Buch lesen: «Ecce Homo»

Schriftart:

Friedrich Nietzsche

Ecce homo

Wie man wird, was man ist

.

Impressum

ISBN 978-3-940621-29-0

E-Book: Satzweiss.com Print Web Software Gmbh

Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1923 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags; bibliografische Angaben:

Nietzsche, Friedrich, Ecce Homo, in: Nietzsches Werke. Klassiker-Ausgabe, Achter Band, Leipzig 1923, S. 305-433.

Digitalisierung: Vergangenheitsverlag. Bearbeitung: Dr. Alexander Schug

Die Marke „100% - vollständig, kommentiert, relevant, zitierbar“ steht für den hohen Anspruch, mehrfach kontrollierte Digitalisate klassischer Literatur anzubieten, die – anders als auf den Gegenleseportalen unterschiedlicher Digitalisierungsprojekte – exakt der Vorlage entsprechen. Antrieb für unser Digitalisierungsprojekt war die Erfahrung, dass die im Internet verfügbaren Klassiker meist unvollständig und sehr fehlerhaft sind. Die in eckigen Klammern gesetzten Zahlen markieren die Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe; durch die Paginierung ist auch die digitale Version über die Referenz zur gedruckten Ausgabe zitierbar.

© Vergangenheitsverlag, 2010 – http://www.vergangenheitsverlag.de/

Einleitung: Nietzsche’s Ecce Homo – Worum es geht…

Einleitung: Nietzsche’s Ecce Homo – Worum es geht…

„Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ ist vor allem eine autobiografische Schrift, die Nietzsche von 1888 bis zu seinem Zusammenbruch Anfang 1889 aufschrieb und zum ersten Mal 1908 posthum veröffentlicht wurde.

Rückblickend deutet Nietzsche in Ecce homo seine philosophischen Schriften. Dabei beschreibt er sich selbst und seine Gedanken als schicksalhafte Ereignisse von weltbewegender Größe. Im Vordergrund stehen in dem Buch besonders die Kritik am Christentum und die angekündigte „Umwertung aller Werte“, ein von Nietzsche 1886 geprägtes Schlagwort, das seitdem wiederholt in seinen Schriften auftauchte und bereits die revolutionäre Kraft seiner Gedanken ankündigte.

Es gibt Zweifel daran, wie glaubwürdig Nietzsches autobiografische Darstellungen in Ecce Homo sind bzw. inwiefern sein geistiger Zustand bereits das klare, logische Denken und die Erinnerungskraft einschränkten. Dennoch sind Nietzsches Selbstdeutungen in dem vorliegenden Text oft als Ausgangspunkt für weitere biografische und philosophische Deutungen seines Werks genommen worden. Ecce Homo ist das letzte größere Werk Nietzsches – und nimmt dadurch eine Sonderstellung ein. Es ist sozusagen die letzte Adresse an die Außenwelt bevor der zum Zeitpunkt des Verfassens von Ecce Homo nur 45-jährige Nietzsche psychisch so schwer erkrankt, dass eine weitere wissenschaftlich-schriftstellerische Beschäftigung unmöglich wird.

Kurzbiografie von Friedrich Nietzsche

Kurzbiografie von Friedrich Nietzsche

Friedrich Wilhelm Nietzsche war ein Altphilologe und Philosoph, der 1844 in Röcken (heute Sachsen-Anhalt) geboren wurde und am 25. August 1900 in Weimar starb. Nietzsche war Sohn eines lutherischen Pfarrers. Bereits mit zehn Jahren verfasste er seine ersten Texte. Nach Besuch der Landesschule Pforta studierte er zunächst in Bonn Theologie und alte Sprachen (1864), dann folgte er seinem Lehrer F. W. Ritschl nach Leipzig (1865). Auf dessen Empfehlung hin erhielt er 1869 eine Professur für klassische Philologie in Basel (Antrittsrede über »Homer und die klassische Philologie«) und wurde »sine examine«, d. h. ohne eine Doktorarbeit verfassen zu müssen, in Abwesenheit (»in absentia«) promoviert. Von großem Einfluss wurde die Bekanntschaft mit dem Komponisten Richard Wagner, den er erstmals 1868 in Leipzig kennenlernte. Die schnell geschlossene Freundschaft schlug seit 1876 in Ablehnung und schließlich in Gegnerschaft um. Die Beziehung trug aber zur Herausbildung von Nietzsches eigener Position bei. Seit 1871 verschlimmerte sich Nietzsches Gesundheitszustand. 1879 war er gezwungen, sein Lehramt in Basel aufzugeben. Die nächsten zehn Jahre lebte er als freier Schriftsteller an wechselnden Orten (u. a. in Sils-Maria, Genua, Rapallo, Nizza).

