Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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126

In­ter­essant, aber nicht schön. – Die­se Ge­gend ver­birgt ih­ren Sinn, aber sie hat einen, den man er­ra­ten möch­te: wo­hin ich sehe, lese ich Wor­te und Win­ke zu Wor­ten aber ich weiß nicht, wo der Satz be­ginnt, der das Rät­sel al­ler die­ser Win­ke löst, und wer­de zum Wen­de­hals dar­über, zu un­ter­su­chen, ob von hier oder von dort aus zu le­sen ist.

127

Ge­gen die Sprach-Neue­rer. – In der Spra­che neu­ern oder al­ter­tü­meln, das Sel­te­ne und Fremd­ar­ti­ge vor­zie­hen, auf Reich­tum des Wort­schat­zes statt auf Be­schrän­kung trach­ten, ist im­mer ein Zei­chen des un­ge­reif­ten oder ver­derb­ten Ge­schmacks. Eine edle Ar­mut, aber in­ner­halb des un­schein­ba­ren Be­sit­zes eine meis­ter­li­che Frei­heit zeich­net die grie­chi­schen Künst­ler der Rede aus: sie wol­len we­ni­ger ha­ben, als das Volk hat – denn die­ses ist am reichs­ten in Al­tem und Neu­em – aber sie wol­len dies We­ni­ger bes­ser ha­ben. Man ist schnell mit dem Auf­zäh­len ih­rer Archais­men und Fremd­ar­tig­kei­ten fer­tig, aber kommt nicht zu Ende im Be­wun­dern, wenn man für die leich­te und zar­te Art ih­res Ver­kehrs mit dem All­täg­li­chen und schein­bar längst Ver­brauch­ten in Wor­ten und Wen­dun­gen ein gu­tes Auge hat.

128

Die trau­ri­gen und die erns­ten Au­to­ren. – Wer zu Pa­pier bringt, was er lei­det, wird ein trau­ri­ger Au­tor: aber ein erns­ter, wenn er uns sagt, was er lit­t und wes­halb er jetzt in der Freu­de aus­ruht.

129

Ge­sund­heit des Ge­schmacks. – Wie kommt es, daß die Ge­sund­hei­ten nicht so an­ste­ckend sind wie die Krank­hei­ten – über­haupt, und na­ment­lich im Ge­schmack? Oder gibt es Epi­de­mi­en der Ge­sund­heit? –

130

Vor­satz. – Kein Buch mehr le­sen, das zu glei­cher Zeit ge­bo­ren und (mit Tin­te) ge­tauft wur­de.

131

Den Ge­dan­ken ver­bes­sern. – Den Stil ver­bes­sern – das heißt den Ge­dan­ken ver­bes­sern, und gar Nichts wei­ter! – Wer dies nicht so­fort zu­gibt, ist auch nie da­von zu über­zeu­gen.

132

Klas­si­sche Bü­cher. – Die schwächs­te Sei­te je­des klas­si­schen Bu­ches ist die, daß es zu sehr in der Mut­ter­spra­che sei­nes Au­tors ge­schrie­ben ist.

133

Schlech­te Bü­cher. – Das Buch soll nach Fe­der, Tin­te und Schreib­tisch ver­lan­gen: aber ge­wöhn­lich ver­lan­gen Fe­der, Tin­te und Schreib­tisch nach dem Bu­che. Des­halb ist es jetzt so we­nig mit Bü­chern.

134

Sin­nes­ge­gen­wart. – Das Pub­li­kum wird, wenn es über Ge­mäl­de nach­denkt, da­bei zum Dich­ter, und wenn es über Ge­dich­te nach­denkt, zum For­scher. Im Au­gen­blick, da der Künst­ler es an­ruft, fehlt es ihm im­mer am rech­ten Sinn, nicht also an der Geis­tes-, son­dern an der Sin­nes­ge­gen­wart.

