Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 453»

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Impressum

© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-861-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

Sturm über Panama

Es regnete Feuer vom Himmel – und die Seewölfe nutzten die Gunst der Stunde

Der Zweimaster, den Arne von Manteuffel in Panama für Dan O’Flynn und seine fünf Männer vom Hafenkommandanten gekauft hatte, war ein tüchtiges und schnelles Schiffchen. Das zeigte sich, als sie auf ihrer Rückfahrt zu den Galápagos-Inseln wiederum diesen verdammten Dschunken begegneten, von denen sie restlos bedient waren. Gegen fünf Kampfdschunken hatte ein kleiner Zweimaster, besetzt mit fünf Mann, nichts zu vermelden. Aber sie konnten mit dem schnellen Schiffchen ausreißen – und das taten sie. Die Zopfmänner hatten offenbar nichts Besseres zu tun, als hinter dem Zweimaster herzusegeln. Die magerste Beute schien ihnen recht zu sein. Daß Dan O’Flynn den Kurs eines spanischen Geleitzuges kreuzte, war nicht vorauszusehen gewesen …

Die Hauptpersonen des Romans:

Mac Pellew – schneidet den Mannen Bärte und Haare und erlebt ein Wunder.

Edwin Carberry – der Profos hat es wieder mit Maultieren zu tun.

Philip Hasard Killigrew – hat diese Maultiere zusammen mit Dan O’Flynn besorgt – ohne Bezahlung.

Don Bonello – der Bürgermeister von Panama redet zwar von Pflichterfüllung, hat aber anderes im Sinn.

Li-Loyang – der chinesische Oberschnapphahn verläßt sich ganz auf seinen Sterndeuter und Berater Ni Kua.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

10. März 1595 – Seegebiet vor dem Golf von Panama.

Die verwunschenen Inseln – der Galápagos-Archipel – waren längst achteraus an der Kimm verschwunden.

Der Zweimaster lief auf Nordostkurs gute Fahrt, und der Wind wehte pendelnd aus Süden bis Südwesten, während die See langgezogen dünte.

Ferris Tucker und Edwin Carberry blickten sinnend achteraus, wo an der Kimm eine winzige Rauchfahne zu sehen war. Sie ähnelte mehr einem dunklen Nebel, der senkrecht in die Höhe strebte.

Dieser dunkle winzige Hauch war der Überrest einer spanischen Galeone, die von chinesischen Piraten geentert worden war. Allerdings hatten die Zopfmänner nicht mehr viel Freude an ihrer zerschossenen und entmasteten Beute gehabt, denn sie befanden sich auf einer schwimmenden Toteninsel und waren zum Sterben verurteilt.

Mit einem letzten Trick hatten sie versucht, die Arwenacks und Le Vengeurs zu überrumpeln. Daß dieser Trick völlig mißlungen war, hatten sie Hasards tiefem Mißtrauen zu verdanken.

Jetzt war die Galeone ausgebrannt und versunken. Die Piraten hatten ihr letztes Grab in der Weite des Pazifiks gefunden.

„Hoffentlich waren das die letzten Rübenlümmel, mit denen wir zu tun hatten“, sagte der Profos. „In letzter Zeit haben uns diese Kerle ganz schön zugesetzt.“

„Scheint wohl der Fall zu sein“, sagte Ferris, während er mit der Hand über seine roten Haare strich. „Aber man kann nie wissen. Offenbar ist da eine ganze Armada unterwegs gewesen, um die Städte und Dörfer der Neuen Welt zu plündern.“

Der augenblicklich herrschende Südwind verwehte die Rauchwolke unmerklich, bis nur noch ein feiner Strich an der Kimm stand. Etwas später war auch der verschwunden, und die See lag wieder ruhig da.

Sie waren weit und breit allein.

Carberry ging nach achtern, während Ferris auf dem Vordeck blieb, um dort etwas auszubessern.

Auf dem Achterdeck des schnellen Zweimasters standen Dan O’Flynn, Ben Brighton, Hasard und Jean Ribault.

