Buch lesen: «Amerika Saga»

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Frederik Hetmann

Amerika Saga

Von Cowboys, Tramps und Desperados

Mit Holzschnitten von Günther Stiller

FUEGO

- Über dieses Buch -

Ausgezeichnet als bestes Jugendbuch mit dem

deutschen Jugendbuchpreis 1965

Jurybegründung: Frederik Hetmann hat mit viel Interesse und Liebe amerikanische Volksbücher, Sagen, Legenden, Märchen, Balladen und Lieder gesammelt, in der deutschen Sprache neu gestaltet und in vier Kapiteln - »Der Osten«, »Der Westen«, »Das Industriezeitalter« und »Der Süden« - zu einem faszinierenden Buch gegliedert. So entstand ein Werk neuen Stils, das Geschichte und Geschichten vermittelt. Dem Leser wird ein vielseitiges und unmittelbares Bild von der amerikanischen Pionierzeit dargeboten, das aufräumt mit Klischeevorstellungen vom »Wilden Westen«. Alle Formen amerikanischen volkstümlichen Erzählens wurden herangezogen und zu einem geschlossenen farbigen Mosaik amerikanischer Geschichte zusammengeführt. In seinem sachlichen und literarischen Gehalt ist das Buch gleich wertvoll. Es führt hin zu seine Wurzeln der heutigen amerikanischen Short-Story und dem Blues unserer Tage. Die Gestaltung entspricht dem besonderen Wert des Buches.

Für Nor in Liebe

Casey sprach:

»Ich weiß eine Handvoll Geschichten,

aber vor allem mag ich die Menschen.«

John Steinbeck


Vorwort

Amerika, o Amerika!

Dieses Buch will Geschichte und Geschichten aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika erzählen: wie dieses Land, welches sich das Land der Freiheit nennt, entstand, wie es sich entwickelte, wie es träumte, lebte, arbeitete, wie es Geschichten erzählte, wie es Lieder sang, wie es ein Land wurde, in dem, stärker vielleicht als anderswo, die Menschen ihren Traum vom irdischen Glück, von einem menschenwürdigen Dasein und von einer gerechten Gesellschaft zu verwirklichen trachteten.

Die Absicht ist die eines Abenteuers. Unsere Fantasie soll durch die Geschichte, durch die Legenden, Sagen, Märchen, Balladen und Lieder dieses Landes streifen. Die Szenerie für dieses Abenteuer ist das große Viereck, das sich auf unseren heutigen Landkarten etwa durch die Städte Boston, New Orleans, San Francisco und Seattle markieren ließe.

Die Szenerie ist eine Landmasse, die in ihren Grenzen fast alle Landschaftsformen der Erde vereinigt, in der es Wüsten und fruchtbare Ebenen, große Wälder und Steppen, mächtige Ströme, hohe Gebirge, Salzseen, schroffe Felsküsten und palmenbestandene Sandstrände gibt. Eine Landmasse, die fast alle Wunder der Natur und all ihre Schätze birgt und auf der sich drei menschliche Rassen begegnen: Indianer, Schwarze und Weiße.

Die Szenerie ist ein weiter Raum, wo in den Jahren seiner Besiedlung ebenso wie noch heute Platz war für Helden, Feiglinge, Wohltäter und Bösewichte, für Idealisten und Realisten, für Träumer und Pioniere, für Abenteurer und Weise. Die Szenerie ist ein Staat, der unvollkommen blieb wie alle menschlichen Einrichtungen, dessen Bürger aber bis heute den Sinn für die Würde des Menschen und für seine Grundfreiheiten bewahrt haben, und die für die Vervollkommnung dieser Prinzipien und ihre Erhaltung im eigenen Land wie in allen anderen Ländern dieser Erde bereit sind, sich einzusetzen und zu kämpfen.

