Selbstführung in stürmischen Zeiten

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Menschen sind emotional vernetzt

Emotionale Dynamik wirkt systemisch, indem sie Menschen spürbar miteinander verbindet.

Die ICE-Passagiere in der Umgebung des klingelnden Telefons erlebten plötzlich, dass sie emotional miteinander verbunden waren. Unvermittelt bildeten sie eine „Schicksalsgemeinschaft“. Ein emotionales System war sichtbar und spürbar geworden zwischen Menschen, die einander gar nicht kannten. Solch ein emotionales System bildet sich prinzipiell, wo zwei oder mehr Menschen, absichtlich oder zufällig, zusammen sind. Es verbindet sie völlig unabhängig von ihrer Bekanntheit miteinander, ihrem sozialen Status, ihren funktionalen Rollen, die sie innehaben, oder einer Aufgabe, in der sie stehen. Es ist also unbedeutend, wer von den Reisenden im Zug Chef, Putzfrau, Umweltaktivist, Pfarrer, Urgroßmutter oder Studentin ist und ob hier auch noch ein Zugbegleiter in Ausbildung sowie die Zugchefin anwesend sind.

Emotionale Verbindungen sind energiegeladen und beweglich. Sie entfalten eine stärkere Wirkung als irgendeine formale Verbindung zwischen Menschen und dem, was ihnen individuell zugeschrieben wird. Zudem kann ein emotionales System auch über die Dauer des direkten Zusammenseins verbinden. Israel Galindo2 spricht in diesem Zusammenhang vom „verborgenen Leben“ einer Organisation. Anders gesagt, ob Familie, Partygesellschaft, Arbeitsteam, Freundesclique, Gottesdienstgemeinde, Vereinsvorstand, Hauskreis, Konzertbesucher – immer besteht hier zwischen den Personen eine – wie auch immer geartete – emotionale Verbindung.

Diese im Hintergrund wirkende emotionale Dynamik hängt wesentlich mit dem zusammen, was wir „Angst-Spannung“ nennen. Auf den ersten Blick wirkt der Begriff in diesem Zusammenhang etwas drastisch oder übertrieben, denn hier sind Ärger, Gereiztheit, Missstimmung aufgetreten. Doch sie gehören zu den Emotionen, aus denen Angst-Spannung3 besteht. Und das hat die verschiedenen Menschen im ICE plötzlich – mehr oder weniger bewusst – emotional miteinander verbunden.

Selbstverständlich kann so ein emotionales Feld auch in positiven Empfindungen wie Fröhlichkeit, Freude, Glück, Begeisterung, Anbetung etc. wirksam sein. Doch hier geht es uns jetzt um Erfahrungen und Gefühle, die eher „unbehaglich“ sind und in denen wir Stress erleben.

Angst-Spannung! Was ist das?

Angst-Spannung ist emotionaler Schmerz, der uns Gefahr signalisiert. Angst-Spannung existiert! Sie ist nicht moralisch zu bewerten.

Es gibt kein Leben ohne Ängste und Spannungen. Das gilt für jede einzelne Person genauso wie für jede Gruppe von Personen, also für jedes emotionale System. Und das ist gut so. Als emotionaler Schmerz signalisiert Angst uns Gefahr. Gewöhnlich werden dabei Angst und Furcht unterschieden.

Furcht ist konkret und klingt schnell ab, wenn das Licht angemacht wird und die Eltern unterm Bett nachschauen, ob dort wirklich kein Monster liegt. Und die Furcht vor einem Unfall klingt ab, wenn der Fahrer das Tempo des Wagens spürbar verlangsamt und umsichtiger fährt.

Angst ist unbestimmter, anhaltender. Sie geht jeden Tag mit einem ins Büro und wieder nach Hause, wenn unklar ist, ob und wie die Geschäftsentwicklung personelle Konsequenzen haben könnte. Angst vor dem Ungewissen und der Leere schleichen sich ein, nachdem die Freiheits- und Urlaubsgefühle der ersten Wochen des Ruhestandes allmählich vergehen.

