich den Bogen überspannt, denn es stimmte einfach nicht in dieser idiotischen Verallgemeinerung. Wortlos schulterte Vanessa ihre Tasche und stürzte aus dem Haus. Wenige Augenblicke später heulte der Wagen auf wie ein geprügelter Köter.

Das war der Anfang. Vanessa hatte moralisch klar nach Punkten gewonnen und ich schlich im Haus herum, innerlich gleichzeitig winselnd und fluchend. Ich verachtete mich selbst und suhlte mich gleichzeitig in selbstgerechter Entrüstung.

Wie lange ich brauchte, bis sich mein Verstand wieder bemerkbar machte, weiß ich nicht. Zwei Stunden mochten vergangen sein, bis ich mich soweit in der Hand hatte, die sinnvolle Frage nach den nächsten Dingen zu stellen. Am Nachmittag erwartete ich Annica, ein neues Modell. Und gab es nicht tausend Freuden, die auch ohne Vanessa zu haben waren? Am nächsten Abend war ich mit Benjamin verabredet, dessen Stimme am Telefon etwas Drängendes gehabt hatte.

Wie ich an Annica gekommen war? Wie üblich. Der Freund eines Freundes von Benjamin hatte ihr erzählt, dass ich Aktmodelle suchte und so rief sie vor einer Woche an, kam pünktlich, stellte sich überaus geschickt an und hielt die Stellung dann erstaunlich lange, ohne zu zucken.

„Au! Ah!“ „Was ist los“, fragte ich.

„Krampf, im Bein.“

„Kann ich helfen?“

„Ja, halten Sie meinen Fuß, dann drücken, fester, noch fester.“

 

Ihre Züge entspannten sich, sie lächelte und ich blickte in ihre aufgerissenen Augen. Wohin sonst? Stellen Sie sich die Situation vor. Sie nackt, meine Hände um ihren Fuß, ihr Bein zum Körper gedrückt.

„Besser?“, fragte ich.

„Ja, vielen Dank. Tut mir leid.“

Wenn ich zeichnete, war ich nicht bei mir selbst, befand ich mich in einem Zustand, der von Psychologen als Glückszustand gepriesen wird. Jetzt, zurück in der Wirklichkeit mit ihren metaphorischen und wirklichen Krämpfen, wirkte der Streit mit Vanessa fort.

Ich wäre blind gewesen, hätte ich nicht gesehen, dass Annica vom Hals bis zu den Füßen Gänsehaut trug und reichte ihr den Bademantel. Sie blickte mich spöttisch und sagte, sie habe sich an kalte Studios gewöhnt. Darum besorgt, ob sie nach dem Krampf weitermachen könne, lächelte sie, dass sei ja noch gar nichts gewesen. Und so erfuhr ich von ihrer Schinderei als Balletttänzerin und ihrem Traum und dem Trauma. Eine Geschichte wie aus der Klischeemaschinerie Hollywoods.

Mädchen träumt davon Ballerina zu werden, Traum geht in Erfüllung, Traum endet im Trauma eines angebrochenen Halswirbels, Traum endet in Tränen. So müsse sie sich ihre Croissants jetzt als Modell verdienen. Meine Frage, ob sie sich ausgebeutet fühle, beantwortete sie mit einer Gegenfrage, ob ich mich als Voyeur fühle.

„Nein, ich glaube nicht.“

„Na also, Sie verdienen ihren Lebensunterhalt, indem Sie nackte Frauen zeichnen, mir macht es nichts, mich auszuziehen.“

Auf meine Unterscheidung, für mich wäre sie nicht nackt, sondern unbekleidet, meinte sie auflachend, das sei typisch, die typische Verdrehungskunst von Künstlern, die einfachen Dinge zu umnebeln. Die Augenbrauen hoch oben auf der Stirn, sagte sie:

„Das ist ja eine feine Unterscheidung, aber nicht Sie lassen ihre Titten raushängen und strecken den nackten Arsch in die Höhe. Ziehen Sie sich aus und fragen Sie sich dann, ob Sie sich unbekleidet oder nackt fühlen.“