Er hat sich verändert, dachte der Profos, womit er den Seewolf meinte. Seit Arauas Tod war er härter geworden, mißtrauischer vor allem – wie ein alter Wolf. Seine Stichwunde unter dem Herzen war inzwischen verheilt, aber eine neue Narbe war hinzugekommen. Man sah sie rötlich mit einem dunklen Rand deutlich auf der linken Wange. Sein Schläfenhaar war silbergrau geworden und hob sich scharf von dem schwarzen Kopfhaar ab. Das ließ ihn etwas älter erscheinen, aber auch erfahrener und interessanter.

Die Frauen würden sich um ihn reißen, dachte der Profos. Allerdings war der Seewolf auch etwas schweigsamer geworden als sonst. Hin und wieder waren seine Kommentare bissig oder scharf.

Auf dem Gang nach achtern kontrollierte Carberry gleichzeitig das Schiff, das ihnen Arne von Manteuffel über den Hafenkommandanten Don Alfonso de Roja besorgt hatte.

Es war alles in Ordnung, bis auf ein paar Bagatellen, denen Ferris Tucker zu Leibe gerückt war. Und sauber war das Schiffchen auch, das einstmals Kurierdienste für die Spanier versehen hatte.

Dan O’Flynn berichtete gerade Einzelheiten über das schwere Gefecht der chinesischen Piraten gegen den spanischen Geleitzug. Flüchtig hatte er Hasard die Geschichte schon erzählt. Jetzt folgten die Details.

„Es steht also fest“, sagte Hasard, „daß es bei dem Gefecht einigen spanischen Galeonen gelungen ist, nach Norden durchzubrechen, und zwar mit Ziel Panama.“

„Ja, das habe ich deutlich beobachten können“, sagte Dan. „Es herrschte zwar ein unglaubliches Gewühl, doch ein paar Galeonen entkamen den Zopfmännern.“

„Für die Dons mag das ja gut sein, für uns jedoch nicht.“

„Wir haben von den Galeonen nichts zu befürchten“, wandte Ben Brighton ein.

„Von den Galeonen nicht“, sagte Hasard zustimmend. „Aber da ist noch etwas anderes. Diese Schiffe, die dem Gemetzel entgangen sind, laufen Panama an und alarmieren dort die Behörden. Ich stelle mir vor, daß man von dort aus Schiffe in Marsch setzen wird, die den Auftrag haben, das Gefechtsfeld nach möglichen Überlebenden abzusuchen. Überlebende kann es auf Beibooten, Flößen, Grätings oder Wrackteilen geben. Man wird aber auch gleichzeitig nachsehen, ob diese Piratendschunken abgezogen sind oder möglicherweise weitere Untaten planen. Vielleicht nimmt man an, daß sie Panama selbst oder andere Küstenorte überfallen.“

„Das stimmt, Sir“, sagte Dan. „Die Dons, die dem Gemetzel entgangen sind und Panama erreicht haben, wissen ja nicht, daß mittlerweile alle fünf Dschunken auf Tiefe gegangen sind.“

„Ja, und weder die Dons noch wir wissen, ob nicht noch mehr dieser Kampfdschunken den Pazifik überquert haben, besetzt mit ganzen Horden chinesischer Piraten, die die Küsten der Neuen Welt überfallen. So, wie du es mir erzählt hast, Dan, konntet ihr fünf Dschunken entwischen. Mit drei Dschunken waren wir konfrontiert worden. Das sind insgesamt acht Schiffe mit Zopfmännern. Aber es ist völlig ungewiß, ob es bei diesen acht Dschunken geblieben ist oder ob noch mehr in diesem Seegebiet aufkreuzen. Wir müssen also höllisch aufpassen, gegenüber den Dons und gegenüber den chinesischen Piraten.“

„Was schlägst du vor, Sir?“ fragte Ben.

„Verschärften Ausguck, das vor allem ist wichtig.“

„Wir haben doppelten Ausguck.“

„Zu wenig“, sagte Hasard. „Es werden ab sofort vier Mann Ausguck gehen.“

Auf dem Zweimaster gab es keine Marse, weil das Lateinerrigg an Pfahlmasten gefahren wurde. Aber zu den Toppen führten Wanten hoch, und so konnte von dort aus Ausguck gegangen werden.

Zur Zeit hingen Batuti und Stenmark in den Wanten. Beide hatten Spektive dabei und suchten die See ab.

