Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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74

Das Ge­bet. – Nur un­ter zwei Voraus­set­zun­gen hat­te al­les Be­ten – jene noch nicht völ­lig er­lo­sche­ne Sit­te äl­te­rer Zei­ten – einen Sinn: es müß­te mög­lich sein, die Gott­heit zu be­stim­men oder um­zu­stim­men, und der Be­ten­de müß­te sel­ber am bes­ten wis­sen, was ihm not tue, was für ihn wahr­haft wün­schens­wert sei. Bei­de Voraus­set­zun­gen, in al­len an­de­ren Re­li­gio­nen an­ge­nom­men und her­ge­bracht, wur­den aber ge­ra­de vom Chris­ten­tum ge­leug­net; wenn es trotz­dem das Ge­bet bei­be­hielt, bei sei­nem Glau­ben an eine all­wei­se und all­vor­sorg­li­che Ver­nunft in Gott, durch wel­che eben dies Ge­bet im Grun­de sinn­los, ja got­tes­läs­ter­lich wird, – so zeig­te es auch dar­in wie­der sei­ne be­wun­de­rungs­wür­di­ge Schlan­gen-Klug­heit; denn ein kla­res Ge­bot "du sollst nicht be­ten" hät­te die Chris­ten durch die Lan­ge­wei­le zum Un­chris­ten­tum ge­führt. Im christ­li­chen ora et la­bo­ra ver­tritt näm­lich das ora die Stel­le des Ver­gnü­gens: und was hät­ten ohne das ora jene Un­glück­li­chen be­gin­nen sol­len, die sich das la­bo­ra ver­sag­ten, die Hei­li­gen! – aber mit Gott sich un­ter­hal­ten, ihm al­ler­lei an­ge­neh­me Din­ge ab­ver­lan­gen, sich sel­ber ein we­nig dar­über lus­tig ma­chen, wie man so tö­richt sein kön­ne, noch Wün­sche zu ha­ben, trotz ei­nem so vor­treff­li­chen Va­ter, – das war für Hei­li­ge eine sehr gute Er­fin­dung.

75

Ei­ne hei­li­ge Lüge. – Die Lüge, mit der auf den Lip­pen Ar­ria starb (Pae­te, non do­let), ver­dun­kelt alle Wahr­hei­ten, die je von Ster­ben­den ge­spro­chen wur­den. Es ist die ein­zi­ge hei­li­ge Lü­ge, die be­rühmt ge­wor­den ist; wäh­rend der Ge­ruch der Hei­lig­keit sonst nur an Irr­tü­mern haf­ten blieb.

76

Der nö­tigs­te Apos­tel. – Un­ter zwölf Apos­teln muß im­mer ei­ner hart wie Stein sein, da­mit auf ihm die neue Kir­che ge­baut wer­den kön­ne.

77

Was ist das Ver­gäng­li­che­re, der Geist oder der Kör­per? – In den recht­li­chen, mo­ra­li­schen und re­li­gi­ösen Din­gen hat das Äu­ßer­lichs­te, das An­schau­li­che, also der Brauch, die Ge­bär­de, die Ze­re­mo­nie, am meis­ten Dau­er: sie ist der Leib, zu dem im­mer eine neue See­le hin­zu­kommt. Der Kul­tus wird wie ein fes­ter Wort-Text im­mer neu aus­ge­deu­tet; die Be­grif­fe und Emp­fin­dun­gen sind das Flüs­si­ge, die Sit­ten das Har­te.

78

Der Glau­be an die Krank­heit, als Krank­heit. – Erst das Chris­ten­tum hat den Teu­fel an die Wand der Welt ge­malt; erst das Chris­ten­tum hat die Sün­de in die Welt ge­bracht. Der Glau­be an die Heil­mit­tel, wel­che es da­ge­gen an­bot, ist nun all­mäh­lich bis in die tiefs­ten Wur­zeln hin­ein er­schüt­tert: aber im­mer noch be­steht der Glau­be an die Krank­heit, wel­chen es ge­lehrt und ver­brei­tet hat.

