Seewölfe - Piraten der Weltmeere 536

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 536
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Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-944-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

Odyssee der toten Seelen

Das Wrack ist uralt – und es birgt ein Geheimnis

„Inselspringen“, so nannten die Zwillinge Hasard und Philip den herrlich aufregenden Spaß, von einem Inselchen zum anderen zu segeln, um neugierig nachzusehen, was es dort gab.

Die kleine Jolle befand sich weit draußen auf See, im Bereich der mehr als hundert kleinen Inseln, Eilande und Atolle der Seychellen.

Überall leuchteten unter ihnen bunte Korallengärten in unvorstellbarer Pracht. Bunte Fische flitzten unter der Jolle hindurch, und einmal sahen sie eine riesige Muräne, die aus einer kleinen Grotte unwillig ihren monströs-häßlichen Schädel hervorreckte. Sie waren so eifrig bei der Sache, daß sie anfangs nicht bemerkten, wie die Jolle immer schneller wurde.

„Mann, haben wir ein Affentempo drauf!“ rief Hasard junior staunend. „Das kann doch nicht allein am Wind liegen!“

Es lag nicht am Wind, keinesfalls, denn der Wind wehte nur mäßig. Es lag daran, daß sie in einen Mahlstrom geraten waren, einen stark ziehenden Sog, der sie wie ein richtiger Trichter in sich aufnahm.

Weiter vorn waren gigantische Wirbel zu sehen, und inmitten dieser Wirbel hatte sich ein Höllenschlund aufgetan, der nur darauf wartete, das Boot zu sich herunterzuziehen …

Die Hauptpersonen des Romans:

Hasard junior – Mit seinem Zwillingsbruder Philip unternimmt er eine Erkundung der Inselwelt der Seychellen – ein „Inselspringen“, das allerdings mit Gefahren verbunden ist.

Old Donegal O’Flynn – Der „Admiral“ bricht für seine Enkel eine Lanze und steckt ihnen heimlich eine Buddel Rum zu.

Philip Hasard Killigrew – Der Vater muß vor der Abenteuerlust seiner Söhne kapitulieren, aber dann fangen die Sorgen erst richtig an.

Edwin Carberry – Der Profos ergreift zusammen mit Smoky die Flucht, als sie den „Knochenmann“ entdecken.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

An diesem Januartag des Jahres 1597 blickten die Männer von der „Santa Barbara“ auf ein einmalig paradiesisches Bild.

Die Seychellen lagen vor ihnen – Inseln des Friedens, palmenbewachsen, von Korallenriffen geschützt, eingebettet in samtblaues Wasser, über dem sich ein Himmel mit Schäfchenwolken wölbte.

Immer mehr Inseln tauchten auf. Da gab es große, fast unüberschaubare Inseln, aber da gab es auch winzige Eilande und Atolle, die wie schaumgekrönte Perlen aus dem Meer wuchsen.

Die Vegetation der Inselwelt war mehr als üppig. An den scheinbar unberührten und jungfräulichen Stränden wuchsen Palmen der Gruppe Borassae und Areceae. Einige Stellen waren dicht mit Kasuarinen bewachsen.

Aber es gab auch hügelige und bergige Granitinseln mit Steilküsten, die knapp neunhundert Yards über dem Meeresspiegel aufragten.

In den Korallengärten der Inseln tummelten sich riesige Seeschildkröten. Sie gaben sich so unbekümmert, als wüßten sie nichts von jenen Wesen, die ihnen nachstellten.

Auch die Seeschwalben störten sich nicht an dem weißgrauen Vogel, der mit geblähten Segeln über das Meer glitt. Anmutig und graziös ließen sie sich vom Wind tragen und hielten nach Beute Ausschau, die es hier im Überfluß gab.

Hasard sah gedankenvoll den weißen Feenseeschwalben nach, die paarweise durch die Luft flogen und nur wenige Flügelschläge brauchten, um noch höher zu steigen. Sie schienen zu schweben, als hätten sie kein Gewicht. Strahlend weiß schimmerten sie in der Sonne und glitten dann wieder zum Land zurück.