„Wir teilen die See in vier Sektoren ein“, sagte Hasard. „Einmal Steuerbord voraus bis Steuerbord querab, dann Steuerbord querab bis Steuerbord achteraus. Für die beiden Sektoren sind jeweils zwei Mann vorgesehen. Zwei weitere übernehmen die Sektoren Backbord achteraus bis Backbord querab und Backbord querab bis Backbord voraus. So kann sich jeder auf einen Sektor von acht Strich konzentrieren, und wir haben die gesamte Kimm unter Kontrolle. Wie viele Spektive haben wir insgesamt an Bord?“

„Sechs Kieker, Sir.“

„Gut, dann erhält jeder Ausguck einen Kieker. Die beiden restlichen verbleiben dem Achterdeck.“

Dan O’Flynn war mit Koppeln beschäftigt, einer nautischen Tätigkeit, die er fast im Schlaf beherrschte. Von Smoky ließ er ständig die Geschwindigkeit des Zweimasters loggen, um einwandfreie Berechnungen zu erhalten und jederzeit den Standort des Schiffes bestimmen zu können.

Ben Brighton teilte unterdessen die Männer für den Ausguck ein. Es war damit zu rechnen, daß die Spanier in diesem Seegebiet auftauchten – oder die Zopfmänner. Beiden wollten sie nach Möglichkeit aus dem Weg gehen und jeden Kontakt vermeiden.

So erhielt jeder der Ausgucks seinen acht Strich umfassenden Sektor, auf den er sich voll und ganz konzentrieren konnte. Damit war das Seegebiet „rundum gesichert“.

An diesem Tag und auch am nächsten blieb die See ringsum leer. Nur einmal glaubte Sam Roskill, Mastspitzen gesehen zu haben, doch das erwies sich als falscher Alarm.

Das normale Bordleben ging weiter. Der Kutscher und Mac Pellew arbeiteten in der kleinen Pantry und hatten alle Hände voll zu tun, um die annähernd fünfzig Mann starke Crew zu sättigen. Allerdings half ihnen dabei noch Coogan, ein Mann von den Le Vengeurs, der sich ebenfalls ausgezeichnet aufs Kochen verstand.

Der Profos musterte und kontrollierte jeden Tag dreimal seine acht Hühner, die sie von den Galápagos-Inseln mitgenommen hatten, und die seit langem ständige Begleiter waren. Die Hühnerchen legten auch recht fleißig, doch mitunter produzierten sie nur vier oder fünf Eier am Tag. Für den Profos war das betrüblich, denn was sollten fast fünfzig Mann mit vier oder fünf Eiern pro Tag anfangen, was, wie? Zumal ein Mann wie Edwin Carberry gut und gern auf einen Sitz mindestens ein Dutzend verdrückte.

Erst am Dreizehnten – der Profos kriegte sich fast nicht mehr ein, weil es wieder mal der Dreizehnte war – rührte sich etwas.

Dan hatte an diesem Tag das Besteck genommen und rechnete jetzt ihren Standort aus.

„Wir stehen etwa zweihundertachtzig Meilen südwestlich von Kap Mala“, meldete er dem Seewolf. Kap Mala war die Spitze am westlichen Eingang in den Golf von Panama.

„Dann haben wir es ja bald geschafft“, sagte Hasard. „Bisher hat sich nichts gezeigt, aber jetzt wird es immer kritischer.“

Es war jetzt Mittag. Die See dünte immer noch langgezogen, und hin und wieder nahm der Zweimaster etwas Wasser über. Der feine Gischtschleier war jedesmal eine willkommene Erfrischung, die bei der Hitze angenehme Abkühlung brachte.

Der Wind pendelte immer noch aus Süden bis Südwesten, und über der See wölbte sich ein hellblauer Himmel mit Lämmerwolken, die langsam zum Festland zogen.

An Deck schnitt Mac Pellew den Männern, die es nötig hatten, mit saurem Gesicht die Haare. Dazu benutzte er Messer und Schere. Einige ließen sich auch rasieren, und so herrschte an Deck ein fast ausgelassenes Treiben.

Mac nannte das „Hammel scheren“, und einige sahen nach dieser Prozedur auch so ähnlich aus, wenn Mac ihnen mit sauertöpfischer Miene einen kleinen Kupferspiegel vorhielt.