79

Re­de und Schrift der Re­li­gi­ösen. – Wenn der Stil und Ge­samt­aus­druck des Pries­ters, des re­den­den und schrei­ben­den, nicht schon den re­li­gi­ösen Men­schen an­kün­digt, so braucht man sei­ne Mei­nun­gen über Re­li­gi­on und zu­guns­ten der­sel­ben nicht mehr ernst zu neh­men. Sie sind für ih­ren Be­sit­zer sel­ber kraft­los ge­we­sen, wenn er, wie sein Stil ver­rät, Iro­nie, An­ma­ßung, Bos­heit, Haß und alle Wir­bel und Wech­sel der Stim­mun­gen be­sitzt, ganz wie der un­re­li­gi­öses­te Mensch; – um wie­viel kraft­lo­ser wer­den sie erst für sei­ne Hö­rer und Le­ser sein! Kurz, er wird die­nen, die­sel­ben un­re­li­gi­öser zu ma­chen.

80

Ge­fahr in der Per­son. – Je mehr Gott als Per­son für sich galt, um so we­ni­ger ist man ihm treu ge­we­sen. Die Men­schen sind ih­ren Ge­dan­ken­bil­dern viel an­häng­li­cher als ih­ren ge­lieb­tes­ten Ge­lieb­ten: des­halb op­fern sie sich für den Staat, die Kir­che und auch für Gott – so­fern er eben ih­r Er­zeug­nis, ihr Ge­dan­ke bleibt und nicht gar zu per­sön­lich ge­nom­men wird. Im letz­te­ren Fal­le ha­dern sie fast im­mer mit ihm: selbst dem Frömms­ten ent­fuhr ja die bit­te­re Rede "mein Gott, warum hast du mich ver­las­sen!"

81

Die welt­li­che Ge­rech­tig­keit. – Es ist mög­lich, die welt­li­che Ge­rech­tig­keit aus den An­geln zu he­ben – mit der Leh­re von der völ­li­gen Un­ver­ant­wort­lich­keit und Un­schuld je­der­manns: und es ist schon ein Ver­such in glei­cher Rich­tung ge­macht wor­den, ge­ra­de auf Grund der ent­ge­gen­ge­setz­ten Leh­re von der völ­li­gen Verant­wort­lich­keit und Ver­schul­dung je­der­manns. Der Stif­ter des Chris­ten­tums war es, der die welt­li­che Ge­rech­tig­keit auf­he­ben und das Rich­ten und Stra­fen aus der Welt schaf­fen woll­te. Denn er ver­stand alle Schuld als "Sün­de", das heißt als Fre­vel an Got­t und nicht als Fre­vel an der Welt; an­de­rer­seits hielt er je­der­mann im größ­ten Maß­sta­be und fast in je­der Hin­sicht für einen Sün­der. Die Schul­di­gen sol­len aber nicht die Rich­ter ih­res­glei­chen sein: so ur­teil­te sei­ne Bil­lig­keit. Alle Rich­ter der welt­li­chen Ge­rech­tig­keit wa­ren also in sei­nen Au­gen so schul­dig wie die von ih­nen Ver­ur­teil­ten, und ihre Mie­ne der Schuld­lo­sig­keit schi­en ihm heuch­le­risch und pha­ri­sä­er­haft. Über­dies sah er auf die Mo­ti­ve der Hand­lun­gen und nicht auf den Er­folg, und hielt für die Be­ur­tei­lung der Mo­ti­ve nur einen ein­zi­gen für scharf­sich­tig ge­nug: sich sel­ber (oder wie er sich aus­drück­te: Gott).