135

Ge­wähl­te Ge­dan­ken. – Der ge­wähl­te Stil ei­ner be­deu­ten­den Zeit wählt nicht nur die Wor­te, son­dern auch die Ge­dan­ken aus, – und zwar bei­de aus dem Üb­li­chen und Herr­schen­den: die ge­wag­ten und all­zu­frisch rie­chen­den Ge­dan­ken sind dem rei­fe­ren Ge­schmack nicht min­der zu­wi­der als die neu­en toll­küh­nen Bil­der und Aus­drücke. Spä­ter riecht bei­des – der ge­wähl­te Ge­dan­ke und das ge­wähl­te Wort – leicht nach Mit­tel­mä­ßig­keit, weil der Ge­ruch des Ge­wähl­ten sich schnell ver­flüch­tigt und dann nur noch das Üb­li­che und All­täg­li­che dar­an ge­schmeckt wird.

136

Haupt­grund der Ver­derb­nis des Stils. – Mehr Emp­fin­dung für eine Sa­che zei­gen wol­len, als man wirk­lich hat, verdirbt den Stil, in der Spra­che und in al­len Küns­ten. Viel­mehr hat alle große Kunst die um­ge­kehr­te Nei­gung: sie liebt es, gleich je­dem sitt­lich be­deu­ten­den Men­schen, das Ge­fühl auf sei­nem Wege an­zu­hal­ten und nicht ganz ans Ende lau­fen zu las­sen. Die­se Scham der hal­b­en Ge­fühls-Sicht­bar­keit ist zum Bei­spiel bei So­pho­kles auf das Schöns­te zu be­ob­ach­ten; und es scheint die Züge der Emp­fin­dung zu ver­klä­ren, wenn die­se sich sel­ber nüch­ter­ner gibt, als sie ist.

137

Zur Ent­schul­di­gung der schwer­fäl­li­gen Sti­lis­ten. – Das Leicht-Ge­sag­te fällt sel­ten so schwer ins Ge­hör, als die Sa­che wirk­lich wiegt – das liegt aber an den schlecht ge­schul­ten Ohren, wel­che aus der Er­zie­hung durch das, was man bis­her Mu­sik nann­te, in die Schu­le der hö­he­ren Ton­kunst, das heißt der Re­de, über­ge­hen müs­sen.

138

Vo­gel­per­spek­ti­ve. – Hier stür­zen Wild­was­ser von meh­re­ren Sei­ten ei­nem Sch­lun­de zu: ihre Be­we­gung ist so stür­misch und reißt das Auge so mit sich fort, daß die kah­len und be­wal­de­ten Ge­birgs­hän­ge rings­um nicht ab­zu­sin­ken, son­dern wie hin­ab­zu­flie­hen schei­nen. Man wird beim An­blick angst­voll ge­spannt, als ob et­was Feind­se­li­ges hin­ter al­le­dem ver­bor­gen lie­ge, vor dem al­les flüch­ten müs­se, und ge­gen das uns der Ab­grund Schutz ver­lie­he. Die­se Ge­gend ist gar nicht zu ma­len, es sei denn, daß man wie ein Vo­gel in der frei­en Luft über ihr schwe­be. Hier ist ein­mal die so­ge­nann­te Vo­gel­per­spek­ti­ve nicht eine künst­le­ri­sche Will­kür, son­dern die ein­zi­ge Mög­lich­keit.

139

Ge­wag­te Ver­glei­chun­gen. – Wenn die ge­wag­ten Ver­glei­chun­gen nicht Be­wei­se vom Mut­wil­len des Schrift­stel­lers sind, so sind sie Be­wei­se sei­ner er­mü­de­ten Phan­ta­sie. In je­dem Fal­le aber sind sie Be­wei­se sei­nes schlech­ten Ge­schmackes.