Die Geschichte und die Geschichten dieses Landes sind gemeinsam zu erzählen, denn eines kommt ohne das andere nicht aus, und beides hat seine Bedeutung und seine Richtigkeit. Weder die nüchterne Tatsache noch die Vorstellung der Fantasie allein enthält die ganze Wahrheit. Erst für den, der beide sieht, hört, bedenkt und prüft, wird der Blick frei auf das wahre Schicksal des Menschen, das Menschen immer wieder am meisten bewegt hat, noch dazu, wenn es sich unter so einzigartigen Umständen vollzieht.

Vielleicht vermag ein kurzer Bericht über die Entstehung dieses Buches am besten etwas über seine Absicht auszusagen. Als Kind und als Jugendlicher lebte ich in jenem Teil Deutschlands, der hinter dem Eisernen Vorhang lag. Für uns Schuljungen der Jahre 1945 bis 1948 war Amerika nicht nur ein Indianertraum, vielmehr verband sich dieses Wort in unserer Vorstellung mit den Gedanken an Reichtum und Überfluss, aber auch an politische Freiheit. Daraus aber formte sich in unserer Fantasie eine schimmernde Seifenblase. Amerika, o Amerika! Amerika war unser Land der Fantasie schlechthin. In gewissem Sinn hat mich meine Neugier dazu gebracht, diesem Traum von Amerika, dem Traum von der Neuen und ganz anderen Welt bis heute auf der Spur zu bleiben. Sechs Jahre lang sammelte ich amerikanische Volkslieder, Sagen, Legenden, Märchen. Ernüchterungen, aber auch erneutes Staunen waren das Ergebnis.

Wen die Fantasie einmal mit einem großen Traum infiziert hat, der wird allergisch gegen Träume, die in Konfektion hergestellt werden. Sooft ich einen Wildwestfilm sah, sagte ich mir, dass die Wahrheit erregender, fantastischer und zugleich auch erstaunlicher gewesen sein müsse, als es die Drehbuchschreiber von Hollywood uns vorgaukeln. So kam ich dazu, Gerichtsakten des Staates Texas zu studieren und die verschiedenen Versionen von Volksliedern in der Alten und in der Neuen Welt zu vergleichen und die Geschichten um den Schinderhannes Amerikas, Jesse James, an der Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges zu messen; und plötzlich war ich mittendrin in jener schimmernden Seifenblase, die für den Schuljungen unerreichbar fern über den Horizont geschwebt war. Ich betrachtete sie nun von innen, aber siehe da, sie schimmerte noch immer.

Sich dem Wesen eines Landes auf dem Umweg über die Gebilde seiner Fantasie nähern: So könnte man den Versuch umschreiben, den dieses Buch unternimmt. Dass wir dabei auf manches Bekannte, aus der eigenen Sagen- und Märchenwelt Vertraute stoßen werden, muss uns nicht wundem, denn im Reich der Fantasie bestand die Gemeinschaft zwischen Diesseits und Jenseits des Atlantik schon lange, ehe die Politiker den Zusammenhang zwischen Europa und Amerika in Bündnissen zu formulieren versuchten.

Frederik Hetmann

Der Osten


Eine Nation wird geboren

Von den ersten Siedlern bis zum Unabhängigkeitskrieg 1600 – 1800

Die Geschichte der Vereinigten Staaten von Nordamerika beginnt mit zwei Siedlungsunternehmen um das Jahr 1600. Jamestown in Virginia und Plymouth im heutigen Staate Massachusetts sind zwar nicht die ersten Siedlungen in der Neuen Welt Schon gibt es in Nordamerika Niederlassungen der Franzosen in Kanada; schon haben die Spanier in New Mexico Städte gegründet, und schon haben ebenfalls Spanier die Halbinsel Florida besiedelt. Aber nicht aus diesen Kolonien sollte sich die nordamerikanische Nation entwickeln, sondern aus den beiden unscheinbaren Kolonien Jamestown und Plymouth. Was war das Besondere an ihnen?