82

Ei­ne Af­fek­ta­ti­on beim Ab­schie­de. – Wer sich von ei­ner Par­tei oder Re­li­gi­on tren­nen will, meint, es sei nun für ihn nö­tig, sie zu wi­der­le­gen. Aber dies ist sehr hoch­mü­tig ge­dacht. Nö­tig ist nur, daß er klar ein­sieht, wel­che Klam­mern ihn bis­her an die­se Par­tei oder Re­li­gi­on an­hiel­ten und daß sie es nicht mehr tun, was für Ab­sich­ten ihn da­hin ge­trie­ben ha­ben und daß sie jetzt an­ders­wo­hin trei­ben. Wir sind nicht aus stren­gen Er­kennt­nis­grün­den auf die Sei­te je­ner Par­tei oder Re­li­gi­on ge­tre­ten: wir sol­len dies, wenn wir von ihr schei­den, auch nicht af­fek­tie­ren.

83

Hei­land und Arzt. – Der Stif­ter des Chris­ten­tums war, wie es sich von sel­ber ver­steht, als Ken­ner der mensch­li­chen See­le nicht ohne die größ­ten Män­gel und Vor­ein­ge­nom­men­hei­ten und als Arzt der See­le dem so an­rü­chi­gen und lai­en­haf­ten Glau­ben an eine Uni­ver­sal­me­di­zin er­ge­ben. Er gleicht in sei­ner Metho­de mit­un­ter je­nem Zahn­arz­te, der je­den Schmerz durch Aus­rei­ßen des Zah­nes hei­len will; so zum Bei­spiel, in­dem er ge­gen die Sinn­lich­keit mit dem Rat­schla­ge an­kämpft: "Wenn dich dein Auge är­gert, so rei­ße es aus." – Aber es bleibt doch noch der Un­ter­schied, daß je­ner Zahn­arzt we­nigs­tens sein Ziel er­reicht, die Schmerz­lo­sig­keit des Pa­ti­en­ten; frei­lich auf so plum­pe Art, daß er lä­cher­lich wird: wäh­rend der Christ, der je­nem Rat­schla­ge folgt und sei­ne Sinn­lich­keit er­tö­tet zu ha­ben glaubt, sich täuscht: sie lebt auf eine un­heim­li­che, vam­py­ri­sche Art fort und quält ihn in wi­der­li­chen Ver­mum­mun­gen.

84

Die Ge­fan­ge­nen. – Ei­nes Mor­gens tra­ten die Ge­fan­ge­nen in den Ar­beits­hof: der Wär­ter fehl­te. Die einen von ih­nen gin­gen, wie es ihre Art war, so­fort an die Ar­beit, an­de­re stan­den mü­ßig und blick­ten trot­zig um­her. Da trat ei­ner vor und sag­te laut: "Ar­bei­tet so viel ihr wollt oder tut nichts: es ist al­les gleich. Eure ge­hei­men An­schlä­ge sind ans Licht ge­kom­men, der Ge­fäng­nis­wär­ter hat euch neu­lich be­lauscht und will in den nächs­ten Ta­gen ein fürch­ter­li­ches Ge­richt über euch er­ge­hen las­sen. Ihr kennt ihn, er ist hart und nach­trä­ge­ri­schen Sin­nes. Nun aber merkt auf: ihr habt mich bis­her ver­kannt: ich bin nicht, was ich schei­ne, son­dern viel mehr: ich bin der Sohn des Ge­fäng­nis­wär­ters und gel­te al­les bei ihm. Ich kann euch ret­ten, ich will euch ret­ten; aber, wohl­ge­merkt, nur die­je­ni­gen von euch, wel­che mir glau­ben, daß ich der Sohn des Ge­fäng­nis­wär­ters bin; die üb­ri­gen mö­gen die Früch­te ih­res Un­glau­bens ern­ten." "Nun", sag­te nach ei­ni­gem Schwei­gen ein äl­te­rer Ge­fan­ge­ner, "was kann dir dar­an ge­le­gen sein, ob wir es dir glau­ben oder nicht glau­ben? Bist du wirk­lich der Sohn und ver­magst du das, was du sagst, so lege ein gu­tes Wort für uns alle ein: es wäre wirk­lich recht gut­mü­tig von dir. Das Ge­re­de von Glau­ben und Un­glau­ben aber laß bei­sei­te!" "Und", rief ein jün­ge­rer Mann da­zwi­schen, "ich glaub’ es ihm auch nicht: er hat sich nur et­was in den Kopf ge­setzt. Ich wet­te, in acht Ta­gen be­fin­den wir uns ge­ra­de noch so hier wie heu­te, und der Ge­fäng­nis­wär­ter weiß nichts." "Und wenn er et­was ge­wußt hat, so weiß er’s nicht mehr", sag­te der letz­te der Ge­fan­ge­nen, der jetzt erst in den Hof hin­ab­kam, "der Ge­fäng­nis­wär­ter ist eben plötz­lich ge­stor­ben." – "Hol­la", schri­en meh­re­re durch­ein­an­der, "hol­la! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erb­schaft? Sind wir viel­leicht jetzt dei­ne Ge­fan­ge­nen?" – "Ich habe es euch ge­sagt", ent­geg­ne­te der An­ge­re­de­te mild, "ich wer­de je­den frei­las­sen, der an mich glaubt, so ge­wiß als mein Va­ter noch lebt." – Die Ge­fan­ge­nen lach­ten nicht, zuck­ten aber mit den Ach­seln und lie­ßen ihn ste­hen.