Die letzten Jahre seines Schaffens waren geprägt von einer emsigen Produktivität, aber auch von einer zuweilen bis ins Extrem gesteigerten Selbststilisierung und einem Sendungsbewusstsein, das unschwer als ein Ausdruck der Überkompensation seiner tatsächlichen Einsamkeit und Resonanzlosigkeit verstanden werden kann. Es lag aber vielleicht auch schon der Schatten des in den Januartagen des Jahres 1889 einsetzenden physischen Zusammenbruchs über den 1888 beendeten Schriften Nietzsches: Im August schloss er seine Arbeit an den »Dionysos-Dithyramben« und am »Fall Wagner« ab, im September folgten die »Götzendämmerung« und der »Antichrist«, im November »Ecce homo« und im Dezember schließlich seine erneute Auseinandersetzung mit Richard Wagner in »Nietzsche contra Wagner«. Der Ausbruch seiner Geistesgestörtheit zu Beginn des Jahres 1889 beendete zehn Jahre eines unermüdlichen Wirkens von Nietzsche als freiem Schriftsteller im Anschluss an die Aufgabe seiner Baseler Professur. Bis zu seinem Tod am 25. August 1900 in Weimar verblieb Nietzsche in einem Zustand progressiver Umnachtung, ohne noch selbst das im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts allmählich einsetzende Interesse an seiner Philosophie zur Kenntnis nehmen zu können.

Nietzsche übte großen Einfluss auf die Literatur (u. a. R. M. Rilke, H. von Hofmannsthal, K. Kraus, R. Musil, S. Zweig, H. Mann, T. Mann, G. Benn, E. Jünger), die Philosophie (u. a. M. Heidegger, K. Jaspers, T. W. Adorno), Soziologie und Psychologie aus. Von den Nationalsozialisten wurden v. a. seine Gedanken vom »Willen zur Macht«, der »Herrenmoral« und der »blonden Bestie« missbräuchlich aufgegriffen und in propagandistischer Weise politisiert (u. a. A. Baeumler, A. Rosenberg). Aufgrund dieser Wirkungsgeschichte wurde Nietzsches Werk in der DDR bis Mitte der 1980er-Jahre totgeschwiegen. Über Deutschland hinaus hat Nietzsche am stärksten in Frankreich gewirkt: in der Literatur u. a. auf A. Gide und A. Camus, in der Philosophie auf G. Bataille, J. P. Sartre und Strömungen des Strukturalismus und so genannten Poststrukturalismus (u. a. M. Foucault, G. Deleuze und J. Derrida).

Primär- und Sekundärliteratur zu Nietzsche

Primär- und Sekundärliteratur zu Nietzsche

Frühe Schriften. 1854-69, hg. v. H. J. Mette u. a., 5 Bde. (1933-40; Nachdruck 1994);

Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet von G. Colli u. M. Montinari, weitergeführt v. V. Gerhardt u. a., auf zahlreiche Bde. berechnet (1967 ff.);

Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, begründet von G. Colli u. M. Montinari, weitergeführt von N. Miller u. a., 24 Bde. in 3 Abteilungen (1975-2004);

Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 15 Bde. (Neuausgabe 1999);

Naake, Erhard, Nietzsche und Weimar. Werk und Wirkung im 20. Jahrhundert, Köln 2000.