Beides trägt insofern Angst-Spannung in sich, als die Betroffenen in der Situation angespannt, unwohl, innerlich unruhig und erregt eine Gefahr oder Unannehmlichkeiten erwarten und ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen bedroht sehen.

Nun vermeiden viele Menschen lieber Begriffe wie Furcht und Angst. Sie erscheinen ihnen in einer bestimmten Situation als übertrieben oder sie (miss-)verstehen sie als Schwäche, die sie nicht zeigen möchten. Man würde jedoch vielleicht zugeben, „ein wenig angespannt“ zu sein.

Mit dem Kunstwort Angst-Spannung wollen wir die ganze Bandbreite von mulmigen Gefühlen wie Anspannung, Aufregung, Beunruhigung, Ängstlichkeit, Beklemmung, Besorgnis, Sorge, Furcht, Angst oder Panik abdecken. Die hier wirksame emotionale Kraft kommt jedoch aus dem, was das Wort Angst in seiner lateinischen Wortbedeutung beschreibt: angustus/angustia steht für „Enge, Beengung, Bedrängnis“. Was auch immer der Auslöser dafür ist, wir fühlen uns bedroht in unserer emotionalen Sicherheit oder körperlichen Unversehrtheit. Es spielt auch keine Rolle, wie real oder irreal die Gefahr für Leib und Leben ist. Auch eingebildete Gefahren lösen Ängste und Spannungen aus. Und Ängste drängen uns, eine lebensschützende und lebenserhaltende Lösung zu finden. Die klassische instinktive Reaktion auf Gefahr ist flüchten oder standhalten und kämpfen. Was Ängste und Spannungen auslöst und in welchem Maß das geschieht, ist von Person zu Person und von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich.

Festzuhalten ist:

Angst-Spannung ist eine automatische Reaktion auf etwas, das wir – warum auch immer – als bedrohlich erleben. Im ICE war es nur die Ruhe und das ungestörte Lesen, Arbeiten, Träumen oder was auch immer der Passagiere, das gefährdet war. Es spielt keine Rolle, ob diese Bedrohung oder Gefahr real ist oder ob sie „nur“ in der Vorstellung existiert. Die eigene Kontrolle über das eigene Leben und Wohlergehen zu haben ist oder scheint bedroht.

Angst-Spannung beeinflusst unser Denken und unser Verhalten. Sie kann unsere Aufmerksamkeit und Wachsamkeit erhöhen, sie kann uns in unserem Handeln hemmen oder motivieren.

Angst-Spannung ist emotionaler Schmerz, der eine wie auch immer geartete Gefahr signalisiert. Das dient unserem Überleben. Insofern ist Angst-Spannung, je nach Sichtweise, Teil unserer Natur oder Teil von Gottes guter Schöpfung. Anders gesagt: Sie ist weder gut noch schlecht und ihr Auftreten ist schon gar nicht moralisch zu bewerten.

?Welche Situation kommt Ihnen in den Sinn, in der Sie (kürzlich) Angst-Spannung erlebten?

Jeder Mensch erfährt und lernt zunächst einmal den Umgang mit Ängsten und Spannungen zu Hause in der Kindheit. Was hat dort Angst-Spannungen ausgelöst? Streitereien? Eine chronische Krankheit? Schulnoten? Schläge? Ein Todesfall? Leistungserwartungen? Mobbing? Scheidung der Eltern? Missbrauch? Vernachlässigt werden? Geheimnisse? Wie sind die verschiedenen Familienmitglieder damit umgegangen? Dieses emotionale System unserer Herkunftsfamilie hat uns geprägt. Doch auch andere Lebenserfahrungen spielen eine Rolle. Zum Beispiel zurückliegende belastende traumatisierende Erfahrungen, die ihre tiefen Spuren in uns hinterlassen haben und sich darauf auswirken, worauf und wie wir mit Angst-Spannungen reagieren. Immer stellt Angst-Spannung einen Menschen oder eine Gruppe vor die existenzielle Frage: „Schaffe ich das?“ „Fühle ich mich sicher genug, stark genug, um damit fertig gut zu werden?“

?Wo und wie habe ich in meiner Herkunftsfamilie Angst-Spannungen wahrgenommen?