85

Der Ver­fol­ger Got­tes. – Pau­lus hat den Ge­dan­ken aus­ge­dacht, Cal­vin ihn nach­ge­dacht, daß Un­zäh­li­gen seit Ewig­kei­ten die Ver­damm­nis zu­er­kannt ist und daß die­ser schö­ne Wel­ten­plan so ein­ge­rich­tet wur­de, da­mit die Herr­lich­keit Got­tes sich dar­an of­fen­ba­re: Him­mel und Höl­le und Mensch­heit sol­len also da sein, – um die Ei­tel­keit Got­tes zu be­frie­di­gen! Wel­che grau­sa­me und un­er­sätt­li­che Ei­tel­keit muß in der See­le des­sen ge­fla­ckert ha­ben, der so et­was sich zu­erst oder zu zweit aus­dach­te! – Pau­lus ist also doch Sau­lus ge­blie­ben – der Ver­fol­ger Got­tes.

 

86

So­kra­tes. – Wenn al­les gut geht, wird die Zeit kom­men, da man, um sich sitt­lich-ver­nünf­tig zu för­dern, lie­ber die Me­mo­ra­bi­li­en des So­kra­tes in die Hand nimmt als die Bi­bel, und wo Mon­taig­ne und Horaz als Vor­läu­fer und Weg­wei­ser zum Ver­ständ­nis des ein­fachs­ten und un­ver­gäng­lichs­ten Mitt­ler-Wei­sen, des So­kra­tes, be­nutzt wer­den. Zu ihm füh­ren die Stra­ßen der ver­schie­dens­ten phi­lo­so­phi­schen Le­bens­wei­sen zu­rück, wel­che im Grun­de die Le­bens­wei­sen der ver­schie­de­nen Tem­pe­ra­men­te sind, fest­ge­stellt durch Ver­nunft und Ge­wohn­heit und al­le­samt mit ih­rer Spit­ze hin nach der Freu­de am Le­ben und am eig­nen Selbst ge­rich­tet; wor­aus man schlie­ßen möch­te, daß das Ei­gen­tüm­lichs­te an So­kra­tes ein An­teil­ha­ben an al­len Tem­pe­ra­men­ten ge­we­sen ist. – Vor dem Stif­ter des Chris­ten­tums hat So­kra­tes die fröh­li­che Art des Erns­tes und jene Weis­heit vol­ler Schel­men­strei­che vor­aus, wel­che den bes­ten See­len­zu­stand des Men­schen aus­macht. Über­dies hat­te er den grö­ße­ren Ver­stand.