140

In Ket­ten tan­zen. – Bei je­dem grie­chi­schen Künst­ler, Dich­ter und Schrift­stel­ler ist zu fra­gen: wel­ches ist der neue Zwang, den er sich auf­er­legt und den er sei­nen Zeit­ge­nos­sen reiz­voll macht (so daß er Nach­ah­mer fin­det)? Denn was man "Er­fin­dung" (im Me­tri­schen zum Bei­spiel) nennt, ist im­mer eine sol­che selbst­ge­leg­te Fes­sel. "In Ket­ten tan­zen", es sich schwer ma­chen und dann die Täu­schung der Leich­tig­keit dar­über brei­ten, – das ist das Kunst­stück, wel­ches sie uns zei­gen wol­len. Schon bei Ho­mer ist eine Fül­le von ver­erb­ten For­meln und epi­schen Er­zäh­lungs­ge­set­zen wahr­zu­neh­men in­ner­halb de­ren er tan­zen muß­te: und er sel­ber schuf neue Kon­ven­tio­nen für die Kom­men­den hin­zu. Dies war die Er­zie­hungs-Schu­le der grie­chi­schen Dich­ter: zu­erst also einen viel­fäl­ti­gen Zwang sich auf­er­le­gen las­sen durch die frü­he­ren Dich­ter; so­dann einen neu­en Zwang hin­zu­er­fin­den, ihn sich auf­er­le­gen und ihn an­mu­tig be­sie­gen: so daß Zwang und Sieg be­merkt und be­wun­dert wer­den.

141

Fül­le der Au­to­ren. – Das Letz­te, was ein gu­ter Au­tor be­kommt, ist Fül­le; wer sie mit­bringt, wird nie ein gu­ter Au­tor wer­den. Die edels­ten Renn­pfer­de sind ma­ger, bis sie von ih­ren Sie­gen aus­ru­hen dür­fen.

142

Keu­chen­de Hel­den. – Dich­ter und Künst­ler, die an Eng­brüs­tig­keit des Ge­fühls lei­den, las­sen ihre Hel­den am meis­ten keu­chen: sie ver­ste­hen sich auf das leich­te At­men nicht.

143

Der Halb-Blin­de. – Der Halb-Blin­de ist der Tod­feind al­ler Au­to­ren, wel­che sich ge­hen las­sen. Die­se soll­ten sei­nen In­grimm ken­nen, mit dem er ein Buch zu­schlägt, aus wel­chem er merkt, daß sein Ver­fas­ser fünf­zig Sei­ten braucht, um fünf Ge­dan­ken mit­zu­tei­len; je­nen In­grimm dar­über, den Rest sei­ner Au­gen fast ohne Ent­gelt in Ge­fahr ge­bracht zu ha­ben. – Ein Halb-Blin­der sag­te: al­le Au­to­ren ha­ben sich ge­hen las­sen. – "Auch der hei­li­ge Geist?" – Auch der hei­li­ge Geist. Aber der durf­te es; er schrieb für, die Ganz-Blin­den.

144

Der Stil der Uns­terb­lich­keit. – Thu­ky­di­des so­wohl wie Ta­ci­tus – bei­de ha­ben beim Aus­ar­bei­ten ih­rer Wer­ke an eine un­s­terb­li­che Dau­er der­sel­ben ge­dacht: dies wür­de, wenn man es sonst nicht wüß­te, schon aus ih­rem Sti­le zu er­ra­ten sein. Der eine glaub­te sei­nen Ge­dan­ken durch Ein­sal­zen, der an­de­re durch Ein­ko­chen Dau­er­haf­tig­keit zu ge­ben; und bei­de, scheint es, ha­ben sich nicht ver­rech­net.

145

Ge­gen Bil­der und Gleich­nis­se. – Mit Bil­dern, und Gleich­nis­sen über­zeugt man, aber be­weist nicht. Des­halb hat man in­ner­halb der Wis­sen­schaft eine sol­che Scheu vor Bil­dern und Gleich­nis­sen; man will hier ge­ra­de das Über­zeu­gen­de, das Glaub­lich-Ma­chen­de nicht und for­dert viel­mehr das käl­tes­te Miß­trau­en auch schon durch die Aus­drucks­wei­se und die kah­len Wän­de her­aus: weil das Miß­trau­en der Prüf­stein für das Gold der Ge­wiß­heit ist.