Wie sind die verschiedenen Familienmitglieder damit umgegangen?

Angst-Spannung – was dabei im Hirn passiert

Angst-Spannung schaltet die filigranen und komplexen neuronalen Vernetzungen im Hirn ab und greift auf die „dicker verdrahteten“ einfachen Reaktions- und Verhaltensmuster zurück.

Der Neurobiologe Gerald Hüther erklärt:

Jede schwerwiegende Irritation oder Belastung erzeugt im Hirn eine sich ausbreitende Erregung, die dazu führt, dass nur auf der Ebene der besonders stabilen, durch bisherige Erfahrungen bereits gut gebahnten Verhaltensmuster ein entsprechendes handlungsleitendes Aktivierungsmuster aufgebaut werden kann. Deshalb führt jeder Leistungs-, Erwartungs-, Handlungs- oder sonstiger Druck zum Rückfall in bereits bewährte Strategien, bisweilen sogar zu Reaktionen, die schon während der frühen Kindheit eingeübt worden sind.

Je größer der Druck und die dadurch sich im Gehirn ausbreitende Erregung wird, desto tiefer geht es also auf der Stufenleiter der noch aktivierbaren, handlungsleitenden Muster hinab. Das Verhalten wird einfacher. Weil im Hirn weniger regionale Netzwerke miteinander synchronisierbar sind und miteinander in Beziehung treten können, werden die Reaktionen auch entsprechend robuster und eindeutiger.

Um wieder zu komplexeren handlungsleitenden Mustern zu gelangen, muss der äußere Druck nachlassen bzw. das innere Erregungsniveau abgesenkt werden. Erst dann können wieder hochvernetzte, subtilere und fragilere Beziehungsmuster zwischen möglichst vielen Nervenzellen aus möglichst unterschiedlichen Bereichen des Gehirns aufgebaut und als handlungs- und denkleitende Muster aktiviert werden.4


Unter Angst-Spannung den Kopf verlieren oder einen kühlen Kopf bewahren

Angst-Spannung kann einerseits helfen, unser kreatives und intelligentes Potenzial zu nutzen, und es andererseits blockieren.

 

Wer entspannt und gelassen ist, „funktioniert gut“, weil er mit dem, was kommt, unverkrampft und fokussiert umgehen kann. Wir haben dann ein relativ breites Handlungsrepertoire, um mit unterschiedlichen Situationen und Herausforderungen umzugehen. Wer aber unter hoher Angst-Spannung steht, wird rigide und hat nur wenige Handlungsoptionen zur Verfügung.

Die Handbewegung streift das Trinkglas. Es kippt um und sein Inhalt ergießt sich über Tisch und Hosen.

Der eine explodiert, fängt an zu schimpfen „Mensch, pass doch auf! So eine Sauerei …“ und hantiert hektisch herum, um das Malheur zu beseitigen.

Der andere greift ruhig nach ein paar Servietten, um die Flüssigkeit aufzusaugen, und sagt freundlich gelassen „Kein Problem, kann ja mal passieren. Hier – trink einen Schluck aus meinem Glas.“

Im Normalfall lässt uns ein gewisses Maß an Angst-Spannung aktiv werden, um eine gute Lösung für ein auftauchendes Problem zu finden. Sie kann uns antreiben, Neues zu wagen, kreativ zu werden, Ideen zu entwickeln, konzentriert voranzugehen, um eine schwierige Herausforderung zu meistern. So helfen Angst-Spannungen, erforderliche Veränderungen im persönlichen Leben wie im Leben einer Paarbeziehung, einer Familie, einer Gruppe, einer Kirchengemeinde oder Organisation zu bewirken.