87

Gut schrei­ben ler­nen. – Die Zeit des Gut­re­dens ist vor­bei, weil die Zeit der Stadt-Kul­tu­ren vor­bei ist. Die letz­te Gren­ze, wel­che Ari­sto­te­les der großen Stadt er­laub­te – es müs­se der He­rold noch im­stan­de sein, sich der gan­zen ver­sam­mel­ten Ge­mein­de ver­nehm­bar zu ma­chen –, die­se Gren­ze küm­mert uns so we­nig, als uns über­haupt noch Stadt­ge­mein­den küm­mern, uns, die wir selbst über die Völ­ker hin­weg ver­stan­den wer­den wol­len. Des­halb muß jetzt ein je­der, der gut eu­ro­pä­isch ge­sinnt ist, gut und im­mer bes­ser schrei­ben ler­nen: es hilft nichts, und wenn er selbst in Deutsch­land ge­bo­ren ist, wo man das Schlecht-schrei­ben als na­tio­na­les Vor­recht be­han­delt. Bes­ser schrei­ben aber heißt zu­gleich auch bes­ser den­ken; im­mer Mit­tei­lens­wer­te­res er­fin­den und es wirk­lich mit­tei­len kön­nen; über­setz­bar wer­den für die Spra­chen der Nach­barn; zu­gäng­lich sich dem Ver­ständ­nis­se je­ner Aus­län­der ma­chen, wel­che un­se­re Spra­che ler­nen; da­hin wir­ken, daß al­les Gute Ge­mein­gut wer­de und den Frei­en al­les frei ste­he; end­lich, je­nen jetzt noch so fer­nen Zu­stand der Din­ge vor­be­rei­ten, wo den gu­ten Eu­ro­pä­ern ihre große Auf­ga­be in die Hän­de fällt: die Lei­tung und Über­wa­chung der ge­sam­ten Erd­kul­tur. – Wer das Ge­gen­teil pre­digt, sich nicht um das Gut­schrei­ben und Gut­le­sen zu küm­mern – bei­de Tu­gen­den wach­sen mit­ein­an­der und neh­men mit­ein­an­der ab –, der zeigt in der Tat den Völ­kern einen Weg, wie sie im­mer noch mehr na­tio­nal wer­den kön­nen: er ver­mehrt die Krank­heit die­ses Jahr­hun­derts und ist ein Feind der gu­ten Eu­ro­pä­er, ein Feind der frei­en Geis­ter.

88

Die Leh­re vom bes­ten Sti­le. – Die Leh­re vom Stil kann ein­mal die Leh­re sein, den Aus­druck zu fin­den, ver­mö­ge des­sen man jede Stim­mung auf den Le­ser und Hö­rer über­trägt; so­dann die Leh­re, den Aus­druck für die wün­schens­wer­tes­te Stim­mung ei­nes Men­schen zu fin­den, de­ren Mit­tei­lung und Über­tra­gung also auch am meis­ten zu wün­schen ist: für die Stim­mung des von Her­zens­grund be­weg­ten, geis­tig freu­di­gen, hel­len und auf­rich­ti­gen Men­schen, der die Lei­den­schaf­ten über­wun­den hat. Dies wird die Leh­re vom bes­ten Sti­le sein: er ent­spricht dem gu­ten Men­schen.

89

Auf den Gang acht ge­ben. – Der Gang der Sät­ze zeigt, ob der Au­tor er­mü­det ist; der ein­zel­ne Aus­druck kann des­sen­un­ge­ach­tet im­mer noch stark und gut sein, weil er für sich und frü­her ge­fun­den wur­de: da­mals als der Ge­dan­ke dem Au­tor zu­erst auf­leuch­te­te. So ist es häu­fig bei Goe­the, der zu oft dik­tier­te, wenn er müde war.

90

Schon und noch. – A: Die deut­sche Pro­sa ist noch sehr jung: Goe­the meint, daß Wie­land ihr Va­ter sei. B: So jung und schon so häß­lich! C: Aber – so­viel mir be­kannt, schrieb schon der Bi­schof Ul­fi­las deut­sche Pro­sa; sie ist also ge­gen 1500 Jah­re alt. B: So alt und noch so häß­lich!