Augenblicklich war der Franzose Pierre Puchan dran, der sich auf die Gräting hockte und geduldig wartete.

Mac setzte ihm einen kupfernen Topf auf den Schädel, um genau Maß zu nehmen.

„Schön rund, bitte“, sagte Pierre grinsend zu dem ahnungslosen Mac Pellew, der gerade lossäbeln wollte.

„Schön rund und so“, brummte Mac. „Ich bin hier der Barbier und bestimme, wie es gemacht wird. Ich sehe selbst, zu welchem Eierkopf der richtige Schnitt paßt.“

Er zerrte an dem Kupfertopf, der Pierre Puchan so ähnlich am Schädel klebte wie der Helm des Wikingers. Er zerrte weiter, doch der Topf wollte nicht so recht.

„Du reißt mir ja die Rübe ab!“ schrie Pierre.

„Kein Wunder bei deinem Torfkopp“, knurrte Mac, „der ist schon in den Topf hineingewachsen.“

Er trat hinter Pierre, griff die beiden Henkel und zog mit einem kräftigen Ruck daran. Dann fiel er fast in Ohnmacht. Er hielt den Topf verblüfft in den Händen – und auch die gesamte Haarpracht des Franzosen. Jetzt starrte er total verdattert auf einen glatten, wie poliert wirkenden Schädel, in dem sich das Licht der Sonne spiegelte.

„O Gottchen!“ jammerte Mac. „Bas ist mir noch nie passiert.“

„Verflucht, meine Haare!“ brüllte Pierre. „Du hast sie mir alle ausgerissen! Himmel, mein Schädel!“

Mac war immer noch total platt. Er hatte die Futterluke aufgerissen und stierte auf diese Kugel, die glänzend vor ihm lag und auf der nicht mehr ein einziges Haar sproß.

„Du bist vielleicht ein Stiesel“, sagte der Profos. „Und so was nennt sich Barbier. Ein quergebraßter Seesack bist du. Reißt dem armen Kerl sämtliche Borsten aus.“

Mac schloß entsetzt die Augen, weil er einfach nicht glauben konnte, was er da sah. Ihm wurde fast übel vor Angst. Dann riß er die Klüsen wieder auf und stierte in den Topf. Da hing immer noch die ganze Haarpracht des Franzosen drin.

Erst das dröhnende Gelächter der Männer ließ Mac Pellew entsetzt zusammenfahren. Die Kerle bogen sich vor Lachen und grinsten wie die Heupferde. Besonders der Profos konnte sich kaum beruhigen. Mit Tränen in den Augen deutete er immer wieder auf Mac, der verlegen den Topf mit dem wundersamen Inhalt in den Händen drehte.

„Haha-hihi!“ brüllte der Profos. „Der hat ’ne neue Methode zum Haareschneiden erfunden! Reißt den Kerlen einfach alles mitsamt den Wurzeln aus und spart sich ’ne Menge Arbeit!“ er schlug sich auf die Schenkel und lachte dröhnend.

„O Gottchen“, sagte Mac Pellew noch einmal. Aber es klang schon wie der letzte Hauch eines Sterbenden. „Was lacht ihr verrückten Kerle so dämlich?“

„Weil das ’ne Perücke ist“, klärte der Profos ihn auf. „Und weil wir dich Essigkruke mal aufheitern wollten. Außerdem hast du mir vor ein paar Wochen auch einen Streich gespielt, als wir über den Äquator segelten. Das hast du jetzt davon.“

Die Kerle brüllten noch lauter, weil Mac so ein unglaublich fassungsloses Gesicht zog. Er griff in den Topf, zog die Perücke heraus und warf sie fluchend dem Franzosen an den Schädel.

„Na, war das nicht erheiternd?“ fragte der Profos. „Also, ich habe sehr gelacht.“

„Ein Scheiß war das!“ fluchte Mac sauer. „Über so was kann ich schon gar nicht lachen, nicht mal weinen kann ich darüber. Und in Zukunft könnt ihr euch eure Lauseköppe selber schneiden oder besser gleich ganz absäbeln.“

„Aber Mac“, sagte der Profos grinsend, „das war doch nur ein kleiner Spaß. Fast alle wissen, daß Pierre ’ne Perücke trägt, und er hat den Spaß auch mitgemacht. Du mußt dich jetzt nur sehr in acht nehmen, wenn du das Ding in den Händen hattest.“

Der Profos griff zu und hielt Macs Hand fest. Dann drehte er sie um und nickte.