Ihren Vorschlag lehnte ich natürlich ab und verwies auf die professionelle Situation, in der dies alles stattfinde. Aber Annica blieb halsstarrig bei ihrem Ansinnen, ja, sie wollte die Situation komplett auf den Kopf stellen, denn sie selbst besuche Zeichenkurse und würde gern von mir den einen oder anderen Tipp oder Trick lernen. Ich möge mich nicht gebärden wie ein errötendes Mauerblümchen. Nur ein Experiment. Es sei so einfach. Sie stand auf und öffnete den Bademantel wie der berühmte Exhibitionist hinter der Hecke. Ich hatte mich gut dressiert und konnte sie mit interesselosem Wohlgefallen betrachten, solange ich den Stift in der Hand hielt, aber jetzt waren meine Augen nichts als verlängerte Finger. Sie war nackt. Ich stammelte etwas davon, dass es nichts beweisen würde, wenn ich mich auszöge, weil wir einen Vertrag hätten, weil…

„Ach, deswegen sollte ich meinen Bademantel anziehen. Ich verstehe, in dem Moment, wo ich mich als Modell vom Bett erhebe, verwandele ich mich von einem Stück Fleisch in eine Frau.“

Mir war nicht ganz wohl, wie das Gespräch sich entwickelte, schwafelte etwas von Kontext, und dass ich gefürchtet hätte, ihr sei kalt und forderte sie auf, wieder an die Arbeit zu gehen.

Das wilde Winken wäre nicht nötig gewesen. Auf den ersten Blick sah ich Benjamins käsiges Gesicht in dem schwarzen Haargewirr. Und heller geworden war es im Restaurant, einen Hauch heller, so milchweiß leuchtete sein Fassade. Hochgetuntes Hirn, aber Gesten so unbeholfen, dass ich um die Vase auf dem Tisch fürchtete. Er musste etwas im Schilde führen, denn obgleich er knickerig war, hatte er mich in eines dieser Restaurants eingeladen, in dem der Sättigungsgrad sich am Ende des Mahls umgekehrt proportional zum Preis verhält. Mit einem Wort, leerer Magen und leere Börse.

Im Nu hatten wir die üblichen Themen durchgehechelt. Sex kenne er nur noch vom Hörensagen seit der Geburt ihres Sohnes vor 18 Monaten.

„Was macht Vanessa?“, fragte er.

„Sie untersucht den dunklen Unterleib der Sexindustrie. Das ZDF sucht mal wieder eine Entschuldigung um Titten und Ärsche zeigen zu können, verkleiden sie als investigativen Journalismus.“

„Aber ich schätze, die Rechnungen lassen sich davon locker bezahlen“, sagte Benjamin.

Wieder diese Anspielung. Und noch eine oben drauf, als ich ihn zu meiner Ausstellung einlud. Selbstverständlich komme er, die Gelegenheit wolle er nicht versäumen, sich Titten und Ärsche als Kunst verkleidet anzusehen.

„Also weshalb wolltest du mit mir sprechen?“, fragte ich.

„Ich möchte dich zu einem Vortrag einladen, eine Diashow für Studenten bei uns an der Akademie.“

„Worüber?“

„Über dich, über dein Werk.“

„Über mich?“

„Tu nicht so überrascht.“

„Wer hat abgesagt?“

„Thomas!“, sagte er vorwurfsvoll, als sei meine Unterstellung eine Beleidigung.

„Benjamin, ich bin kein Idiot. Warum sollten die Studenten an einem Fossil wie mir interessiert sein. Liefere ihnen einen Installationsscharlatan und sie machen sich vor Ehrfurcht in die Hosen, aber… Gleich erzählst du mir noch, ich wäre auf dem Weg zum letzten Schrei zu werden.“

„Soweit würde ich nicht gehen, aber…“

„Wen soll ich ersetzen?“

„Walter de Maria. Hat ein Bein gebrochen, ist in seinem Studio ausgerutscht in einem Haufen Pferdeäpfel.“

„Heiliger Nietzsche! Gott ist also doch nicht tot! Wann?“

„Mittwoch, diesen Mittwoch. Ich sorge für ein angemessenes Honorar“, sagte Benjamin.

Auf dem Heimweg verfluchte ich mich dafür, dass ich zugesagt hatte. Wenn ich etwas entsetzlich fand, dann vor Publikum zu sprechen. Und wenn ich etwas noch mehr hasste, dann vor Publikum über mein Werk zu sprechen, denn was ich mache, muss für sich selbst sprechen. Alles andere ist absurd. Aber ich konnte das Geld gebrauchen.