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O­ri­gi­nal-deutsch. – Die deut­sche Pro­sa, wel­che in der Tat nicht nach ei­nem Mus­ter ge­bil­det ist und wohl als ori­gi­na­les Er­zeug­nis des deut­schen Ge­schmacks zu gel­ten hat, dürf­te den eif­ri­gen An­wäl­ten ei­ner zu­künf­ti­gen, ori­gi­na­len, deut­schen Kul­tur einen Fin­ger­zeig ge­ben, wie etwa, ohne Nach­ah­mung von Mus­tern, eine wirk­lich deut­sche Tracht, eine deut­sche Ge­sel­lig­keit, eine deut­sche Zim­mer­ein­rich­tung, ein deut­sches Mit­tag­ses­sen aus­se­hen wer­de. – Je­mand, der län­ge­re Zeit über die­se Aus­sich­ten nach­ge­dacht hat­te, rief end­lich in vol­lem Schre­cken aus: "Aber, um des Him­mels wil­len, viel­leicht ha­ben wir schon die­se ori­gi­na­le Kul­tur – man spricht nur nicht ger­ne da­von!"

92

Ver­bo­te­ne Bü­cher. – Nie et­was le­sen, was jene ar­ro­gan­ten Viel­wis­ser und Wirr­köp­fe schrei­ben, wel­che die ab­scheu­lichs­te Un­art, die der lo­gi­schen Pa­ra­do­xie ha­ben: sie wen­den die lo­gi­schen For­men ge­ra­de dort an, wo al­les im Grun­de frech im­pro­vi­siert und in die Luft ge­baut ist. ("Also" soll bei ih­nen hei­ßen "du Esel von Le­ser, für dich gib es dies al­so’ nicht – wohl aber für mich" – wor­auf die Ant­wort lau­tet: "du Esel von Schrei­ber, wozu schreibst du denn?")

93

Geist zei­gen. – Je­der, der sei­nen Geist zei­gen will, läßt mer­ken, daß er auch reich­lich vom Ge­gen­teil hat. Jene Un­art geist­rei­cher Fran­zo­sen, ih­ren bes­ten Ein­fäl­len einen Zug von dédain bei­zu­ge­ben, hat ih­ren Ur­sprung in der Ab­sicht, für rei­cher zu gel­ten, als sie sind: sie wol­len läs­sig schen­ken, gleich­sam er­mü­det vom be­stän­di­gen Spen­den aus über­vol­len Schatz­häu­sern.

94

Deut­sche und fran­zö­si­sche Li­te­ra­tur. – Das Un­glück der deut­schen und fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur der letz­ten hun­dert Jah­re liegt dar­in, daß die Deut­schen zu zei­tig aus der Schu­le der Fran­zo­sen ge­lau­fen sind – und die Fran­zo­sen, spä­ter­hin, zu zei­tig in die Schu­le der Deut­schen.

95

Un­se­re Pro­sa. – Kei­nes der jet­zi­gen Kul­tur­völ­ker hat eine so schlech­te Pro­sa wie das deut­sche; und wenn geist­rei­che und ver­wöhn­te Fran­zo­sen sa­gen: es gib­t kei­ne deut­sche Pro­sa – so dürf­te man ei­gent­lich nicht böse wer­den, da es ar­ti­ger ge­meint ist, als wir’s ver­die­nen. Sucht man nach den Grün­den, so kommt man zu­letzt zu dem selt­sa­men Er­geb­nis, daß der Deut­sche nur die im­pro­vi­sier­te Pro­sa kennt und von ei­ner an­de­ren gar kei­nen Be­griff hat. Es klingt ihm schier un­be­greif­lich, wenn ein Ita­lie­ner sagt, daß Pro­sa ge­ra­de um so viel schwe­rer sei als Poe­sie, um wie viel die Dar­stel­lung der nack­ten Schön­heit für den Bild­hau­er schwe­rer sei als die der be­klei­de­ten Schön­heit. Um Vers, Bild, Rhyth­mus und Reim hat man sich red­lich zu be­mü­hen – das be­greift auch der Deut­sche und ist nicht ge­neigt, der Steg­reif-Dich­tung einen be­son­ders ho­hen Wert zu­zu­mes­sen. Aber an ei­ner Sei­te Pro­sa wie an ei­ner Bild­säu­le ar­bei­ten? – es ist ihm, also ob man ihm et­was aus dem Fa­bel­land vor­er­zähl­te.