„Tatsächlich“, murmelte er verblüfft. „Das habe ich mir doch gleich gedacht.“

„Was denn, zum Teufel?“ schrie Mac.

„Der züchtet unter seiner Perücke bretonische Wasserflöhe“, behauptete der Profos. „Das sind ganz besondere Wasserflöhe, weil die am Achtersteven so ’ne kleine rosa Schleife tragen. Jetzt hüpfen ein paar davon schon auf dir herum.“

Mac, der meist alles für bare Münze nahm und an Scherze dieser Art nicht glaubte, sah entsetzt auf seine Hände und sprang einen Schritt zurück.

Als die Kerle wieder lauthals losbrüllten, fühlte er sich veralbert und wurde noch saurer. Er griff in den Topf mit Rasierschaum und pfefferte dem Profos eine Handvoll ins Gesicht. Der hatte jetzt plötzlich einen Weißen Rauschebart im Gesicht und sah aus wie ein Weihnachtsmann, der Schnee gefressen hat. Der Schaum tropfte langsam von ihm ab und auf die Planken.

In diesem Augenblick war der Spaß allerdings vorbei, obwohl der Profos gern noch die Kumme mit Rasierschaum dem traurigen Mac über den Schädel gestülpt hätte.

Der Ausguck für den Sektor Steuerbord querab bis Steuerbord achteraus meldete sich lautstark. Es war Mel Ferrow, der diesen Sektor mit dem Spektiv absuchte.

„Mastspitzen an der südlichen Kimm!“ schrie er.

Einige Sekunden lang herrschte totales Schweigen an Bord. Jeder wußte, daß es jetzt mit der Ruhe und Beschaulichkeit vorbei war. Jetzt würde wieder der Ernst beginnen – oder die Hatz durch chinesische Kampfdschunken. Genausogut konnten es aber auch Spanier sein.

Die Mastspitzen waren für die anderen erst eine halbe Stunde später erkennbar.

„Genau auf Kursänderungen achten“, befahl Hasard. „Behaltet die Mastspitzen scharf im Auge.“

Die gesichteten Mastspitzen kamen jedoch nur sehr langsam an der Kimm auf, und vorerst ließen sie sich nicht einordnen. Niemand wußte, um was für Schiffe es sich handelte.

Das änderte sich erst gegen Nachmittag, als Dan O’Flynn einmal zum Spektiv griff und die Mastspitzen sehr genau betrachtete. Er sah so lange durch den Kieker, daß Hasard ungeduldig wurde. Dann schob er das Messingrohr mit einem leisen Seufzer zusammen.

„Es sind schon wieder Dschunken“, sagte er. „Fünf chinesische Dschunken, die in Kiellinie segeln. Noch halten sie Parallelkurs. Ich glaube auch, daß sie uns ebenfalls längst gesichtet haben.“

„Schon wieder Zopfmänner“, murmelte Hasard. „Wenn sie auf dem Kurs bleiben, steuern sie offenbar ebenfalls den Golf von Panama an.“

„Fünf Spanier wären mir fast lieber“, meinte Shane, „da weiß man, wie man dran ist. Aber diese Kerle mit ihren höllischen Brandsätzen …“

Er ließ den Rest offen, aber jeder wußte, was er damit sagen wollte.

Die chinesischen Piraten waren ernst zu nehmende Gegner, das hatten sie in der Vergangenheit in aller Härte und Grausamkeit bewiesen. Sie scheuten vor nichts zurück, und sie waren den anderen Schiffen wegen ihrer Brandsätze gefechtsmäßig weit überlegen.

Auch das hatten Arwenacks und Le Vengeurs am eigenen Leib erfahren müssen, als sie die „San Lorenzo“ opfern mußten und die „Estrella de Málaga“ von den Zopfmännern zusammengeschossen wurde, bis sie auseinanderflog.

Jetzt segelten fünf Dschunken achteraus wieder langsam auf.

Die Männer konnten sich ausrechnen, daß sie nicht die geringste Chance mit dem Zweimaster gegen sie hatten.