Als das Telefon schellte, ungläubiges Erstaunen, dass ich offenbar doch eingeschlafen war. Vanessa vermisste einen Karton mit Bändern und war beruhigt, als ich sie unter dem Couchtisch fand. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich zu entschuldigen, aber nein, wie ein scharfgemachter Köter musste ich wieder zuschnappen, als sie mir sagte, die Arbeiten gingen gut voran, eines der Mädchen sei vor laufender Kamera zusammengebrochen. Sei unglaublich, welche Geschichten die erzählen würden. Nervenzusammenbruch vor laufender Kamera. Und ich, was tat ich? Hielt ich das Maul? Nein, ich musste wieder zubeißen. „Das nenne ich hohe Unterhaltung.“ Und schon war die Leitung tot. Vanessa hatte aufgelegt.

Ich hatte geschlafen und war für einen Augenblick glücklich gewesen, aber Vanessa hatte mich wieder in die Wirklichkeit gestoßen. Mein Magen zog sich sofort zusammen beim Gedanken an den Vortrag am Mittwoch. War es Neugier oder Voyeurismus, ich steckte eines der Bänder in den Videorekorder und schlief im Nu wieder ein.

Für das, was dann geschah, machte ich später meine Schlaftrunkenheit verantwortlich. Wieder riss mich das Telefon aus dem Schlaf, aber dieses Mal war Annica dran, die ihre Handtasche vermisste. Ihre Stimme klang hektisch, drängend, ja fast panisch. Wenn sie die Tasche nicht im Studio vergessen habe, dann wäre sie ihr gestohlen worden mit all den Karten. Müssten sofort gesperrt werden.

Ich kann mir das eigentlich nicht erklären, aber als ich dieses altruistische Angebot machte, war ich zum zweiten Mal aufgewacht und im Augenblick der Verwirrung, dachte ich nicht daran, dass Vanessa das Auto hatte. Also nahm ich ein Taxi zum Studio, fand die Börse hinter der Trennwand, versuchte Annica anzurufen, aber ihr Handy war abgestellt und so fuhr ich mit dem Taxi zu ihrer Wohnung.

Hätte ich mich an der Tür umdrehen sollen, nachdem ich ihr die Handtasche überreicht hatte? Ich wollte nicht hineingehen, wollte aber auch nicht unhöflich sein, das Glas Wein nicht ausschlagen. Annica war glücklich und dankbar, versicherte, die nächste Sitzung gehe aufs Haus. Ihre Wohnung war übrigens ein Schweinestall, indem ich mich unwohl fühlte, auch ohne der Gentleman zu sein, den sie aus mir machen wollte.

„Was halten Sie davon?“ Sie zeigte mir einen Männerakt. „Von Ihnen?“

„Ja! Nein, sagen Sie nichts. Die Leute haben ja keine Ahnung, wie schwer die Aktmalerei ist.“

Dann hielt sie mir eine Kassette unter die Nase. Dazu hätte sie gern meine Meinung, das sei ihre eigentliche Arbeit: Konzeptkunst. Um mich aus dem Staub zu machen, erzählte ich ihr, ich müsse früh raus, hätte noch einen Vortrag für ein paar Kunststudenten vorzubereiten. Wir vereinbarten die nächste Sitzung für Donnerstag. Mit einem Kuss auf die Wange bedankte sie sich zum Abschied für die Tasche.

Zumindest hatte ich es geschafft, davon zu kommen, ohne etwas Unverbindliches zu ihrem Konzept-Video daherschwafeln zu müssen. Außerdem hatte ich genug am Hals mit dem Vortrag über das Leben und Werk von Thomas Lichtblau.

Möglicherweise war mein Vortrag besser angekommen, als ich befürchtet hatte oder diese Studenten waren zu gut erzogen, um mich auszubuhen. Es war vollbracht. Benjamin reichte mir einen doppelten Whisky. In wenigen Minuten würde der Whisky seine Schuldigkeit tun, würden die letzten Zweifel aufgelöst, würde sich milder Hochmut breitmachen. Beinahe hätte ich den ersten Schluck in Benjamins Gesicht geprustet, als ich ihre Stimme hörte.