„Viel höher nordwärts werden wir nicht mehr segeln“, sagte er nach einer Weile, immer noch in Gedanken versunken. „Schließlich müssen wir auch mal an die Rückkehr denken, obwohl sich dieser Abstecher durchaus gelohnt hat.“

Sie hatten die Westküste von Madagaskar umsegelt, den Komoren einen Besuch abgestattet und befanden sich jetzt dicht unter dem Äquator.

„Viel zu weit nördlich schon“, murmelte Hasard, „aber die Neugier hat uns immer weitergetrieben.“

„Was sind schon ein paar Wochen Zeit“, meinte Ben, „an unserer Ladung kann nichts verderben, aber dafür haben wir eine Menge Neues gesehen und hinzugelernt. Immerhin haben wir auf den anderen Inseln jenen längst ausgestorben geglaubten Riesenvogel gefunden.“

„Ja, es war sehr interessant. Aber einmal ist Schluß damit.“

„Das heißt also, daß wir jetzt umkehren werden?“

„Ich weiß, daß alle es bedauern. Dazu ist diese Inselwelt einfach zu herrlich und paradiesisch. Ich denke, wir sehen uns einige dieser Inseln noch einmal genauer an, studieren die Fauna und Flora, versorgen uns mit dem, was die Inseln bieten, und gehen dann auf den alten Kurs zurück, der um Afrika herumführt.“

Er lehnte sich an die Schmuckbalustrade und sah einem Fregattvogel nach, der mit aufgeplusterter roter Brust dicht über dem Wasser flog und auf seine Lieblingsspeise, fliegende Fische, lauerte, die an einigen Stellen immer wieder aus dem Wasser schnellten. Als er sich endlich einen geschnappt hatte, flog er in einem eleganten Bogen zu der hohen Küste zurück, an die kraftvoll die Brandung donnerte.

Hasard suchte mit dem Spektiv die Strände ab. Nach einer Weile ließ er es wieder sinken.

„Keine Anzeichen, daß die Inseln bewohnt sind. Bei den anderen war das der Fall, aber hier scheint alles unberührt zu sein.“

Er dachte daran, wie sie erst vor kurzem auf den anderen Inseln zwanzig Malaien aus den Händen der Franzosen befreit hatten. Dort war es recht turbulent zugegangen. Hier dagegen schienen keine Eingeborenen zu leben, hier gab es nur Pflanzen und Tiere, die in stiller und einträchtiger Harmonie lebten.

Smoky sang laufend die Tiefe aus. Sobald sich die Farbe des Wassers voraus etwas veränderte, wurde er noch durch einen zusätzlichen Ruf aus dem Fockmars gewarnt, wo Luke Morgan stand und wachsam Ausschau hielt.

Zwei kleinere Inseln wurden gerundet. Auch sie waren unberührt, aber von Mangrovendickicht gesäumt. Zwischen ihren hohen Wurzeln bewegten sich kleine reiherähnliche Tiere, die emsig ihre Schnäbel ins Wasser hieben. Sie fischten nach Schalentieren.

Hasard ließ Kurs auf eine andere Insel nehmen, die größer war und höher aus dem Wasser ragte. Sie wies einige Hügel auf, die ebenfalls mit üppiger Vegetation ausgestattet waren. Dazwischen lag eine tiefdunkle Stelle. Den Erfahrungen nach konnte es da Trinkwasser geben.

Noch waren sie zwar gut eingedeckt, aber in diesen südlichen Breiten verdarb das Wasser bei der schwülwarmen Luft rapide, und dann bildeten sich ebenso schnell grünliche Algen. Daher war es besser, das Trinkwasser vor der Weiterreise noch einmal zu wechseln.

Daß sie bald wieder umkehren würden, sprach sich mittlerweile schon unter den Arwenacks herum. Hatten sie erst einmal die Südspitze von Afrika gerundet, begann der lange und eintönige Törn über den Atlantik. Dort aber waren die Inseln nicht halb so interessant wie hier, und diese Tatsache löste lebhaftes Bedauern aus.