Haben Angst-Spannungen aber einen kritischen Punkt erreicht, verhindern sie genau die Lösungen und Veränderungen, die sie eigentlich hervorrufen sollten. Was stimulierende Kraft sein könnte, entpuppt sich als blockierende Macht. Wir „verlieren den Kopf“, können keinen klaren Gedanken fassen, reagieren heftig, emotional unkontrolliert und sind nicht mehr in der Lage, uns überlegt und differenziert zu verhalten. Reflexartig brüllen wir los oder ducken uns weg, schlagen zu.

Je höher der Angst-Spannungs-Pegel ist, desto weniger sind wir in der Lage, unser kreatives und intelligentes Potenzial zu nutzen, um eine kritische Situation konstruktiv zu lösen. Das ist bei jedem Einzelnen so wie auch in jeder Gruppe von Menschen.

?Wie reagieren Sie, wenn es Ihnen zu viel wird? Welche (blockierenden) Angst-Spannungs-Reaktionen sind typisch für Sie?

Welches Erlebnis kommt Ihnen in den Sinn, in dem ein gewisses Maß an Angst-Spannung Sie beflügelt hat? Wie sah das aus?

Ein Blick in die Bibel

„In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Joh 16,33(Luther 2017)

Jesus trifft eine nüchterne Feststellung: Angst bzw. Angst-Spannung gehören zum Leben in dieser Welt. Er betreibt keine Schönfärberei und sagt nicht: Glaubende haben keine Angst.

Die Jünger Jesu haben Angst im Sturm auf dem See Genezareth. In höchster Angst-Spannung laufen sie davon, als Jesus verhaftet wird. Jesus kämpft selbst in der Gegenwart tröstender Engel mit seiner Angst. Ängste, Angst-Spannungen zu haben ist menschlich und okay. Dafür muss sich niemand schämen.

„Aber“, sagt Jesus und setzt damit der Angst etwas entgegen. Nämlich seine Gegenwart, seine mitfühlende, ermutigende, lebensstärkende Nähe. „Seid getrost! Lasst euch nicht verrückt machen! Verlasst euch auf mich!“, denn: „Ich habe die Welt überwunden“. Jesus sagt nicht: „Ich habe die Angst überwunden“, sondern „die Welt“. Seine Botschaft lautet: In eurer Angst-Spannung seid ihr nicht allein. Ich stehe sie mit euch durch und helfe euch, gelassener zu werden und sinnvoll mit ihr umzugehen.

Übrigens: In Gethsemane wird deutlich, wie Jesus mit seiner Angst-Spannung umgeht: In der Suche nach Beistand mutet er sich seinen Freunden und Gott zu. Zumindest Gott hält, was er verspricht („Ich bin da für dich“).

?Wie wirkt die Zusage Jesu auf Sie?

Welche konkrete angstgespannte Lebenserfahrung oder Situation verbinden Sie mit dieser Zusage Jesu?

„Angst baut keine sicheren Häuser.“5

Anke Maggauer-Kirsche

KAPITEL 2
SCHLUSS MIT LUSTIG
Angst-Spannung in Aktion

Darum geht es in diesem Kapitel:

Angst-Spannungen als Alarmton oder Dauerton unterscheiden

Was definitiv nicht hilft, Angst-Spannung zu bändigen

Mit welchen angstspannungsgetriebenen Verhaltensmustern wir einander das Leben schwer machen können

Zu welchen angstspannungsbedingten „Aussetzern“ es bei Menschen in der Bibel gekommen ist

Was Angst-Spannung mit Ihnen macht

Alarmton und Daueralarm

Jeder Mensch und jedes soziale System erlebt situationsbedingte und prägungsbedingte Angst-Spannung.

Grundsätzlich gilt: Angst-Spannung gibt es in punktueller, kurzzeitiger (akuter) Form und in dauerhafter Form. Also vergleichbar einem kurzen Warnton und einem Dauerwarnton.