146

Vor­sicht. – Wem es an gründ­li­chem Wis­sen ge­bricht, der mag sich in Deutsch­land ja hü­ten, zu schrei­ben. Denn der gute Deut­sche sagt da nicht: "er ist un­wis­send", son­dern: "er ist von zwei­fel­haf­tem Cha­rak­ter". – Die­ser über­eil­te Schluß macht üb­ri­gens den Deut­schen alle Ehre.

147

Be­mal­te Ge­rip­pe. – Be­mal­te Ge­rip­pe: das sind jene Au­to­ren, wel­che das, was ih­nen an Fleisch ab­ge­ht, durch künst­li­che Far­ben er­set­zen möch­ten.

 

148

Der groß­ar­ti­ge Stil und das Hö­he­re. – an lernt es schnel­ler, groß­ar­tig schrei­ben, als leicht und schlicht schrei­ben. Die Grün­de da­von ver­lie­ren sich ins Mora­li­sche.

149

Se­bas­ti­an Bach. – So­fern man Bachs Mu­sik nicht als voll­kom­me­ner und ge­wit­zig­ter Ken­ner des Kon­tra­punk­tes und al­ler Ar­ten des fu­gier­ten Sti­les hört und dem­ge­mäß des ei­gent­li­chen ar­tis­ti­schen Ge­nus­ses ent­ra­ten muß, wird es uns als Hö­rern sei­ner Mu­sik zu­mu­te sein (um uns gran­di­os mit Goe­the aus­zu­drücken), als ob wir da­bei wä­ren, wie Gott die Welt schuf. Das heißt: wir füh­len, daß hier et­was Gro­ßes im Wer­den ist, aber noch nicht ist: un­se­re große mo­der­ne Mu­sik. Sie hat schon die Welt über­wun­den, da­durch daß sie die Kir­che, die Na­tio­na­li­tä­ten und den Kon­tra­punkt über­wand. In Bach ist noch zu­viel kru­de Christ­lich­keit, kru­des Deutsch­tum, kru­de Scho­las­tik; er steht an der Schwel­le der eu­ro­päi­schen (mo­der­nen) Mu­sik, aber schaut sich von hier nach dem Mit­tel­al­ter um.

150

Hän­del. – Hän­del, im Er­fin­den sei­ner Mu­sik kühn, neue­rungs­süch­tig, wahr­haft, ge­wal­tig, dem He­ro­i­schen zu­ge­wandt und ver­wandt, des­sen ein Volk fä­hig ist, – wur­de bei der Aus­ar­bei­tung oft be­fan­gen und kalt, ja an sich sel­ber müde; da wen­de­te er ei­ni­ge er­prob­te Metho­den der Durch­füh­rung an, schrieb schnell und viel und war froh, wenn er fer­tig war, – aber nicht in der Art froh, wie es Gott und an­de­re Schöp­fer am Aben­de ih­res Werk­ta­ges ge­we­sen sind.

151

Haydn. – So­weit sich Ge­nia­li­tät mit ei­nem schlecht­hin gu­ten Men­schen ver­bin­den kann, hat Haydn sie ge­habt. Er geht ge­ra­de bis an die Gren­ze, wel­che die Mora­li­tät dem In­tel­lekt zieht; er macht lau­ter Mu­sik, die "kei­ne Ver­gan­gen­heit" hat.

152

Beetho­ven und Mo­zart. – Beetho­vens Mu­sik er­scheint häu­fig wie eine tief­be­weg­te Be­trach­tung beim un­er­war­te­ten Wie­der­hö­ren ei­nes längst ver­lo­ren ge­glaub­ten Stückes "Un­schuld in Tö­nen": es ist Mu­sik über Mu­sik. Im Lie­de der Bett­ler und Kin­der auf der Gas­se, bei den ein­tö­ni­gen Wei­sen wan­dern­der Ita­lie­ner, beim Tan­ze in der Dorf­schen­ke oder in den Näch­ten des Kar­ne­vals, – da ent­deckt er sei­ne "Me­lo­di­en": er trägt sie wie eine Bie­ne zu­sam­men, in­dem er bald hier bald dort einen Laut, eine kur­ze Fol­ge er­hascht. Es sind ihm ver­klär­te Erin­ne­run­gen aus der "bes­se­ren Welt": ähn­lich wie Pla­to es sich von den Ide­en dach­te. – Mo­zart steht ganz an­ders zu sei­nen Me­lo­di­en: er fin­det sei­ne In­spi­ra­tio­nen nicht beim Hö­ren von Mu­sik, son­dern im Schau­en des Le­bens, des be­weg­tes­ten süd­län­di­schen Le­bens: er träum­te im­mer von Ita­li­en, wenn er nicht dort war.