Taureck, Bernhard H. F., Nietzsche und der Faschismus, Ein Politikum, Leipzig 2000.

Vorwort.

[307] Vorwort.

1.

In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin. Im Grunde dürfte man's wissen: denn ich habe mich nicht „unbezeugt gelassen". Das Mißverhältniß aber zwischen der Größe meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen ist darin zum Ausdruck gekommen, dass man mich weder gehört, noch auch nur gesehn hat. Ich lebe auf meinen eignen Credit hin, es ist vielleicht bloß ein Vorurtheil, daß ich lebe?... Ich brauche nur irgend einen „Gebildeten" zu sprechen, der im Sommer ins Oberengadin kommt, um mich zu überzeugen, dass ich nicht lebe ... Unter diesen Umständen giebt es eine Pflicht, gegen die im Grunde meine Gewohnheit, noch mehr der Stolz meiner Instinkte revoltirt, nämlich zu sagen: Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!

2.

Ich bin zum Beispiel durchaus kein Popanz, kein Moral-Ungeheuer, – ich bin sogar eine Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat. Unter uns, es scheint mir, dass gerade Das zu [208] meinem Stolz gehört. Ich bin ein jünger des Philosophen Dionysos, ich zöge vor, eher noch ein Satyr zu sein, als ein Heiliger. Aber man lese nur diese Schrift. Vielleicht gelang es mir, vielleicht hatte diese Schrift gar keinen andren Sinn, als diesen Gegensatz in einer heitren und menschenfreundlichen Weise zum Ausdruck zu bringen. Das Letzte, was ich versprechen würde, wäre, die Menschheit zu „verbessern". Von mir werden keine neuen Götzen aufgerichtet; die alten mögen lernen, was es mit thönernen Beinen auf sich hat. Götzen (mein Wort für „Ideale") umwerfen – das gehört schon eher zu meinem Handwerk. Man hat die Realität in dem Grade um ihren Werth, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit gebracht, als man eine ideale Welt erlog ... Die „wahre Welt" und die „scheinbare Welt" – auf deutsch: die erlogne Welt und die Realität ... Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über der Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch geworden – bis zur Anbetung der umgekehrten Werthe, als die sind, mit denen ihr erst das Gedeihen, die Zukunft, das hohe Recht auf Zukunft verbürgt wäre.

3.

– Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiß, weiß, daß es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muß für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und [309] Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann gethan war. Aus einer langen Erfahrung, welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen, aus denen bisher moralisirt und idealisirt wurde, sehr anders ansehn als es erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich an's Licht. – Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser. Irrthum (- der Glaube an‘s Ideal –) ist nicht Blindheit, Irrthum ist Feigheit ... Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntniss folgt aus dem Muth, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich ... Ich widerlege die Ideale nicht, ich ziehe bloss Handschuhe vor ihnen an ... Nitimur in vetitum: in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit. –

4.

– Innerhalb meiner Schriften steht für mich mein Zarathustra. Ich habe mit ihm der Menschheit das größte Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist. Dies Buch, mit einer Stimme über Jahrtausende hinweg, ist nicht nur das höchste Buch, das es giebt, das eigentliche Höhenluft-Buch – die ganze Thatsache Mensch liegt in ungeheurer Ferne unter ihm –, es ist auch das tiefste, das aus dem innersten Reichthum der Wahrheit heraus geborene, ein unerschöpflicher Brunnen, in den kein Eimer hinabsteigt, ohne mit Gold und Güte gefüllt heraufzukommen. Hier redet kein „Prophet", keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt. Man muß vor [310] Allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören, um dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig Unrecht zu thun. „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt "

Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süß: und indem sie fallen, reißt ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen.

Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr süßes Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und Nachmittag –

Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht „gepredigt", hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort, – eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden. Dergleichen gelangt nur zu den Auserwähltesten; es ist ein Vorrecht ohne Gleichen hier Hörer zu sein; es steht Niemandem frei, für Zarathustra Ohren zu haben ... Ist Zarathustra mit Alledem nicht ein Verführer? ... Aber was sagt er doch selbst, als er zum ersten Male wieder in seine Einsamkeit zurückkehrt? Genau das Gegentheil von dem, was irgend ein „Weiser", „Heiliger", „Welt-Erlöser" und andrer décadent in einem solchen Falle sagen würde ... Er redet nicht nur anders, er ist auch anders…

Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es.

Geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch.

[311] Der Mensch der Erkenntniß muß nicht nur seine Feinde lieben, er muß auch seine Freunde hassen können.

Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?

Ihr verehrt mich: aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage!

Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen, aber was liegt an allen Gläubigen!

Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.

Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren …

Friedrich Nietzsche.

[312] [313] An diesem vollkommnen Tage, wo Alles reift und nicht nur die Traube braun wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein Leben: ich sah rückwärts, ich sah hinaus, ich sah nie so viel und so gute Dinge auf einmal. Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich durfte es begraben, – was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich. Das erste Buch der Umwerthung aller Werthe, die Lieder Zarathustra’s, die Götzen-Dämmerung – Alles Geschenke dieses Jahrs, sogar seines letzten Vierteljahrs! Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? –Und so erzähle ich mir mein Leben.

Warum ich so weise bin.

[314] [315] Warum ich so weise bin.

1.

Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniß: ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt. Diese doppelte Herkunft, gleichsam aus der obersten und der untersten Sprosse an der Leiter des Lebens, décadent zugleich und Anfang – dies, wenn irgend Etwas, erklärt jene Neutralität, jene Freiheit von Partei im Verhältniß zum Gesammtprobleme des Lebens, die mich vielleicht auszeichnet. Ich habe für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin der Lehrer par excellence hierfür, – ich kenne Beides, ich bin Beides. – Mein Vater starb mit sechsunddreißig Jahren: er war zart, liebenswürdig und morbid, wie ein nur zum Vorübergehn bestimmtes Wesen, – eher eine gütige Erinnerung an das Leben, als das Leben selbst. Im gleichen Jahre, wo sein Leben abwärts gieng, gieng auch das meine abwärts: im sechsunddreißigsten Lebensjahre kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität, – ich lebte noch, doch ohne drei Schritt weit vor mich zu sehn. Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naum[316] burg. Dies war mein Minimum: „Der Wanderer und sein Schatten" entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten ... Im Winter darauf, meinem ersten Genueser Winter, brachte jene Versüßung und Vergeistigung, die mit einer extremen Armuth an Blut und Muskel beinahe bedingt ist, die „Morgenröthe" hervor. Die vollkommne Helle und Heiterkeit, selbst Exuberanz des Geistes, welche das genannte Werk wiederspiegelt, verträgt sich bei mir nicht nur mit der tiefsten physiologischen Schwäche, sondern sogar mit einem Exceß von Schmerzgefühl. Mitten in Martern, die ein ununterbrochner dreitägiger Gehirn-Schmerz sammt mühseligem Schleim-Erbrechen mit sich bringt, – besaß ich eine Dialektiker-Klarheit par excellence und dachte Dinge sehr kaltblütig durch, zu denen ich in gesünderen Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffinirt, nicht kalt genug bin. Meine Leser wissen vielleicht, in wie fern ich Dialektik als Décadence-Symptom betrachte, zum Beispiel im allerberühmtesten Fall: im Fall des Sokrates. – Alle krankhaften Störungen des Intellekts, selbst jene Halbbetäubung, die das Fieber im Gefolge hat, sind mir bis heute gänzlich fremde Dinge geblieben, über deren Natur und Häufigkeit ich mich erst auf gelehrtem Wege zu unterrichten hatte. Mein Blut läuft langsam. Niemand hat je an mir Fieber constatiren können. Ein Arzt, der mich länger als Nervenkranken behandelte, sagte schließlich: „nein! an Ihren Nerven liegt's nicht, ich selber bin nur nervös." Schlechterdings unnachweisbar irgend eine lokale Entartung; kein organisch bedingtes Magenleiden, wie sehr auch immer, als Folge der Gesammterschöpfung, die tiefste Schwäche des gastrischen Systems. Auch das Augenleiden, dem Blindwerden zeitweilig sich gefährlich annähernd, nur Folge, nicht ursächlich: so daß mit jeder [317] Zunahme an Lebenskraft auch die Sehkraft wieder zugenommen hat. – Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung, – sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence. Brauche ich, nach alledem, zu sagen, daß ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabirt. Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des „Um-die-Ecke-sehns" und was sonst mir eignet, ward damals erst erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der Alles sich bei mir verfeinerte, die Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine „Umwerthung der Werthe" überhaupt möglich ist. –