Die Männer, die am 13. Mai 1607 unter dem Befehl eines Christopher Newports in Hampton Roads landeten und die Siedlung Jamestown mit der Errichtung eines Forts, einer Kirche und einer Anzahl kleiner Hütten gründeten, waren Abenteurer, aber sie waren auch freie Männer. Zwar hatte sie die Handelsgesellschaft, die Virginia Company, über den Ozean geschickt, aber sie besaßen auch ein königliches Patent, das ihnen »alle Freiheiten, Gerechtsamkeiten und Privilegien eines Bürgers in England« garantierte.

Die ersten Jahre waren schwer. Einmal wollten die Männer die neue Siedlung schon wieder aufgeben, denn ihre Vorräte waren alle aufgezehrt. Sie wanderten zur Mündung des Flusses, an dem Jamestown lag, und sichteten dort das ersehnte Versorgungsschiff aus England. Da fassten sie wieder neuen Mut.

Nach sechs, sieben Jahren war das Schlimmste überstanden. Man baute Tabak an, der sich in England zu einem guten Preis verkaufen ließ. Das Verhältnis zu den Indianern wurde durch eine Eheschließung zwischen einer Häuptlingstochter und einem Anführer der Engländer freundlich gestaltet. Am 30. Juli 1619 trat in der Holzkirche von Jamestown die erste gesetzgebende Versammlung von Virginia zusammen. Zweiunddreißig Männer, Repräsentanten von elf verschiedenen Ansiedlungen, nahmen daran teil. Diese Männer tagten noch unter dem Vorsitz des Gouverneurs, der die Krone repräsentierte, aber sie legten auf ihren Beratungen den Grundstein für die Eigenverantwortlichkeit der Menschen in der Neuen Welt, die sich von da an mehr und mehr entwickelte. Und noch etwas hatte sich im Verhältnis der Menschen zueinander in dieser Siedlung am Rande der Wildnis geändert. Niemand genoss hier aufgrund seines Berufes oder seiner Herkunft besondere Vorrechte.

1619 schrieb ein gewisser John Pory einen Bericht über Virginia. Darin heißt es:

»Unser Kuhhirt hier geht am Sonntag ausstaffiert und ganz in glänzend bunte Seide gekleidet; und die Frau des Kohlenträgers aus Croydon trägt ihren Hut aus Biberfell mit einem artigen Hutband aus Perlen … ein jeder so, wie er es durch seiner Hände Arbeit verdient, sagen die Leute hier!«

Das war eine Verlockung, die über Jahrhunderte hin für Menschen in vielen europäischen Staaten nichts von ihrem Reiz verlieren sollte.

Die andere Siedlung lag nördlich von Virginia. Dort waren am 11. November 1620 die Pilgerväter mit ihrem Schiff Mayflower gelandet.

Sie waren eine englische Calvinisten-Gemeinde aus dem Dorfe Scrooby in Nottinghamshire, die die Kirchenoberhoheit des Königs von England ablehnte und deshalb hatte auswandern müssen. Es waren Menschen, die Religionsfreiheit suchten. Fast alle Männer waren Familienväter und brachten Frauen und Kinder mit.

Ihr Status in der neuen Welt war kompliziert. Der König Jakob von England hatte ihnen ein Privileg verweigert, sie aber wissen lassen, er werde ihre Siedlung dulden, solange aus dem Unternehmen keine Unruhe und kein Aufruhr erwachse. Daraufhin hatten sich die Calvinisten an die Virginia Company gewandt, um von ihr Land im Staate Virginia zu kaufen. Es wurden Verträge geschlossen, die aber nur für das Interessen- und Einflussgebiet dieser Handelsgesellschaft galten.