„Dafür werden wir aber in der Karibik wieder entschädigt“, sagte der Decksälteste Smoky. „Da haben wir alles ungefähr wieder wie hier, außerdem sind wir dann im Stützpunkt, wo es ganz sicher eine Menge Neuigkeiten geben wird.“

Old O’Flynn, der neben Smoky mit ein paar anderen am Steuerbordschanzkleid der Kuhl stand, löste seinen Blick vom Land und drehte sich langsam um.

„Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, murmelte er dumpf und rieb seine Finger gegeneinander. „Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, als würden wir die Karibik noch lange nicht erreichen. Ich kann das nicht erklären. Es ist mehr so eine Ahnung, versteht ihr?“

Sie alle verstanden Old O’Flynns „Ahnungen“, denn die hatten es oftmals in sich und boten Anlaß zu endlosen Diskussionen, bei denen gewöhnlich nicht viel herauskam.

„Aber wir gehen auf Gegenkurs, wenn wir die Inseln ein bißchen durchforscht haben“, wandte Smoky ein.

„Schon, schon. Aber auf diesen Gegenkursen liegt meist der Hund begraben. Ich kann mich auch täuschen. Warten wir’s ab.“

Damit war für Old Donegal das Thema vorläufig erledigt. Er wolle sich nicht festlegen, meinte er, das sei alles so ungewiß.

Edwin Carberry wollte den Alten erst ein bißchen auf den Arm nehmen, doch dann würde der granitharte alte Bursche sich nur wieder unnötig aufregen, und das brachte nichts ein. So warf er ihm nur einen langen und nachdenklichen Blick zu. Dann drehte er sich wieder um. Er musterte die Insel, auf die sie zusegelten. Sie war in ihrer Unberührtheit von einmaliger Schönheit. Auch er sah den Feenseeschwalben, den Kormoranen und anderen Vögeln nach, die ruhig ihre Kreise zogen. Sehr sorgfältig musterte der Profos das alles.

 

Er war in den Anblick so vertieft, daß er ein bißchen zusammenfuhr, als ihn eine Hand berührte und eine Stimme fragte: „Was suchst du denn so emsig, Ed?“

Es war der Kutscher. Hager, tiefbraun von der Sonne verbrannt, stand er grinsend neben ihm. Offenbar hatte er heute ganz besonders gute Laune.

„Ich suche gar nichts“, sagte der Profos. „Überhaupt nichts.“

„Aber etwas scheinst du doch zu suchen, sonst würdest du nicht so eifrig Ausschau halten.“

„Na gut, dann suche ich eben etwas“, brummte der Profos, „wenn du es schon so genau wissen willst.“

„Und was ist das?“ Der Kutscher war etwas neugierig, doch mit der Antwort hatte er nicht gerechnet.

„Ich suche Affenärsche, die auf Bäumen wachsen.“

„Deine Antworten auf höfliche Fragen sind ja immer von besonderem Liebreiz“, sagte der Kutscher. „Eigentlich hätte ich nichts anderes erwarten dürfen.“ Er stemmte die Arme in die Hüften und schüttelte den Kopf. „Aber bitte, ich will dir dabei keinesfalls im Wege stehen, um deinen botanischen Entdeckergeist zu bremsen. Such nur weiter“, setzte er etwas höhnischer hinzu. „Wer suchet, der findet.“

Dem Profos entging, daß der Kutscher bei den Worten ein eigentümliches Lächeln auf den Lippen hatte.

„Klar, so steht’s auch geschrieben“, brummte Carberry.

Die „Santa Barbara“ lief weiter auf die Insel zu, um einen günstigen Ankergrund zu finden. Nachdem eine Barriere aus Korallen passiert war, wurde das Wasser so klar, daß sie bis auf den Grund sehen konnten. Von unten leuchtete weißer Sand herauf. Die Entfernung zum breiten Strand betrug bestenfalls noch drei Kabellängen.

Kurze Zeit später schwoite die Galeone an langer Ankertrosse, die von einer neugierigen Schildkröte intensiv in Augenschein genommen wurde. Sie schwamm ständig drumherum und glotzte die Trosse an.