In welchem Maß jemand mit Angst-Spannung auf ein Ereignis reagiert, hängt von zwei Bedingungen ab. Zum einen ist das die individuelle Tagesform und persönliche Befindlichkeit, also wie gut oder schlecht ich gerade drauf bin, weil ich nicht ausgeschlafen bin, mir der Zahn wehtut oder ich mich heute schon dreimal über einen Autofahrer geärgert habe. Das macht viel aus, wie gelassen oder akutangstgespannt ich reagiere. Zum anderen ist mein Verhalten bestimmt durch das Maß von Angst-Spannung, das mir von Grund auf eigen ist. Wir nennen sie chronische Angst-Spannung, weil sie sich wie ein Dauerton durch das Leben eines Menschen zieht und das individuelle Erleben und Verhalten prägt.7 Dieser mehr oder weniger starke „Dauerton“ hat sich von klein auf durch verschiedene Einflüsse und Lebenserfahrungen ausgebildet und ist Teil meiner Persönlichkeitseigenschaften.

Akute und chronische Angst-Spannung
Alarmton – akute Angst-Spannung

Als Anna nachts an der beleuchteten Bushaltestelle aussteigt und sich von ihrer Freundin verabschiedet, laufen drei junge „halbstarke“ Männer laut grölend und gestikulierend an ihnen vorbei. Der Bus ist abgefahren – es ist nur ein kurzer Weg nach Hause – und Anna geht los. Da hört sie hinter sich Schritte. Die Männer sind offenbar umgekehrt. Anna beschleunigt ihren Gang. Sie hört die drei hinter sich feixen, ohne deren Worte genau zu verstehen. Als sie in die Seitenstraße abgebogen ist, merkt sie, dass die Männer immer noch hinter ihr sind. Sie fängt an zu rennen.

Akute Angst-Spannung ist situationsbedingt. Sie ist immer eine Reaktion auf ein konkretes Ereignis oder Problem, das wir als Gefahr empfinden. Unsere Sicherheit ist bedroht, unsere Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten sind gefährdet. Im ersten Moment reagieren wir irritiert, erregt, aufgewühlt oder auch kopflos, um uns bald wieder im Griff zu haben und die Dinge ruhig und überlegt zu bewältigen.

Im Kleinen sind es Ereignisse wie der nicht auffindbare Autoschlüssel, das unglückliche Missverständnis, das verlorene Dokument, die unberechtigte Schuldzuweisung, die vergessene Verabredung oder dergleichen.

Doch auch veränderte Gruppenzusammensetzungen können Angst-Spannung auslösen. Ein Mensch kommt neu dazu oder geht weg: z. B. in einer Familie durch Heirat, Scheidung, Geburt. In einer Organisation kommt es zu Personalwechsel, Leitungswechsel oder in einer Kirchengemeinde ist es ein Pastorenwechsel. Das gilt umso mehr, wenn es sich dabei um eine besonders einflussreiche oder tragende Person handelt.

Akute Angst-Spannung kann auftreten, wenn sich ein Finanzloch auftut oder es in einem Betrieb zu wesentlichen organisatorischen Veränderungen kommt. Baumaßnahmen oder räumliche Veränderungen können ebenso Ursache akuter Angst-Spannung sein. Oder es geht um Grenzen und Grenzüberschreitungen: Wer darf was? Was gehört wem? Wer hat wo Zutritt oder wofür einen Schlüssel? Was tolerieren wir? Was ist nicht akzeptabel? Dazu gehören auch ethische Normen und Werte, die Kultur einer Gruppe oder Lehrfragen in einer Kirchengemeinde, die infrage gestellt werden.

Eine heftige Quelle für akute Angst-Spannung sind traumatische Ereignisse (z. B. Verbrechen, schwere Erkrankungen, Misshandlungen, Unfälle, Suizid, Todesfälle).