2.

Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter Anderem, daß ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte: während der décadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Specialität war ich décadent. Jene Energie zur absoluten Vereinsamung und Herauslösung aus gewohnten [318] Verhältnissen, der Zwang gegen mich, mich nicht mehr besorgen, bedienen, beärzteln zu lassen – das verräth die unbedingte Instinkt-Gewißheit darüber, was damals vor Allem noth that. Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, daß man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehrleben sein. So in der That erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken könnten, – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie ... Denn man gebe Acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armuth und Entmuthigung ... Und woran erkennt man im Grunde die Wohlgerathenheit! Daß ein wohlgerathner Mensch unsern Sinnen wohlthut: daß er aus einem Holze geschnitzt ist, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist. Ihm schmeckt nur, was ihm zuträglich ist; sein Gefallen, seine Lust hört auf, wo das Maaß des Zuträglichen überschritten wird. Er erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker. Er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe: er ist ein auswählendes Princip, er lässt Viel durchfallen. Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er [319] wählt, indem er zulässt, indem er vertraut. Er reagirt auf alle Art Reize langsam, mit jener Langsamkeit, die eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz ihm angezüchtet haben, – er prüft den Reiz, der herankommt, er ist fern davon, ihm entgegenzugehn. Er glaubt weder an „Unglück", noch an „Schuld": er wird fertig, mit sich, mit Anderen, er weiß zu vergessen, – er ist stark genug, daß ihm Alles zum Besten gereichen muß. – Wohlan, ich bin das Gegenstück eines décadent: denn ich beschrieb eben mich.

3.