„Hier werden wir zwei oder drei Tage bleiben“, sagte der Seewolf. „Wir sehen uns alles an und decken uns mit dem ein, was die Insel hergibt. Das scheint mir schon auf den ersten Blick eine ganze Menge zu sein.“

„In der Tat, eine üppige und phantastische Vegetation“, sagte Don Juan, „und alles von so unglaublicher Friedfertigkeit. Vielleicht war das früher einmal der Garten Eden.“

„Sieht fast so aus. Nun, dann fiert mal die Boote ab, damit wir uns die Insel näher ansehen können.“

„Wer darf denn alles an Land?“ erkundigte sich Batuti mit einem freundlichen Grinsen.

„Jeder, der Lust hat. Es genügt völlig, wenn zwei Ankerwachen an Bord bleiben. Wir haben einen unbegrenzten Blick über das Meer, und Einwohner scheint es hier nicht zu geben.“

Hasard und Philip junior standen erwartungsvoll daneben. Sie waren schon seit jeher von Expeditionen und Spähunternehmungen fasziniert und begeistert, wenn es darum ging, Neuland zu entdecken. Natürlich durften sie auch mit. Hasard bat sich lediglich aus, die Wolfshündin diesmal an Bord zu lassen, damit sie die Idylle und Ruhe dieser Insel nicht störe. Sie sollte zusätzlich die beiden Bordwachen verstärken. Später sollte sie dann auch mal an Land herumschnüffeln.

Gegen Nachmittag brach der erste Trupp auf.

2.

Der Marsch über die Insel ähnelte einem Spaziergang durch ein Märchenparadies. Es gab immer wieder Neuigkeiten zu entdecken.

Sie gingen durch eine Ansammlung von Kokoswäldern, in denen es lieblich duftete. Über der ganzen Insel lag der Geruch nach Vanille und anderen Gewürzen, eine Mischung, die sich nicht definieren ließ.

Ein drosselähnlicher Vogel mit wohlklingendem Gesang begleitete sie fast den ganzen Weg. Später verschwand er in einer Kokospalme, wo er sein Nest hatte. Von oben ertönte Gezwitscher herab.

Auf der Insel wuchsen eine Menge Früchte und Beeren. Manche waren allerdings unbekannt, so daß der Kutscher vor ihrem Verzehr warnte.

Sie fanden eine Quelle mit klarem sprudelndem Wasser. Das war ein willkommener Anlaß zur ersten Rast.

Später, in südlicher Richtung, stießen sie auf dichte Mangrovenwälder. Ganze Kolonien von weißlichen Tölpeln hockten regungslos auf den Zweigen. Die grauen Schnäbel hatten sie weit vorgereckt und starrten die Arwenacks aus ihren dunklen Augen vertrauensvoll und neugierig an, als würde ihnen niemand etwas zuleide tun. Sie sahen etwas dümmlich aus, was ihnen auch ihren Namen eingetragen hatte. Vielleicht aber zogen sie auch nur so dümmliche Gesichter, weil die Fregattvögel ihnen ständig die Fische abjagten.

Der Kutscher blieb dicht vor den Vögeln stehen, die sich so gut wie gar nicht rührten. Nur ihre Augen waren in Bewegung. Dann deutete er auf die Fregattvögel, die ebenfalls auf den Ästen der Mangroven dicht beieinanderhockten.

„Das nennt man Friedfertigkeit. Sie hocken in aller Eintracht nebeneinander, und doch gibt es jeden Tag Streit zwischen ihnen. Die Fregattvögel jagen den Tölpeln die Fische ab, es gibt ein bißchen Ärger, und danach sitzt man wieder friedlich zusammen.“

„Wie bei uns“, sagte Carberry anzüglich. „Da streiten wir uns, und später sitzen wir auch einträchtig beieinander. Jetzt wirft sich nur die Frage auf, wer sich für den Fregattvogel und wer für den Tölpel hält. Was meinst du, Kutscherlein?“

Der Kutscher hob indigniert die linke Augenbraue.