Grundsätzlich kann akute Angst-Spannung sowohl eine einzelne Person als auch eine Gruppe, Organisation und Kirchengemeinde erfassen. Sie wird immer angestachelt durch Furcht vor dem, was ist oder was kommt. Und sie wird als zeitlich begrenzt erfahren. Wir bewältigen sie gewöhnlich adäquat und erfolgreich.6 Allerdings brauchen die zuletzt genannten heftigen Auslöser für akute Angst-Spannung oft ihre Zeit, bis sie verarbeitet sind. Sie können unter Umständen jedoch auch zu dem führen, was wir unter dem Stichwort „Daueralarm“ gleich anschauen.

?Was hat Ihnen in einer konkreten Situation geholfen, Ihre akute Angst-Spannung zu bewältigen bzw. abzubauen?

Ein Blick in die Bibel
Akute Angst-Spannung und der krähende Hahn (Lk 22,54–62)

Jesus wird verhaftet und abgeführt zum Hohenpriester. Akute Angst-Spannung pur! Nicht nur bei Petrus. Aufgewühlt läuft er hinterher zum Hof des Hohenpriesters. Dort mischt er sich unter die Leute, die in Sichtweite des Verhörs abwarten, wie die Sache weitergeht. Am wärmenden Feuer wird er plötzlich als einer von den Jesus-Leuten erkannt. Alarmstufe Rot! Erschrocken streitet Petrus ab, mit Jesus etwas zu tun zu haben: „Ach was, den kenne ich überhaupt nicht!“ Kurz drauf kommt ein anderer auf ihn zu und erkennt ihn als „Bandenmitglied“ des Verhafteten. „Bin ich nicht“, wehrt Petrus die drohende Gefahr ab. Eine Stunde später erkennt ein Dritter ihn als Jünger Jesu. Innerlich aufgescheucht und äußerlich cool versucht er, sich aus der Affäre zu ziehen mit: „Keine Ahnung wovon du sprichst!“ Da kräht der Hahn! Und der gefangene Jesus dreht sich zu Petrus um, um ihn anzuschauen. Siedend heiß durchfährt Petrus die Erkenntnis: Ich habe ihn verraten und er weiß es. Er hatte es ja vorher schon gewusst und mir gesagt, dass ich den Mund zu voll nehme und ein Feigling bin. Bestürzt über sein Versagen verschwindet Petrus tränenüberströmt im Dunkel der Nacht.

Daueralarm – chronische Angst-Spannung

Während akute Angst-Spannung eindeutig greifbar erlebt wird, gibt es eine andere Form von Angst-Spannung, die eher im Verborgenen lebt. Unbewusst oder unterschwellig beeinflusst sie unser Empfinden und Verhalten.

Unschwer zu beobachten ist, dass manche Menschen prinzipiell ängstlicher oder innerlich angespannter als andere durchs Leben gehen.

Michael ist immer eine halbe Stunde vor Abfahrt am Bahnhof. Obwohl er seinen Job beherrscht und sein Chef ihm das bisher in jedem Mitarbeitergespräch bestätigt hat, geht er jeden Tag besorgt zur Arbeit, ob er den Anforderungen genügen wird. Unablässig macht er sich Gedanken über Erwartungen, die jemand an ihn haben könnte, und möchte niemand enttäuschen. Michael kann Spannungen schlecht aushalten. Er will Ärger vermeiden und passt sich oft an. Doch dann und wann explodiert er und kann aus dem Stand heraus auch auf nichtige Anlässe ziemlich heftig reagieren. Er beklagt sich immer wieder, wie oft er schon enttäuscht worden ist von anderen Menschen, und kann erzählen, wie häufig er unfair behandelt und benachteiligt worden ist.

Chronische Angst-Spannung basiert auf dem beständigen Empfinden, es könnte etwas Schlimmes passieren. Dahinter stehen frühere reale Erfahrungen, in denen ein Mensch sich auf die eine oder andere Weise in seiner emotionalen Sicherheit oder körperlichen Unversehrtheit bedroht erlebte. Jemand ist zu kurz gekommen, abgelehnt worden, nicht geliebt worden, missbraucht worden. Jemand hat irgendwelche Erwartungen nicht erfüllt, hat Verluste und Lebensbedrohung erfahren durch Gewalt, Krankheit, Hunger oder Konflikte. Vieles kann tiefe Spuren der Verunsicherung hinterlassen.