Als die Pilgerväter nach 64 Tagen Überfahrt endlich Land sichteten, befanden sie sich nicht in Virginia, sondern viel weiter nördlich. Dass sie blieben und hier siedelten, kann wahrscheinlich nur damit erklärt werden, dass sie sich vor einer weiteren Schiffsreise fürchteten. In einer Kajüte ihres Schiffes kamen sie zusammen und gaben ihrer Siedlung eine Verfassung, in der es heißt: »... um die erste Kolonie in den nördlichen Provinzen von Virginia zu gründen … verbinden wir uns zu einer verfassungsgebenden Versammlung, zu unserer besseren Einrichtung und zu unserem Schutz, und urkundlich verfügen wir und setzen ein und entwerfen solche gerechte und gleichmäßige Gesetze, Verordnungen, Beschlüsse, Konstitutionen und Ämter.«

Diese Urkunde wurde von 41 Männern unterschrieben, und ein gewisser John Carver wurde zum ersten Gouverneur der Kolonie gewählt.

Im ersten Winter starben zwar mehr als die Hälfte der Einwohner dieser Kolonie, aber der nächste Sommer brachte eine gute Ernte. Mit großer Zähigkeit und Entschlossenheit setzten sich die Siedler durch. Als die Indianer ihnen ein Bündel Pfeile in einer Schlangenhaut als Kriegsherausforderung schickten, füllten sie die Haut mit Gewehrkugeln und sandten sie so an den Indianerstamm zurück.

Von größter Bedeutung für das Gesicht des neuen Landes, das hier wuchs, war, dass in den beiden ersten Kolonien die Bürgerrechte, das Recht auf Selbstverwaltung und das Recht auf freie Religionsausübung als wichtige Errungenschaften für ein glückliches Zusammenleben von freien Menschen erkannt wurden.

Von 1620 an wuchsen die Kolonien rasch, und Siedler kamen nun nicht nur aus England, sondern auch aus anderen europäischen Staaten: italienische Glasbläser, Griechen aus Smyrna, Holländer, Schweden, Deutsche, Franzosen. Und sie alle brachten ihre Besonderheiten und ihr Brauchtum mit. Die Schweden beispielsweise führten das Blockhaus in der Neuen Welt ein, die Deutschen lehrten die anderen Siedler besondere Ackerbaumethoden, die Franzosen kannten sich im Weinbau aus.

Aber auch die Märchen, Lieder und Sagen all dieser Völker kamen mit den Einwanderern in die Neue Welt, vermischten sich dort untereinander, wie sich auch die nationalen Gruppen bald vermischten; auch wurde vieles in der neuen Umgebung und unter dem Eindruck der neuen Bilder anders weitererzählt.

1664 nahmen die Engländer das einzige nicht zu England gehörende Stück Land, nämlich die holländische Siedlung Neu-Amsterdam, kampflos in Besitz. Die englische Flagge wurde gehisst und die Stadt in New York umbenannt.

1776 gab es an der Küste des Atlantischen Ozeans auf einer Strecke von sechzehnhundert Kilometern zwischen Maine und Georgia 13 Kolonien, in denen unter der Flagge Englands etwa zwei Millionen Menschen lebten. Von Virginia und Plymouth hatten sich immer neue Niederlassungen nach Norden und nach Süden ausgebreitet.

Die Kolonien waren, je nach ihren Gründern, sehr verschieden. Pennsylvania war von William Penn als eine Provinz der Quäker proklamiert worden. Georgia war von einem Mann namens Oglethorpe als philanthropisches Experiment gegründet worden, um unverdient in Schuldhaft geratenen Engländern in der Neuen Welt die Chance zu geben, neu anzufangen. In Maryland hatte sich der katholische Adelige Lord Baltimore niedergelassen, ihm waren viele katholische Priester und Laien gefolgt.