„Du gestattest sicherlich, daß ich aus Gründen der Höflichkeit auf eine Beantwortung dieser Frage vorerst verzichte.“

„Gestattet“, erlaubte der Profos großzügig. „Du würdest wohl auch nicht wagen, mich als – als – na, eben diesen letztgenannten Vogel zu bezeichnen. Die Umstände könnten es sonst erfordern, daß ich dir ein paar Zähne abjage.“

„Ich zähle dich eher zu den Sulidae, eine Familie gänsegroßer, starkschnäbeliger Ruderfüßer.“

„Dachte ich mir“, sagte Carberry zufrieden. „Diese Sulimans sehen mir schon wesentlich ähnlicher.“

„So ist es“, sagte der Kutscher würdevoll, wobei er schamhaft verschwieg, daß er statt Tölpel nur den lateinischen Namen genannt hatte.

Als sie das Mangrovenwäldchen passiert hatten, tauchten wieder Kokospalmen auf. Diesmal traf den Profos allerdings fast der Schlag.

Er blieb stehen, sperrte den Mund auf und stierte aus hervorquellenden Augen zu den Palmen hinüber.

„Das gibt’s nicht“, sagte er ächzend.

Der Kutscher grinste bis zu den Ohren. Auch die anderen begannen immer stärker zu grinsen, als sie die Palmen sahen.

„Doch, das gibt’s“, sagte der Kutscher ruhig. „Du hast doch Affenärsche gesucht, die auf Bäumen wachsen. Wer suchet, der findet.“

„Affenärsche, die auf Bäumen wachsen“, wiederholte Carberry tonlos und stierte immer noch auf die seltsamen Kokosnüsse, von einer Sorte, die er noch nie gesehen hatte.

Es war die Seekokospalme, an der die monströse Seychellen-Nuß hing. Sie ähnelte tatsächlich in verblüffender Weise einem riesigen Hinterteil, denn jeweils zwei Nüsse schienen zusammengewachsen zu sein.

An fast allen Seekokospalmen hingen diese Nüsse. Sie waren so schwer, daß sie fast einen halben Zentner wögen.

Angesichts dieses „Naturereignisses“ brandete lautes Gelächter auf. Jetzt hatte der Profos das, was er angeblich suchte, und was von ihm nur als schlechter Witz aufzufassen war. Affenärsche auf Bäumen!

„Das gibt’s doch gar nicht“, wiederholte er fassungslos.

Die anderen, die seinen Spruch an Bord ebenfalls gehört hatten, begannen jetzt noch lauter zu lachen. Durch das homerisch brüllende Gelächter aufgescheucht, hoben ein paar Fregattvögel ab und strichen zum Wasser hin. Ein paar verstörte Tölpel folgten. Sie kapierten offenbar nicht, was diesen Gelächtersturm auslöste.

„Wenn dir davon eine auf den Schädel fällt“, sagte der Kutscher voller Genugtuung, „dann hast du dein letztes Halleluja gepfiffen. Das Gewicht allein sorgt für wohltuende Dunkelheit.“

„Glaube ich“, sagte Carberry, der es immer noch nicht fassen konnte.

Er, Smoky, Batuti, Hasard und ein paar andere traten näher an die riesige Palme heran, die eine Höhe von annähernd zwanzig Yards hatte. Vier dieser Riesennüsse hingen noch da oben. Eine andere hatte sich gelöst und lag am Boden. Der Blick, mit dem der Profos sie anstierte, war fast ehrfürchtig zu nennen.

Der Kutscher schlug ihm grinsend auf die Schulter.

„Gestern hast du an Bord noch laut über deine Kräfte rumgetönt“, sagte er ironisch. „Du gebrauchtest ein paar Worte, die ich hier nicht unbedingt wiederholen möchte.“

„Tu’s ruhig“, brummte Carberry. „Es ging um Kokosnüsse, die selbst von den stärksten Kerlen nicht mit den Händen geknackt werden könnten. Und ich sagte, daß ich so lausige Kokosnüsse mit den Arschbacken knacken würde …“

„So, sagtest du.“ Der Kutscher hüstelte. „Nun, dann versuche es doch mit dieser Nuß einmal.“

Aber der freundlichen Bitte konnte Carberry nicht entsprechen, und so kratzte er sich etwas verlegen das stoppelige Kinn, während er weiterhin die herabgefallene Riesennuß anstarrte.