 

Chronische Angst-Spannung konserviert die frühere Erfahrung und das damit verbundene Empfinden von Verunsicherung. Sie bildet eine vorausahnende ständige Alarmbereitschaft aus, die auch auf minimale Anlässe oder auf real nicht vorhandene Gefahren reagiert – sprich: es ist eine Art Überreaktion auf eine mehr oder weniger eingebildete, eingeredete, ausgemalte Gefahr. Diese Angst-Spannung wird angestachelt durch Furcht vor dem, was sein könnte. So wird die aktuelle Situation im Sinn des zurückliegenden Erlebnisses interpretiert und es wird dementsprechend reagiert. Damit aber übersteigt chronische Angst-Spannung oft die Fähigkeit, adäquat und wirksam mit realen oder nicht realen Bedrohungen umzugehen.

Ein chronisch angstgespannter Mensch ist unterschwellig und folgenschwer verunsichert. Es kann ihn anderen gegenüber unbedacht nachgiebig machen. Sich anpassen, gehorsam sein kann daher kommen. Oder auch mehr oder weniger unvermittelte heftige emotionale Ausbrüche in der Bandbreite von Tränen bis Wut. Chronisch angstgespannte Menschen sind leicht verletzt und sehen sich selbst sehr leicht als Opfer.

Menschen, die neu zur Friedensgemeinde in YX kommen, erleben sonntags eine kommunikative, offene und gesellige Atmosphäre. Zum Selbstverständnis dieser freikirchlichen Gemeinde gehört, die wesentlichen Dinge des Gemeindelebens gemeinsam im Rahmen von Gemeindeversammlungen zu besprechen und zu entscheiden. Über Jahre hatte es immer wieder schwere Konflikte und heftige Auseinandersetzungen in solchen Versammlungen gegeben. Die letzte Krise liegt einige Jahre zurück. Seither versucht man, potenziell konfliktträchtigen Themen auszuweichen. Gemeindeversammlungen finden nur noch selten statt. Zu diesen erscheinen die Mitglieder sehr besorgt, es könnte wieder Ärger und Konflikte geben. Um das zu vermeiden, gestalten sich der Umgang mit den Themen und die Gespräche zu Entscheidungsfindungen sehr vorsichtig, befangen und verwaschen. Es wird zwar manches geredet, aber wenig gesagt. Auch neue Gemeindeglieder, die die Gefahr nur vom Hörensagen kennen, passen sich dem Stil an und „wissen“, wie besorgt man um den Verlauf der Zusammenkunft sein muss. Über Jahre hat die kollektive Angst-Spannung die Kultur der Gruppe geprägt.

Chronische Angst-Spannung ist sozusagen gewohnheitsbedingt und wie ein Muster in das Leben hineingewebt. Diese Angst-Spannung kommt nicht zur Ruhe. Sie verebbt nicht irgendwann und irgendwie, sondern ist laufend in Rufbereitschaft. Es braucht nicht viel, um sie zu aktivieren. Triviale Anlässe und kleinste Veränderungen lösen heftige emotionale Reaktionen aus. Aus dem gelegentlichen Warnsignal Angst-Spannung ist ein Daueralarmton geworden. Wie stark der allerdings bewusst von einem selbst wahrgenommen wird, ist offen.

Es gibt keinen Menschen und keine Gruppe, der oder die nicht ein gewisses Maß an Grund-Angst-Spannung hätte. Das ist normal. Es ist eher die Frage, wie hoch der Pegel der Grund-Angst-Spannung ist. Je höher er ist, desto leichter gibt es eine emotionale Überschwemmung – auch aus unscheinbaren Anlässen.

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