96

Der große Stil. – Der große Stil ent­steht, wenn das Schö­ne den Sieg über das Un­ge­heu­re da­von­trägt.

97

Aus­wei­chen. – Man weiß nicht eher, worin bei aus­ge­zeich­ne­ten Geis­tern das Fei­ne ih­res Aus­drucks, ih­rer Wen­dung liegt, wenn man nicht sa­gen kann, auf wel­ches Wort je­der mit­tel­mä­ßi­ge Schrift­stel­ler beim Aus­drücken der­sel­ben Sa­che un­ver­meid­lich ge­ra­ten sein wür­de. Alle großen Ar­tis­ten zei­gen sich beim Len­ken ih­res Fuhr­werks zum Aus­wei­chen, zum Ent­glei­sen ge­neigt – doch nicht zum Um­fal­len.

98

Et­was wie Brot. – Brot neu­tra­li­siert den Ge­schmack an­de­rer Spei­sen, wischt ihn weg; des­halb ge­hört es zu je­der län­ge­ren Mahl­zeit. In al­len Kunst­wer­ken muß es et­was wie Brot ge­ben, da­mit es ver­schie­de­ne Wir­kun­gen in ih­nen ge­ben kön­ne: wel­che, un­mit­tel­bar und ohne ein sol­ches zeit­wei­li­ges Aus­ru­hen und Pau­sie­ren auf­ein­an­der­fol­gend, schnell er­schöp­fen und Wi­der­wil­len ma­chen wür­den, so daß eine län­ge­re Mahl­zeit der Kunst un­mög­lich wäre.

99

Jean Paul. – Jean Paul wuß­te sehr viel, aber hat­te kei­ne Wis­sen­schaft, ver­stand sich auf al­ler­lei Kunst­grif­fe in den Küns­ten, aber hat­te kei­ne Kunst, fand bei­na­he nichts un­ge­nieß­bar, aber hat­te kei­nen Ge­schmack, be­saß Ge­fühl und Ernst, goß aber, wenn er da­von zu kos­ten gab, eine wi­der­li­che Trä­nen­brü­he dar­über, ja er hat­te Witz, – aber lei­der für sei­nen Heiß­hun­ger da­nach viel zu we­nig: wes­halb er den Le­ser ge­ra­de durch sei­ne Witz­lo­sig­keit zur Verzweif­lung treibt. Im gan­zen war er das bun­te, star­krie­chen­de Un­kraut, wel­ches über Nacht auf den zar­ten Frucht­fel­dern Schil­lers und Goe­thes auf­schoß; er war ein be­que­mer, gu­ter Mensch, und doch ein Ver­häng­nis, – ein Ver­häng­nis im Schlaf­rock.

100

Auch den Ge­gen­satz zu schme­cken wis­sen. – Um ein Werk der Ver­gan­gen­heit so zu ge­nie­ßen, wie es sei­ne Zeit­ge­nos­sen emp­fan­den, muß man den da­mals herr­schen­den Ge­schmack, ge­gen den es sich ab­hob, auf der Zun­ge ha­ben.

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Wein­geist-Au­to­ren. – Man­che Schrift­stel­ler sind we­der Geist noch Wein, aber Wein­geist: sie kön­nen in Flam­men ge­ra­ten und ge­ben dann Wär­me.

102

Der Mitt­ler-Sinn. – Der Sinn des Ge­schmacks, als der wah­re Mitt­ler-Sinn, hat die an­de­ren Sin­ne oft zu sei­nen An­sich­ten der Din­ge über­re­det und ih­nen sei­ne Ge­set­ze und Ge­wohn­hei­ten ein­ge­ge­ben. Man kann bei Ti­sche über die feins­ten Ge­heim­nis­se der Küns­te Auf­schlüs­se er­hal­ten: man be­ach­te, was schmeckt, wann es schmeckt, wo­nach und wie lan­ge es schmeckt.