153

Re­zi­ta­tiv. – Ehe­mals war das Re­zi­ta­tiv tro­cken; jetzt le­ben wir in der Zeit des nas­sen Re­zi­ta­tivs: es ist ins Was­ser ge­fal­len, und die Wel­len rei­ßen es, wo­hin sie wol­len.

154

"Hei­te­re" Mu­sik. – Hat man lan­ge die Mu­sik ent­behrt, so geht sie nach­her wie ein schwe­rer Süd­wein all­zu­schnell ins Blut und hin­ter­läßt eine nar­ko­tisch be­täub­te, halb­wa­che, schlaf-sehn­süch­ti­ge See­le; na­ment­lich tut dies ge­ra­de die hei­te­re Mu­sik, wel­che zu­sam­men Bit­ter­keit und Ver­wun­dung, Über­druß und Heim­weh gibt und al­les wie in ei­nem ver­zu­cker­ten Gift­ge­tränk wie­der und wie­der zu schlür­fen nö­tigt. Da­bei scheint der Saal der hei­ter rau­schen­den Freu­de sich zu ver­en­gern, das Licht an Hel­le zu ver­lie­ren und bräu­ner zu wer­den: zu­letzt ist es ei­nem zu Mute, als ob die Mu­sik wie in ein Ge­fäng­nis hin­ein­klin­ge, wo ein ar­mer Mensch vor Heim­weh nicht schla­fen kann.

155

Franz Schu­bert. – Franz Schu­bert, ein ge­rin­ge­rer Ar­tist als die an­de­ren großen Mu­si­ker, hat­te doch von al­len den größ­ten Er­breich­tum an Mu­sik. Er ver­schwen­de­te ihn mit vol­ler Hand und aus gü­ti­gem Her­zen: so daß die Mu­si­ker noch ein paar Jahr­hun­der­te an sei­nen Ge­dan­ken und Ein­fäl­len zu zeh­ren ha­ben wer­den. In sei­nen Wer­ken ha­ben wir einen Schatz von un­ver­brauch­ten Er­fin­dun­gen; an­de­re wer­den ihre Grö­ße im Ver­brau­chen ha­ben. – Dürf­te man Beetho­ven den idea­len Zu­hö­rer ei­nes Spiel­man­nes nen­nen, so hät­te Schu­bert dar­auf ein An­recht, sel­ber der idea­le Spiel­mann zu hei­ßen.

156

Mo­d­erns­ter Vor­trag der Mu­sik. – Der große tra­gisch dra­ma­ti­sche Vor­trag in der Mu­sik be­kommt sei­nen Cha­rak­ter durch Nach­ah­mung der Ge­bär­den des großen Sün­ders, wie ihn das Chris­ten­tum sich denkt und wünscht: des lang­sam Schrei­ten­den, lei­den­schaft­lich Grü­beln­den, des von Ge­wis­sens­qual Hin- und Her­ge­wor­fe­nen, des ent­setzt Flie­hen­den, des ent­zückt Ha­schen­den, des ver­zwei­felt Stil­le­ste­hen­den – und was sonst al­les die Merk­ma­le des großen Sün­der­tums sind. Nur un­ter der Voraus­set­zung des Chris­ten, daß alle Men­schen große Sün­der sind und gar nichts tun, als sün­di­gen, lie­ße es sich recht­fer­ti­gen, je­nen Stil des Vor­trags auf al­le Mu­sik an­zu­wen­den: in­so­fern die Mu­sik das Ab­bild al­les mensch­li­chen Tun und Trei­bens wäre, und als sol­ches die Ge­bär­den­spra­che des großen Sün­ders fort­wäh­rend zu spre­chen hät­te. Ein Zu­hö­rer, der nicht ge­nug Christ wäre, um die­se Lo­gik zu ver­ste­hen, dürf­te frei­lich bei ei­nem sol­chen Vor­tra­ge er­schreckt aus­ru­fen: "Um des Him­mels wil­len, wie ist denn die Sün­de in die Mu­sik ge­kom­men!"