„Ich gratuliere.“

„Annica, was machen Sie hier?“

„Sie erwähnten den Vortrag, als Sie bei mir waren.“

Aha, sagte Benjamins Neidmiene und seine Gönnermiene verriet: Wenn mein Sexualleben nicht mehr existiert, mein Pech. Habe ich mir doch immer gedacht, dass deine Modelle nicht nur stillsitzen.

Und schon waren wir wieder bei meinem Lieblingsthema. Annica behauptete, dass mein Vortrag gut angekommen sei, ich hielt dagegen, dass sie lieber Walter de Marias Geschwafel über Pferdeäpfel zugehört hätten. Und ich wurde laut, als ich Benjamin widersprach, dass ich keine zeitgenössischen Künstler schätzen würde. Auch wenn ich es schon erwähnt habe, sage ich es noch mal, ich kann keine Ruhe geben.

„Aber von echten Künstlern habt ihr keine Ahnung, weil, das sind nämlich Könner, keine Scharlatane mit Werbeabteilung.“ Und so ging es weiter und weiter. „Neunzig Prozent der Kritiker sind blind. Preisen jeden Mist, sehen nicht, dass der Kaiser nackt ist.“

Ein versoffener Nachmittag taumelte in einen betrunkenen Abend, der mit glasigen Augen in ein solides Besäufnis wankte.

Was dann passierte, habe ich später aus Erinnerungssplittern zusammengesetzt. Annica war mit einem Freund verabredet, der angeblich in meiner Nähe wohnte. Wir nahmen ein Taxi, und weil sie vorgab, für die Verabredung zu früh zu sein, kam sie mit ins Haus. Was hätte ich tun sollen, sie müsse sich erleichtern nach all dem Wein. Mir war schwindlig, ein Frachtzug rumpelte durch meinem Kopf, ich hätte kotzen können, ich wollte nur noch rein und schlafen.

Sie denken, ich hätte sie rauswerfen sollen, nachdem sie… Stimmt. Aber das wäre unhöflich gewesen. Ich weiß, es ist ein Fehler von mir, aber ich hatte keine Lust auf eine weitere Auseinandersetzung. Ich hätte ihr Muttermal auf der linken Schulter beschreiben können, die Blinddarmnarbe und den Schmetterling auf ihrer rechten Hüfte, aber trotzdem war sie eine Fremde, eine Fremde, die ich stundenlang angestarrt hatte, unbekleidet, aber dennoch eine Fremde, die den Stein ins Rollen gebracht hatte und ich war nicht in der Lage ihn aufzuhalten. Sie kramte das Video aus ihrer Handtasche, von dem sie in ihrer Wohnung gesprochen hatte. Sie würde gern wissen, was ich davon hielte. Sie solle es nur da lassen. Aber nicht jetzt ankucken, später.

Vielleicht war ich für einen Augenblick eingenickt. Annica hielt mir ein Buch hin, winkte damit zum Regal.

„Haben Sie die alle gelesen? Auch dies?“

„Meine Frau“, sagte ich lahm.

„Wo ist sie?“

„Nicht da.“

„Wer hätte das gedacht? Ihre Frau liest also Anais Nin.“

„Ist das ein Verbrechen?“, fragte ich.

„Nein, ist interessant, ich meine, die Stellen sind interessant.“

Ich gab zu, dass ich die Stellen auch gelesen hatte, die interessanten.

„Setzen Sie sich hier her.“

Ich wollte nicht, dass sie meinen Kopf massierte, besaß aber nicht genug Kraft, mich dagegen zu wehren. Sie war gut. Ich meine die Kopfmassage zeigte ihre Wirkung. Gut ist nicht das richtige Wort, das Gefühl war ganz erstaunlich, ich wurde ruhig unter ihren Händen, das harte Pulsieren im Kopf wurde weicher und weicher und verebbte schließlich ganz, mein Hirn nur mehr eine Art glücklicher Wackelpudding.