Schließlich rang er sich mühsam zu den Worten durch: „Was sind denn das für Dinger? Habe ich noch nie gesehen.“

„Kein Wunder, es gibt sie auch nur hier. Es ist die Seekokospalme, an der diese Nüsse wachsen. Manchmal wurde sie allerdings auch an der Küste von Indien oder Ceylon gefunden, aber sie wuchs dort nicht. Sie wurde einfach nur an Land geschwemmt.“

„Soso“, sagte Carberry lahm.

„Man glaubte“, fuhr der Kutscher dozierend fort, „daß diese gewaltigen Nüsse auf einem Baum tief unten im Meer wachsen würden.“

„Gibt es nicht“, behauptete Carberry spontan. „Auf dem Meeresgrund wachsen keine Bäume.“

„Natürlich nicht“, sagte der Kutscher. „Auf dem Mond werden schließlich auch keine Rübenschweine gezüchtet. Es ist nur eine Sage.“

„Aber wenn …“

„Schluß jetzt, Mister Carberry!“ fuhr der Seewolf dazwischen. „Ich möchte mir die Ausführungen des Kutschers gern anhören, ohne daß du ihn ständig unterbrichst. Ist das klar?“

„Aye, aye, Sir“, murmelte der Profos kleinlaut.

„Also, der Sage nach wachsen sie im Meer“, erzählte der Kutscher weiter. „Die Nüsse konnten angeblich gegen die Meeresströmung schwimmen, und wenn sie an einer Küste angeschwemmt wurden, dann wanderten sie selbst den Strand hinauf. Ihrem weißlichen Fleisch schrieb man magische Kräfte zu, die jedem Gift in Speise und Trank entgegenwirkten. Sie sollten auch Lähmungen heilen oder Gallensteine verschwinden lassen. Außerdem“, der Kutscher grinste etwas, „nahm man an, ihr Fleisch würde die Manneskraft steigern. Diese Nuß nennt man auch noch Salomons Wundernuß. Das ist so ziemlich alles, was ich darüber weiß.“

„Eine erstaunliche Menge“, gab Hasard zu. „Woher hast du dieses Wissen?“

„Doc Freemont in England hatte darüber Literatur, und weil mich das von jeher fasziniert hatte, habe ich immer ein bißchen die Nase in seine Bücher gesteckt. Es war übrigens der Graf von Vidigueira, Vasco da Gama, der die Gruppe der Amiranten schon vor fast hundert Jahren besucht hat.“

„Wirklich erstaunlich“, murmelte Hasard beeindruckt. „Vasco da Gama war das, der Mann der den Seeweg nach Indien entdeckt hat.“

„So stand es in jener Chronik, Sir.“

„Die Nüsse sind eßbar?“ erkundigte sich Hasard.

„Ja, und sie geben außerdem eine Menge her.“

„Willst du nicht eine mitnehmen, Mac?“ fragte der Profos anzüglich Mac Pellew, der mit sorgenvoll-betrübten Blicken den Ausführungen des Kutschers lauschte.

Mac drehte sich zu Carberry um. „Zu was denn?“

„Na, du hast doch gehört, was der Kutscher sagte. Die Nüsse sollen die Manneskraft steigern. Früher, bei deiner Svanhild, haben dir geräucherte Heringe geholfen, aber hier gibt’s keine. Wenn du dir so ’ne Nuß um den Hals hängst, hast du jahrelang was davon und brauchst nicht immer mit Räucherheringen in den Taschen herumzulaufen.“

„Ich bin nie mit Räucherheringen in der Tasche rumgelaufen“, empörte sich Mac. „Außerdem habe ich so was nicht nötig. Häng du dir doch so eine Nuß um den Hals.“

„Hab’ ich erst recht nicht nötig.“

Der Profos klopfte dem griesgrämigen Mac auf die Schulter, grinste ihn an und folgte dann wieder den anderen.

„Auf dem Rückweg nehmen wir ein paar der Nüsse mit“, sagte der Kutscher. „Von einer Nuß allein wird eine ganze Mannschaft satt. Außerdem lassen sich aus ihrem Fruchtfleisch ganz sicher noch andere schmackhafte Gerichte zubereiten.“

 

Bis zum späten Nachmittag hatten sie eine Menge Neuigkeiten entdeckt. Hasard beschloß, umzukehren. Die Insel war groß, und sie konnten sich morgen ebenfalls in aller Ruhe umsehen.