Diese doppelte Reihe von Erfahrung, diese Zugänglichkeit zu anscheinend getrennten Welten wiederholt sich in meiner Natur in jeder Hinsicht, – ich bin ein Doppelgänger, ich habe auch das „zweite“ Gesicht noch außer dem ersten. Und vielleicht auch noch das dritte … Schon meiner Abkunft nach ist mir ein Blick erlaubt jenseits bloß lokal, national bedingter Perspektiven, es kostet mich keine Mühe, ein „guter Europäer“ zu sein. Andererseits bin ich vielleicht mehr deutsch, als jetzige Deutsche, bloße Reichsdeutsche es noch zu sein vermöchten, – ich, der letzte antipolitische Deutsche. Und doch waren meine Vorfahren polnische Edelleute: ich habe von daher viel Rassen-Instinkte im Leibe, wer weiß? Zuletzt gar noch das liberum veto. Denke ich daran, wie oft ich unterwegs als Pole angeredet werde und von Polen selbst, wie selten man mich für einen Deutschen nimmt, so könnte es scheinen, dass ich nur zu den angesprenkelten Deutschen gehörte. Aber meine Mutter, Franziska Dehler, ist jedenfalls etwas sehr Deutsches; insgleichen meine Großmutter väterlicher Seits, [320] Erdmuthe Krause. Letztere lebte ihre ganze Jugend mitten im guten alten Weimar, nicht ohne Zusammenhang mit dem Goethe’schen Kreise. Ihr Bruder, der Professor der Theologie Krause in Königsberg, wurde nach Herder’s Tode als Generalsuperintendent nach Weimar berufen. Es ist nicht unmöglich, dass ihre Mutter, meine Urgroßmutter, unter dem Namen „Muthgen“ im Tagebuch des jungen Goethe vorkommt. Sie verheirathete sich zum zweiten Mal mit dem Superintendenten Nietzsche in Eilenburg; an dem Tage des großen Kriegsjahrs 1813, wo Napoleon mit seinem Generalstab in Eilenburg einzog, am 10. Oktober, hatte sie ihre Niederkunft. Sie war, als Sächsin, eine große Verehrerin Napoleon’s.; es könnte sein, dass ich’s auch noch bin. Mein Vater, 1813 geboren, starb 1849. Ich lebte, bevor er das Pfarramt der Gemeinde Röcken unweite Lützen übernahm, einige Jahre auf dem Altenburger Schlosse und unterrichtete die vier Prinzessinnen daselbst. Seine Schülerinnen sind die Königin von Hannover, die Großfürstin Constantin, die Großherzogin von Oldenburg und die Prinzeß Therese von Sachsen-Altenburg. Er war voll tiefer Pietät gegen den preußischen König Friedrich Wilhelm den Vierten, von dem er auch sein Pfarramt erhielt; die Ereignisse von 1848 betrübten ihn über die Maaßen. Ich selber, am Geburtstage des genannten Königs geboren, am 15. Oktober, erhielt, wie billig, die Hohenzollern-Namen Friedrich-Wilhelm. Einen Vortheil hatte jedenfalls die Wahl dieses Tages: mein Geburtstag war meine ganze Kindheit hindurch ein Festtag. – Ich betrachte es als ein großes Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben: es scheint mir sogar, dass sich damit Alles erklärt, was ich sonst an Vorrechten habe, – das Leben, das große Ja zum Leben nicht eingerechnet, Vor Allem, dass es für mich [321] keiner Absicht dazu bedarf, sondern eines bloßen Abwartens, um freiwillig in eine Welt hoher und zarter Dinge einzutreten: ich bin dort zu Hause, meine innerste Leidenschaft wird dort erst frei. Daß ich für dies Vorrecht beinahe mit dem Leben zahlte, ist gewiß kein unbilliger Handel. – Um etwas von meinem Zarathustra zu verstehen, muß man vielleicht ähnlich bedingt sein, wie ich es bin, – mit Einem Fuße jenseits des Lebens …

4.