 

Ich weiß nicht, wie lang ich geschlafen hatte, aber als ich aufwachte, waren meine Kopfschmerzen fort, meine Übelkeit und auch Annica. Musste sich fortgestohlen haben, um ihren Freund zu treffen. Ich war erschöpft von den Ereignissen des Tages. Sonst auf peinlichste Hygiene bedacht, erlaubte ich mir eine gewisse Laschheit, warf meine Klamotten auf einen Haufen und kroch ungewaschen ins Bett. Ob ich unter normalen Umständen den Hauch von Blütenduft wahrgenommen hätte, kann ich nicht sagen. Ich fühlte mich großartig, hatte es gegen jede männliche Vernunft geschafft, auf Annicas Angebot nicht Hals über Kopf einzusteigen. Im Traum da durfte und da wollte ich, da hörte ich ihre Stimme.

„Thomas, schläfst du schon, Thomas?“

Ich drehte mich um, in Vanessas Bademantel gewickelt lag sie neben mir im Bett.

„Warum trägst du den Bademantel?“

„Ich hätte ja gefragt, aber du bist eingenickt.“

„Wie, du hattest ein Bad, in meinem Haus?“

„Nein, beim Nachbarn.“

„Ich denke, du wolltest einen Freund treffen.“

„Ich dachte, wir wären befreundet.“

„Wir kennen uns kaum.“

„Ich würde sagen, du kennst mich recht gut.“

„Zieh den Bademantel wieder an.“

„Und ich möchte dich noch besser kennenlernen.“

„Zieh ihn wieder an.“

„Sind wir wieder bei der nackt oder unbekleidet Diskussion. Was bin ich denn jetzt? Da ich nicht posiere, bin ich nackt, oder? Ich bin doch nackt, ja? Und du, bist du darunter auch nackt?“

„Nicht! Lass die Decke los!“

„Warum so schüchtern?“

„Bitte Annica!“

„Gewonnen! Hast nicht gedacht, dass ich so stark bin.“

„Bitte zieh dich an und geh! Stell dir vor, meine Frau käme herein?“

„Kann sie nicht“, sagte Annica, „sie ist weg, filmen.“

„Woher weißt du das?“

„Hast du mir erzählt.“

„Habe ich nicht, nur dass sie nicht da ist, vom Filmen habe ich nichts gesagt.“

„Du hast mich ins Haus eingeladen, ich habe dir eine Massage gegeben.“

„Du hast dich eingeladen und du hast mir die Massage aufgedrängt. Und nun zieh deine Klamotten an und verlass bitte das Haus.“

„Du bist erbärmlich, ein Waschlappen.“

„Meinetwegen, aber bitte hau jetzt ab.“

„Was ist nur los mit dir?“

„Mit mir, schau dich um, sieht das normal aus?“

„Zwei nackte Menschen im Bett, was könnte normaler sein?“

Dann rastete ich aus, warf die Bettdecke zurück und schrie sie an.

„Sieht das so aus, als ob ich dich hier haben wollte? Sieht das so aus, als wäre ich scharf auf dich?“

„Deswegen brauchst du nicht zu schreien.“

Mit der flachen Hand stieß ich gegen ihre Stirn.

„Sonst komme ich dort nicht an. Bin ich jetzt dort angekommen? Ich will dich hier nicht, also hinaus!“

Die ganze Situation endete peinlich. Ich entschuldigte mich für meinen Ausbruch, weil sie weinte, entschuldigte mich dafür, sie verletzt zu haben, versicherte ihr, dass ich sie mochte, aber eben nicht so, wie sie es verstanden hatte. Ich zitterte vor Anspannung und den Nachwirkungen des Besäufnisses, nahm ihr aber nicht den Glauben, ich zittere, weil sie mich ängstige. Schließlich ging sie ins Bad, zog sich an und ich brachte sie zur Tür, wo sie mich fragte, wann ich sie sehen wolle. Ich war zu überrascht, eine Ausrede zu finden. Sie komme dann um zehn zur Sitzung, die wie verabredet auf ihre Rechnung gehe. Ich drehte den Schlüssel zweimal um und ging wieder ins Bett, konnte das Bibbern aber nicht stoppen. Ich denke, es war ein Schock. Ich lag da und klapperte mit den Zähnen. Schließlich ging ich ins Bad und maß die Temperatur. Aber der Bademantel auf dem Boden und der Blütengeruch brachten die Erinnerungen zurück. Jetzt halfen nur noch robuste Maßnahmen. Ich goss mir einen großen Whisky hinter die Binde und musste auf der Stelle kotzen.