Auf dem Rückweg wurden vier der Riesennüsse mitgenommen. Sie ließen sich wegen ihrer Unförmigkeit und Größe nur schlecht tragen. Carberry sah aus, als hinge ihm eine riesige Trommel vor dem Bauch. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen dicht an dicht.

„Wenigstens gibt es hier keine Affen“, stöhnte er. „Stellt euch nur vor, die hocken auf den Palmen und bewerfen uns mit diesen Dingern.“

„Das müßten dann aber sehr große Affen sein“, meinte Batuti grinsend.

„Große Affen gibt’s jede Menge“, tönte der Kutscher.

Der Profos warf ihm einen schrägen Blick zu, als fühle er sich wieder mal angesprochen, aber er sagte nichts.

Als sie an Bord waren, gingen der Kutscher und Mac sogleich daran, eine der Riesennüsse auseinanderzunehmen und zuzubereiten. Schon mit dieser einen Nuß hatten sie eine Menge Arbeit.

Inzwischen schlichen die Zwillinge, Hasard und Philip, ziemlich auffällig um ihren Vater herum. Hin und wieder tuschelten sie leise miteinander und grinsten dann, bis es dem Seewolf auffiel.

„Ist was?“ forschte Vater Hasard. Er musterte seine beiden Söhne, die ihn erwartungsvoll angrinsten. Wahre Kraftpakete sind das, dachte er. Die Kerle hatten ganz beträchtliche Muskeln entwickelt, breite Schultern, schmale Hüften. Alle beide waren sonnenverbrannt.

Nachdenklich blickte er auf die Haifischsymbole. Jung Hasard hatte das Hai-Symbol auf der rechten Schulter eintätowiert, Jung-Philip auf der linken. Nur durch diese Symbole hatte er seine Söhne damals unterscheiden und identifizieren können. Heute konnte er sie auch so unterscheiden, obwohl sie sich wie ein Ei dem anderen ähnelten. Sie hatten die gleichen schwarzen Haare und die eisblauen Augen wie er.

Jung Hasard war etwas cleverer als Philip, und so ergriff auch er gleich das Wort, noch bevor Philip etwas sagen konnte.

„Wir haben eine Bitte an dich, Sir.“

„Ich höre.“

„Phil und ich haben uns ein Spielchen ausgeheckt, und zwar nennen wir das Inselspringen.“

„Und was bedeutet das genau?“

„Von einer Insel zur anderen segeln, sie ein bißchen ausforschen, dann weiter ab zur nächsten und so fort.“

„Das tun wir im Prinzip schon seit Jahren“, sagte Hasard lächelnd. „So ganz neu ist das nicht gerade.“

„Für uns schon, Dad, Sir. Wir haben nämlich vor, das allein zu tun, ohne jede Begleitung. Hier gibt es doch jede Menge Inseln, außerdem bleiben wir ja noch ein oder zwei Tage hier.“

„So, das habt ihr also vor.“

„Natürlich nur mit deiner Erlaubnis, Sir.“

„Und weshalb ohne Begleitung?“

„Weil wir nicht unbedingt immer einen Aufpasser brauchen. Wir sind so gut wie erwachsen und haben ein Recht darauf, auch mal selbständig etwas zu unternehmen.“

Hasard kniff die Augen zusammen. Die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt.

„Sieh an, die Gentlemen sind also erwachsen und glauben, daß sie ein Recht haben, selbständig zu handeln. Interessant.“

„Pflichten haben wir jedenfalls – und somit auch Rechte. Eins ist so gut wie das andere. Vor den Pflichten drücken wir uns ja auch nicht.“

Jung Hasard sah seinem Vater etwas trotzig in die Augen und hielt auch dem etwas kühler gewordenen Blick stand.

„Ihr stellt also eine Forderung?“

„Eine Bitte, Sir, aber eine nachdrückliche, von der wir nicht erwarten, daß sie abgelehnt wird.“

Der Seewolf holte tief Luft.