157

Fe­lix Men­dels­sohn. – Fe­lix Men­dels­sohns Mu­sik ist die Mu­sik des gu­ten Ge­schmacks an al­lem Gu­ten, was da­ge­we­sen ist: sie weist im­mer hin­ter sich. Wie könn­te sie viel "Vor-sich", viel Zu­kunft ha­ben! – Aber hat er sie denn ha­ben wol­len? Er be­saß eine Tu­gend, die un­ter Künst­lern sel­ten ist, die der Dank­bar­keit ohne Ne­ben­ge­dan­ken: auch die­se Tu­gend weist im­mer hin­ter sich.

158

Ei­ne Mut­ter der Küns­te. – In un­se­rem skep­ti­schen Zeit­al­ter ge­hört zur ei­gent­li­chen De­vo­tion fast ein bru­ta­ler He­ro­is­mus des Ehr­gei­zes; das fa­na­ti­sche Au­gen­schlie­ßen und Knie­beu­gen ge­nügt nicht mehr. Wäre es nicht mög­lich, daß der Ehr­geiz, in der De­vo­ti­on der Letz­te für alle Zei­ten zu sein, der Va­ter ei­ner letz­ten ka­tho­li­schen Kir­chen­mu­sik wür­de, wie er schon der Va­ter des letz­ten kirch­li­chen Bau­stils ge­we­sen ist? (Man nennt ihn Je­sui­ten­stil.)

159

Frei­heit in Fes­seln – eine fürst­li­che Frei­heit. – Der letz­te der neue­ren Mu­si­ker, der die Schön­heit ge­schaut und an­ge­be­tet hat gleich Leo­par­di, der Pole Cho­pin, der Un­nach­ahm­li­che – alle vor und nach ihm Ge­kom­me­nen ha­ben auf dies Bei­wort kein An­recht – Cho­pin hat­te die­sel­be fürst­li­che Vor­nehm­heit der Kon­ven­ti­on, wel­che Raf­fa­el im Ge­brau­che der her­kömm­lichs­ten ein­fachs­ten Far­ben zeigt, – aber nicht in be­zug auf Far­ben, son­dern auf die me­lo­di­schen und rhyth­mi­schen Her­kömm­lich­kei­ten. Die­se ließ er gel­ten, als ge­bo­ren in der Eti­quet­te, aber wie der frei­es­te und an­mu­tigs­te Geist in die­sen Fes­seln spie­lend und tan­zend – und zwar oh­ne sie zu ver­höh­nen.

160

Cho­pins Bar­ca­ro­le. – Fast alle Zu­stän­de und Le­bens­wei­sen ha­ben einen se­li­gen Mo­ment. Den wis­sen die gu­ten Künst­ler her­aus­zu­fi­schen. So hat einen sol­chen selbst das Le­ben am Stran­de, das so lang­wei­li­ge, schmut­zi­ge, un­ge­sun­de, in der Nähe des lär­mends­ten und hab­gie­rigs­ten Ge­sin­dels sich ab­spin­nen­de; – die­sen se­li­gen Mo­ment hat Cho­pin in der Bar­ca­ro­le so zum Er­tö­nen ge­bracht, daß selbst Göt­ter da­bei ge­lüs­ten könn­te, lan­ge Som­mer­aben­de in ei­nem Kah­ne zu lie­gen.