Ich habe nie die Kunst verstanden, gegen mich einzunehmen – auch das verdanke ich meinem unvergleichlichen Vater, – und selbst noch, wenn es mir von großem Werthe schien. Ich bin sogar, wie sehr immer das unchristlich scheinen mag, nicht einmal gegen mich eingenommen. Man mag mein Leben hin- und herwenden, man wird darin nur selten, im Grunde nur ein Mal Spuren davon entdecken, daß jemand bösen Willen gegen mich gehabt hätte, – vielleicht aber etwas zu viel Spuren von gutem Willen ... Meine Erfahrungen selbst mit Solchen, an denen Jedermann schlechte Erfahrungen macht, sprechen ohne Ausnahme zu deren Gunsten; ich zähme jeden Bär, ich mache die Hanswürste noch sittsam. In den sieben Jahren, wo ich an der obersten Klasse des Basler Pädagogiums Griechisch lehrte, habe ich keinen Anlaß gehabt, eine Strafe zu verhängen; die Faulsten waren bei mir fleißig. Dem Zufall bin ich immer gewachsen; ich muß unvorbereitet sein, um meiner Herr zu sein. Das Instrument, es sei, welches es wolle, es sei so verstimmt, wie nur das Instrument „Mensch" verstimmt werden kann – ich müsste krank sein, wenn es mir nicht gelingen sollte, ihm etwas Anhörbares abzugewinnen. Und wie oft habe [322] ich das von den „Instrumenten" selber gehört, daß sie sich noch nie so gehört hätten ... Am schönsten vielleicht von jenem unverzeihlich jung gestorbenen Heinrich von Stein, der einmal, nach sorgsam eingeholter Erlaubniß, auf drei Tage in Sils-Maria erschien, Jedermann erklärend, daß er nicht wegen des Engadins komme. Dieser ausgezeichnete Mensch, der mit der ganzen ungestümen Einfalt eines preußischen Junkers in den Wagner'schen Sumpf hineingewatet war (- und außerdem noch in den Dühring'schen!) war diese drei Tage wie umgewandelt durch einen Sturmwind der Freiheit, gleich Einem, der plötzlich in seine Höhe gehoben wird und Flügel bekommt. Ich sagte ihm immer, das mache die gute Luft hier oben, so gehe es jedem, man sei nicht umsonst 6000 Fuß über Bayreuth, – aber er wollte mir's nicht glauben ... Wenn trotzdem an mir manche kleine und große Missethat verübt worden ist, so war nicht „der Wille", am wenigsten der böse Wille Grund davon: eher schon hätte ich mich – ich deutete es eben an – über den guten Willen zu beklagen, der keinen kleinen Unfug in meinem Leben angerichtet hat. Meine Erfahrungen geben mir ein Anrecht auf Mißtrauen überhaupt hinsichtlich der sogenannten „selbstlosen" Triebe, der gesammten zu Rath und That bereiten „Nächstenliebe". Sie gilt mir an sich als Schwäche, als Einzelfall der Widerstands-Unfähigkeit gegen Reize, – das Mitleiden heißt nur bei décadents eine Tugend. Ich werfe den Mitleidigen vor, daß ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhanden kommt, daß Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht, – dass mitleidige Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch in ein großes Schicksal in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere Schuld hin[323] eingreifen können. Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden: ich habe als „Versuchung Zarathustra's" einen Fall gedichtet, wo ein großer Nothschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von sich abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den sogenannten selbstlosen Handlungen thätig sind, das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat – sein eigentlicher Beweis von Kraft ...

5.

Auch noch in einem anderen Punkte bin ich bloß mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach einem allzufrühen Tode. Gleich jedem, der nie unter seines Gleichen lebte und dem der Begriff „Vergeltung" so unzugänglich ist wie etwa der Begriff „gleiche Rechte", verbiete ich mir in Fällen, wo eine kleine oder sehr große Thorheit an mir begangen wird, jede Gegenmaaßregel, jede Schutzmaaßregel, – wie billig, auch jede Vertheidigung, jede „Rechtfertigung". Meine Art Vergeltung besteht darin, der Dummheit so schnell wie möglich eine Klugheit nachzuschicken: so holt man sie vielleicht noch ein. Im Gleichniß geredet: ich schicke einen Topf mit Confitüren, um eine sauere Geschichte loszuwerden ... Man hat nur Etwas an mir schlimm zu machen, ich „vergelte" es, dessen sei man sicher: ich finde über Kurzem eine Gelegenheit, dem „Missethäter" meinen Dank auszudrücken (mitunter sogar für die Missethat) – oder ihn um Etwas zu bitten, was verbindlicher sein kann als Etwas geben ... Auch scheint es mir, daß das [234] gröbste Wort, der gröbste Brief noch gutartiger, noch honnetter sind als Schweigen. Solchen, die schweigen, fehlt es fast immer an Feinheit und Höflichkeit des Herzens; Schweigen ist ein Einwand, Hinunterschlucken macht nothwendig einen schlechten Charakter, – es verdirbt selbst den Magen. Alle Schweiger sind dyspeptisch. – Man sieht, ich möchte die Grobheit nicht unterschätzt wissen, sie ist bei weitem die humanste Form des Widerspruchs und, inmitten der modernen Verzärtelung, eine unsrer ersten Tugenden. – Wenn man reich genug dazu ist, ist es selbst ein Glück, Unrecht zu haben. Ein Gott der auf die Erde käme, dürfte gar nichts Andres thun als Unrecht, – nicht die Strafe, sondern die Schuld auf sich zu nehmen wäre erst göttlich.

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130 S. 1 Illustration
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9783940621290
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