Vielleicht war es der Vorsatz, am anderen Tag nicht ins Studio zu gehen, der mich schließlich beruhigte. Aber es war ein klarer Morgen und ich hatte allerhand zu tun für die neue Ausstellung. Also ging ich hin, nahm mir jedoch vor, ihr zu sagen, dass ich sie nicht mehr brauche, sollte sie überhaupt auftauchen. Und wirklich, das Schicksal schien es freundlich mit mir zu meinen, sie erschien nicht, ich kam mit der Arbeit gut voran und ich erinnere mich noch genau, am Freitagmorgen pfiff ich mir ein Liedchen bei dem Gedanken, die Geschichte demnächst als kuriose Anekdote in Männerrunden zum Besten geben zu können. Als ich am Freitagabend von einem Treffen mit meiner Galeristin zurückkam, hatte ich Annica fast vergessen.

Ich hatte das Ei gerade geköpft, als die Türklingel ging. Ausgerechnet beim Ei, kalte Eier sind mir ein Gräuel. Eine Frau, rundes offenes Gesicht mit scharf hervorspringender Nase fummelte in ihrer Handtasche herum.

„Ich kaufe nichts und benötige auch keine Versicherung.“

Den Rest kennen Sie aus tausend Krimis. Selbst die gespielte Naivität ist ja inzwischen ein alter Hut.

„Passiert mir immer wieder, muss an meinem Vertretergesicht liegen“, sagte sie und stellte sich als Rita Degen vor, Kommissarin Rita Degen. Sie bedankte sich für den Kaffee und prompt präsentierte sie ein Foto von Annica.

„Verstehe, sie hat Modell gestanden, Aktmodell, also nackt?“, fragte sie.

„Unbekleidet“, sagte ich.

„Unbekleidet?“, fragte sie, „also nicht ganz nackt?“

„Doch, doch nackt, wenn Sie so wollen.“

„Will ich nicht“, sagte sie, „mir nur ein Bild machen. Können wir uns eventuell auf nackt einigen?“

„Ja, nackt.“

„Ich verstehe“, sagte sie. „Aber von wem sie davon erfahren hatte, dass Sie Modelle brauchen, wissen Sie nicht. Und Sie haben sie am Mittwoch zum letzten Mal gesehen? Mittwochabend.“

„Mittwochabend um 11.30 Uhr dreißig.“

„Und Ihre Frau ist zum Filmen. Ihr Verhältnis zu Annica war also rein beruflich. Schon klar.“

Können Sie sich vorstellen, wie sie das „Schonklar“ gesprochen hat?

„Also gut, ich erzähle Ihnen jetzt genau, wie alles gewesen ist.“

Ich Idiot. Je mehr ich erzählte, desto schlimmer klang alles, bis ich an einen Punkt kam, wo ich mich selbst verdächtigte. Weiß der Teufel, wie überzeugend mein Schlussseufzer klang.

„Es war alles entsetzlich peinlich. Aber weshalb sind Sie denn eigentlich hier?“

Können Sie sich vorstellen, wie mir das Gesicht verrutschte, das Maul zum Fliegenfangen weit aufgerissen, als ich von ihr erfuhr, dass ihre Putzfrau sie bei der Polizei als vermisst gemeldet hatte.

„Wie, das versteh ich nicht. Sie hat eine Putzfrau?“

„Ja.“

„Annicas Bude hat noch nie ein Staubtuch gesehen, geschweige denn gründliches Säubern. Sie lebt in einem Saustall.“

Aber die Annica meiner Kommissarin lebte nicht im Riemekeviertel, sondern in einer Maisonettwohnung in der Nähe der Fischteiche. Und also spielte Rita Degen den Papagei oder den Columbo oder sich selbst, indem sie noch einmal nachfragte, ob sie das richtig verstanden habe. Von hier ins Studio und dann ins Riemekeviertel zu Annica und das alles wegen einer vergessenen Tasche. Ich sei wohl ein Menschenfreund, komme selten vor heutzutage, leider viel zu selten, wirkliches Interesse zu zeigen für seine Mitgeschöpfe. Sie wolle mir nichts unterstellen, das seien nun mal so Fragen, die sie stellen müsse.

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