„Jung-Rebellentum, was?“

„Bist du im Grunde genommen nicht auch ein Rebell, Dad, Sir?“ fragte Jung Hasard herausfordernd. „Sind wir im Prinzip doch alle.“

Vater Hasard blieb erst einmal die Spucke weg. Er blickte Philip an, dann Hasard, der jetzt ebenfalls die Augen etwas zusammenkniff und schmale Lippen kriegte.

„Und wenn ich ablehne?“

„Das bleibt dir überlassen“, erwiderte das Söhnchen kühl. „Aber dann reagiere ich mich in der nächsten Kneipe ab und fang ’ne mordsmäßige Schlägerei an.“

„Und ich“, tönte Philip unverfroren, „zieh mir in der nächsten Kneipe ein paar liederliche Frauenzimmer an Land und bringe sie mit an Bord. Das Recht nehme ich mir einfach. Alt genug sind wir schließlich dazu. Außerdem werden wir uns kräftig besaufen.“

„O Gott“, sagte Vater Hasard kopfschüttelnd. „Ihr wollt es wohl auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wie?“

„Eines Tages“, sagte Jung Hasard diabolisch grinsend, „passiert das ganz zwangsläufig. Das ist das Gesetz der Natur. Dann messen sich die jungen Wölfe mit dem …“

„Sag nicht alten Wolf!“ fauchte Vater Hasard.

„… Leitwolf“, vollendete der Junior trocken. „Man kann auch Rudelführer sagen.“

Hasard holte zum zweiten Male tief Luft. Die zarten Knäblein haben heute nicht gerade ihren sanften Tag, dachte er. Man konnte auch sagen, daß sie ausgesprochen pampig waren.

„Ich lehne ab“, sagte er frostig.

„Begründung?“ fragte Jung Hasard ebenso frostig wie knapp.

„Verdammt noch mal, brauche ich vielleicht eine Begründung?“

„Natürlich, Sir, denn mit einer einfachen Ablehnung gebe ich mich nicht zufrieden. Das hört sich so diktatorisch an. Uns hältst du Predigten über Freiheit und Rechte, Pflichten und was weiß ich noch alles, aber hier sprichst du ein absolutes Nein, und damit sind wir ohne Begründung nicht einverstanden.“

In ihrem Eifer hatten sie gar nicht gemerkt, daß es auf der „Santa Barbara“ mittlerweile verdächtig ruhig geworden war.

Aus dem Kombüsenschott glotzten Mac und der Kutscher gleichzeitig hervor. Auf der Kuhl standen einige und grinsten bis zu den Ohren, und auf den Stufen der Niedergänge hockten etliche Arwenacks, die ebenfalls am Grienen waren.

„Nun laß die Kerle doch mal segeln“, mischte sich Old O’Flynn ein. „Schließlich sind sie keine Säuglinge mehr, die in ihren Windeln Rückenschwimmen veranstalten.“

„Halt du dich da raus, Mister O’Flynn!“ schnappte Hasard aufgebracht. „Du hast mir gerade noch gefehlt.“

„Klar, ich bin das Salz in der Suppe“, erwiderte Old O’Flynn ungerührt. „Immerhin sind das meine Enkelkinder, und da habe ich auch ein Wörtchen mitzureden. Und ich poche auf mein Recht, darauf kannst du dich verlassen.“

„Das Machtwort spreche ich, und nicht du!“

Old O’Flynn wurde gallig. Er sah jetzt wie ein bösartiger runzeliger Gnom aus, und er hob auch sofort die Stimme.

„Meine Enkelchen sind bei mir auf der ‚Empress‘ gefahren, und sie haben sich bestens bewährt!“ schrie er. „Das wird wohl niemand bestreiten können. Und daß sie dem Teufel zwei Ohren und den Schwanz absegeln und ihm bei einer Halse auch noch die Hörner stutzen, ist eine Tatsache. Und jetzt will ich, verdammt noch mal, wissen, warum sie nicht allein segeln dürfen.“

Hasard stand kurz vor einer Explosion. Zorn stieg in ihm auf, und dann wurde er unsicher, zum ersten Male seit langer, langer Zeit. Heute hatte sich offenbar alles gegen ihn verschworen.

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