Etwa um das Jahr 1750 kommt bei allen Gegensätzlichkeiten die Vorstellung unter den Kolonisten auf, dass sie Amerikaner seien und dass sie vom englischen Mutterland gewisse Vorstellungen trennten. Der Franzose Hector St. John de Crèvecœur, der damals zwanzig Jahre in New York gelebt hatte, umschreibt die Prinzipien dieses neuen Gefühls der Verbundenheit untereinander und der Verschiedenheit gegenüber England wie folgt:

»Wir besitzen keine Fürsten, für die wir uns placken, für die wir Not leiden und bluten. Hier sind die Menschen so frei, wie sie sein sollten. Was ist aber der Amerikaner, der neue Mensch? Er ist entweder ein Europäer oder der Nachfahr eines Europäers, daher rührt diese sonderbare Blutmischung, die man nirgends sonst finden wird: Ich könnte euch eine Familie zeigen, wo der Großvater ein Engländer war, der eine Holländerin zur Frau nahm, deren Sohn eine Französin heiratete und deren vier Söhne sich nun vier Frauen von verschiedener Nationalität genommen haben. Hier verschmelzen sich Individuen aller Nationen zu einer neuen Rasse, deren Anstrengungen und Nachkommen eines Tages große Veränderungen in der Welt hervorbringen werden. Der Amerikaner ist ein neuer Mensch, der gemäß neuen Prinzipien handelt; er muss also neue Ideen hegen und sich neue Meinungen bilden ...«

Was waren diese neuen Ideen? Zunächst einmal war man sich in allen Kolonien darüber einig, dass kein Mensch um seines Glaubens oder seiner Meinungen willen verfolgt werden dürfe. Auch Herkunft und Abstammung waren Privatsache, aus der niemand ein Vorrecht herleiten konnte, aus der aber auch niemand ein Nachteil erwachsen sollte. Damit waren zwei der wichtigsten demokratischen Grundrechte schon durch die natürliche Entwicklung im Bewusstsein aller Menschen verankert. Die frühe Gewöhnung an lokale Selbstverwaltung hatte durch Generationen ein demokratisches Bewusstsein entwickelt und einen Sinn für Unabhängigkeit und Selbstständigkeit bestärkt, der irgendwann einmal mit dem Mutterland in Konflikt geraten musste.

Dies vor allem auch deshalb, weil das Mutterland die Kolonien als Ausbeutungsobjekt betrachtete und weil die Amerikaner im englischen Parlament, das auch die Gesetze für die Kolonien machte, nicht vertreten waren. Die ersten Anzeichen für eine offene Auflehnung gegen England zeigten sich bei der Verfügung eines Stempelgesetzes, das alle Zeitungen, Flugschriften, Gewerbescheine, Handelsrechnungen und Aktenstücke mit einer Steuer, belegte. In verschiedenen Kolonien wurden die Steuermarken verbrannt und deren Verkäufer gezwungen, ihre Geschäfte aufzugeben. England musste das Stempelgesetz schließlich aufheben, erkannte aber sehr wohl, dass seine Autorität in den Kolonien damit beträchtlich ins Wanken geriet. Der Premierminister von England schlug deshalb vor, den Tee mit einer Nominalsteuer zu belegen, um das Prinzip des Besteuerungsrechts durch das Mutterland zu demonstrieren.

Am 6. Dezember 1773 warfen daraufhin als Indianer getarnte Patrioten die gesamte Ladung eines englischen Schiffes, das Teesäcke brachte, im Hafen von Boston über Bord. Im April 1775 kam es auf einer Gemeindewiese in Lexington im Staate Massachusetts zur ersten bewaffneten Auseinandersetzung. Amerikanische Minutemen, eine Gesellschaft von Kolonisten, die sich gelobt hatten, eine Minute nach Beginn der Revolution ins Feld zu ziehen, wurden von einem englischen Offizier aufgefordert, auseinanderzugehen. Sie bewachten eine Barrikade, und die englischen Liniensoldaten waren angerückt, um die Munitionsvorräte zu konfiszieren.

»Bleibt stehen, Leute! Schießt nicht, solange nicht auf euch geschossen wird! Aber wenn sie einen Krieg haben wollen, so soll er hier beginnen«, sagte der Anführer der Amerikaner. Dann gaben die Engländer die ersten Schüsse ab. Der Kampf um die Unabhängigkeit hatte begonnen. Er dauerte sieben Jahre. Nicht immer stand es günstig für die Amerikaner. Ihr Oberbefehlshaber George Washington wurde wie ein Fuchs durch das Gelände von New Jersey gejagt, er teilte mit seinen zerlumpten Soldaten den Frost und den Hunger – und er kapitulierte nie.