161

Ro­bert Schu­mann. – Der "Jüng­ling", wie ihn die ro­man­ti­schen Lie­der­dich­ter Deutsch­lands und Frank­reichs um das ers­te Drit­tel die­ses Jahr­hun­derts träum­ten, – die­ser Jüng­ling ist voll­stän­dig in Sang und Ton über­setzt wor­den – durch Ro­bert Schu­mann, den ewi­gen Jüng­ling, so lan­ge er sich in vol­ler eig­ner Kraft fühl­te: es gibt frei­lich Mo­men­te, in de­nen sei­ne Mu­sik an die ewi­ge "alte Jung­fer" er­in­nert.

162

Die dra­ma­ti­schen Sän­ger. – "Wa­rum singt die­ser Bett­ler?" – Er ver­steht wahr­schein­lich nicht zu jam­mern. – "Dann tut er Recht: aber un­se­re dra­ma­ti­schen Sän­ger, wel­che jam­mern, weil sie nicht zu sin­gen ver­ste­hen – tun sie auch das Rech­te?"

163

Dra­ma­ti­sche Mu­sik. – Für den, wel­cher nicht sieht, was auf der Büh­ne vor­geht, ist die dra­ma­ti­sche Mu­sik ein Un­ding; so gut der fort­lau­fen­de Kom­men­tar zu ei­nem ver­lo­ren ge­gan­ge­nen Tex­te ein Un­ding ist. Sie ver­langt ganz ei­gent­lich, daß man auch die Ohren dort habe, wo die Au­gen ste­hen; da­mit ist aber an Eu­ter­pe Ge­walt ge­übt: die­se arme Muse will, daß man ihre Au­gen und Ohren dort ste­hen las­se, wo alle an­de­ren Mu­sen sie auch ha­ben.

164

Sieg und Ver­nünf­tig­keit. – Lei­der ent­schei­det auch bei den äs­the­ti­schen Krie­gen, wel­che Künst­ler mit ih­ren Wer­ken und de­ren Schutz­re­den er­re­gen, zu­letzt die Kraft und nicht die Ver­nunft. Jetzt nimmt alle Welt als his­to­ri­sche Tat­sa­che an, daß Gluck im Kamp­fe mit Pic­ci­ni Recht ge­habt habe: je­den­falls hat er ge­siegt; die Kraft stand auf sei­ner Sei­te.

165

Vom Prin­zi­pe des Vor­trags in der Mu­sik. – Glau­ben denn wirk­lich die jet­zi­gen Künst­ler des mu­si­ka­li­schen Vor­trags, das höchs­te Ge­bot ih­rer Kunst sei, je­dem Stück so viel Hochre­li­e­f zu ge­ben, als nur mög­lich ist, und es um je­den Preis eine dra­ma­ti­sche Spra­che re­den zu las­sen? Ist dies, zum Bei­spiel auf Mo­zart an­ge­wen­det, nicht ganz ei­gent­lich eine Sün­de wi­der den Geist, den hei­te­ren, son­ni­gen, zärt­li­chen, leicht­sin­ni­gen Geist Mo­zarts, des­sen Ernst ein gü­ti­ger und nicht ein furcht­ba­rer Ernst ist, des­sen Bil­der nicht aus der Wand her­aus­sprin­gen wol­len, um die An­schau­en­den in Ent­set­zen und Flucht zu ja­gen. Oder meint ihr, Mo­zar­ti­sche Mu­sik sei gleich­be­deu­tend mit "Mu­sik des stei­ner­nen Gas­tes"? Und nicht nur Mo­zar­ti­sche, son­dern alle Mu­sik? – Aber ihr ent­geg­net, die grö­ße­re Wir­kung spre­che zu­guns­ten eu­res Prin­zips – und ihr hät­tet recht, wo­fern nicht die Ge­gen­fra­ge üb­rig blie­be, auf wen da ge­wirkt wor­den sei, und auf wen ein vor­neh­mer Künst­ler über­haupt nur wir­ken wol­len dür­fe! Nie­mals auf das Volk! Nie­mals auf die Un­rei­fen! Nie­mals auf die Emp­find­sa­men! Nie­mals auf die Krank­haf­ten! Vor al­lem aber: nie­mals auf die Ab­ge­stumpf­ten!