Im Juni 1776 stellte der Abgeordnete Henry Lee aus Virginia im Kontinental-Kongress, einer Art verfassunggebender Versammlung, den Antrag, »dass die vereinigten Kolonien von Rechts wegen freie unabhängige Staaten sein sollten«.Nach einer Debatte von einem Monat wurde der Antrag am 4. Juli 1776 angenommen und die Unabhängigkeitserklärung verkündet. Ihr Kernstück ist der zweite Paragraf, der die Grundsätze, das politische Glaubensbekenntnis, der neuen Nation enthält:

»Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: Dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass Leben, Freiheit und das Streben nach Glück dazugehören, dass zur Wahrung dieser Rechte Regierungen eingesetzt sind unter den Menschen, die ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten erhalten; dass wann immer eine Regierungsform diesen Zwecken abträglich ist, es das Recht des Volkes sein soll, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen, die die Regierten auf ebensolche Prinzipien gründen, und deren Macht dergestalt einzurichten, wie es ihnen am meisten Aussicht zu bieten scheint, ihnen ihr Glück und ihre Sicherheit zu schaffen.«

Mithilfe der französischen Flotte und französischer Waffen konnten die Kolonien den Krieg gegen England schließlich erfolgreich beenden. Am 19. Oktober 1781 ergab sich die letzte englische Armee in Yorktown in Virginia.

Nun gingen die Kolonisten daran, die Pfosten des Hauses der neuen Nation zu zimmern. Am 2 5. Mai 1787 trat in Philadelphia eine Versammlung von 55 Männern zusammen, um die Verfassung auszuarbeiten. Die Gegensätze waren groß. Die kleinen Staaten waren auf die großen Staaten eifersüchtig. Die Begüterten wollten ihren Besitz schützen. Die Armen wünschten billigen Kredit. Schließlich einigte man sich auf ein Regierungssystem, das auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruht: In den »zehn Zusätzen« zur ursprünglichen Verfassung wurden 1789 vom ersten amerikanischen Kongress die demokratischen Grundrechte im »Bill of Rights« zum Gesetz erhoben.

Der erste Präsident des jungen Staates wurde George Washington, ihm folgte John Adams. Stephen Vincent Benet charakterisiert ihn wie folgt: »Klein, anmaßend, kritisch, unabhängig, sarkastisch, ein Anwalt, der Sohn eines Farmers, der Urenkel eines arbeitslosen Zimmermanns, der aus England im Jahre 1636 emigriert war, äußerte John Adams überall offen seine Meinung. – Er war begabt, stachlig, bissig – und einer großen und selbstlosen Ergebenheit für sein Land fähig. Er, der Neuengländer, wirkte und kämpfte dafür, Washington, den Mann aus Virginia, zum Oberbefehlshaber der Armee zu machen, weil er glaubte, dass dies der beste Mann für dieses Amt sei. Dieser Mann von starren Grundsätzen stritt mit Thomas Jefferson aus Grundsatz, schrieb bittere und giftige Worte über Jefferson in sein Tagebuch – und versöhnte sich im Alter mit Grazie und Milde ... Dieser Anwalt, der nie ein Seemann war, schuf die amerikanische Flotte. Es fehlten ihm die leichten Talente, die einen Mann liebenswürdig machen. Aber er war einer der ersten politischen Denker Amerikas – und sein sarkastischer, kritischer, eigensinniger Geist lebt noch heute fort in New England.«

Auf John Adams folgte als dritter Präsident Thomas Jefferson, ein grauäugiger Mann mit rotem Haar, ein Schriftsteller, Philosoph und erfahrener Politiker, der Louisiana von Frankreich kaufte und so den USA den Besitz von New Orleans und die Herrschaft über das Flusssystem des Mississippi sicherte.

Aaron Burr, ein ehrgeiziger Politiker aus New York, war von Jefferson zu Beginn seiner zweiten Amtsperiode ausgeschaltet worden. Nach einem Streit mit' dem bekannten Politiker Alexander Hamilton forderte er diesen zum Duell und tötete ihn. Darauf tauchte er unter und versuchte eine Privatarmee mit der Absicht aufzustellen, im Süden der USA einen eigenen Staat zu gründen. Burrs Pläne wurden verraten und die Verschwörung noch rechtzeitig verhindert.

Die endgültige Festigung des jungen Staates erfolgte jedoch erst im zweiten Krieg gegen England, der 1812 wegen Handelsstreitigkeiten begann. In Wahrheit aber wollte diesen Kampf eine Gruppe von Bodenspekulanten, die beabsichtigte, Kanada zu annektieren.

Fast überall waren die Engländer siegreich. Sie nahmen schließlich sogar Washington ein und zündeten das Weiße Haus an. 1814 gelang es ihnen in einem Gefecht am Niagara, das für beide Seiten sehr verlustreich war, den Einmarsch der Amerikaner nach Kanada zu verhindern. Nur in der Schlacht von New Orleans schlug der erfahrene Indianerkämpfer Andrew Jackson eine starke englische Armee unter Edward Pakenham. Doch fand dieser Sieg schon nach Unterzeichnung des Friedensvertrages statt, der 1814 in Gent ausgehandelt worden war.

Dieser Krieg hatte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Nation unerhört gestärkt und den Amerikanern großes Selbstvertrauen gegeben. Auch wurden sie von nun an von den europäischen Großmächten als beachtenswerte Kraft angesehen. Während sich all diese Ereignisse mehr oder minder im schon erschlossenen Osten und Südosten der USA abspielten, wanderte die Grenze im Westen unaufhaltsam weiter vorwärts. Um 1800 floss der Siederstrom vor allem in die Täler von Ohio und Mississippi. Kentucky und Tennessee wurden besiedelt, und 1820 waren Indiana und Illinois im Nordwesten und Alabama und Mississippi im Südwesten schon als Staaten in die Union aufgenommen. Für die Besiedlung spielten natürlich die Zufahrtswege eine große Rolle. Zunächst ging der Verkehr in Flößen und Booten über den Ohio und seine Nebenflüsse, die durch ein Kanalnetz erweitert wurden. Später wurde die Cumberland Road, die 1811 begonnen wurde, zur Hauptverkehrsader in den Westen. Sie führte von Cumberland in Maryland über die Berge nach Zanesville und Columbus in Ohio und Terre Haute in Indiana und wurde bis nach Vandalia in Illinois verlängert. Ebenfalls 1811 baute Nicholas Roosevelt das erste Dampfboot, das nun zwischen Pittsburgh und New Orleans verkehrte und allmählich die Flach- und Kielboote vertrieb. Im Süden und Südwesten aber lockten die großen Weideflächen von Texas und New Mexiko.

Texas gehörte zur mexikanischen Republik, die nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes von Spanien entstanden war. 1821 gründete Stephen W. Austin die erste amerikanische Siedlung in Texas. Als der General Santa Ana in Mexiko eine despotische Militärdiktatur errichtete, rebellierten die amerikanischen Siedler und riefen den Freistaat Texas aus, der nach blutigen Kämpfen – unter anderem bei El Alamo, wo das Grenzeridol Colonel David Crockett fiel – sich schließlich auch behaupten konnte.

Mit der Aufnahme von Texas in die Union im Jahre 1844 endete der erste Abschnitt der amerikanischen Geschichte. Die nächsten hundert Jahre sollten nicht weniger stürmisch verlaufen wie die Zurückliegenden.

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450 S. 68 Illustrationen
ISBN:
9783862870868
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