Pausenlos wurden die Schiffe jetzt beobachtet. Sie segelten nur sehr langsam auf. Mit jeder verstreichenden Stunde waren sie jedoch deutlicher und klarer zu erkennen.

„Ihr Kurs hat sich bisher nicht verändert“, sagte Hasard am späten Nachmittag. „Sie sehen uns auch ebenso deutlich, wie wir sie sehen. Aber zum Glück scheinen die Kerle kein Interesse an uns zu haben. Dennoch traue ich ihnen nicht.“

„Vermutlich sind wir ihnen zu unbedeutend“, sagte Dan. „Sie sehen ein kleines Schiff, das nicht viel Beute verspricht. Daher lassen sie uns in Ruhe, weil ihnen vermutlich ganz andere Brocken vorschweben.“

Die Dschunken blieben auf ihrem Parallelkurs, ohne weiter nördlich zu halten. Ein Interesse für den Zweimaster war nicht zu bemerken.

2.

Als die kurze Dämmerung hereinbrach, hatte sich an der Situation immer noch nichts geändert. Harmlos segelten die Dschunken ihren Kurs weiter. Auch der Abstand veränderte sich kaum, weil Zweimaster und Dschunken annähernd gleiche Fahrt liefen.

Hasard war dennoch von tiefem Mißtrauen erfüllt. Er traute den gelben Piraten nicht über den Weg, denn die änderten oft sehr schnell ihre Absichten oder gaben sich betont harmlos.

„Keine Lichter an Bord entzünden, sobald es dunkel ist“, sagte er. „Kein Feuer, nichts.“

„Was hast du vor, Sir?“

„Ich traue ihnen nicht. Die Kerle sind nicht nur hinterhältig, sie sind auch trickreich, und wir müssen auf einen schlagartigen Überfall gefaßt sein, falls sie näher aufsegeln. Wir werden später, wenn die Nacht hereingebrochen ist, sozusagen einen Seitenwechsel vornehmen. Ich versetze mich nur in die Lage der Piraten. Es kann ja sein, daß sie bei Dunkelheit auf Nordkurs gehen, um uns ein wenig zu beschnüffeln. Das ist unauffälliger, und wir würden es vielleicht erst merken, wenn es bereits zu spät ist. Dann erschrecken sie uns mit ihren Brandsätzen und fallen über uns her. Daß sie bisher kein Interesse an uns zeigten, besagt überhaupt nichts.“

„Demnach gehen wir dann auf Ostkurs“, sagte Dan.

„Ja, und das bringt uns zwangsläufig hinter die Dschunken.“

„Sie werden es merken, Sir.“

Hasard schüttelte den Kopf.

„Das glaube ich nicht. Wir segeln noch in Sichtweite. Der Himmel bewölkt, und so haben wir auch keinen Mondschein. Die Nacht wird wie geschaffen dafür sein.“

Der Himmel hatte sich mittlerweile bewölkt, und jetzt trieben hoch droben ganze Wolkenformationen in Richtung Festland. Schon am Nachmittag hatte Hasard damit gerechnet. Für sie konnte das nur von Vorteil sein.

Der chinesische Oberschnapphahn würde nicht damit rechnen, daß sie sich während der Dunkelheit heimlich absetzten oder die Seiten wechselten, überlegte Hasard. Es würde ein Versteckspiel werden, bei dem jeder jeden auszutricksen versuchte. Jeder mußte versuchen, dabei die Rolle des anderen zu durchdenken. Das würden die Zopfmänner vermutlich ebenfalls tun, wenn sie die Absicht hatten, den Zweimaster unter die Lupe zu nehmen.

Hasard lächelte bei dem Gedanken grimmig.

Als dann die Nacht hereinbrach, dünte die See immer noch langgezogen und hin und wieder wurden die Schiffe in den Wellen so klein, daß man sie kaum noch sah.

Etwas später waren sie nicht mehr zu erkennen. Die Dunkelheit verschluckte alles.

„Ich kann sie nicht mehr erkennen“, sagte Dan, „selbst durch das Spektiv nicht. Aber sie haben ebenfalls keine Laternen entzündet. Auf den Schiffen ist alles dunkel.“

„Vermutlich werden sie nur ein Schiff auf unseren Kurs setzen“, sagte Hasard. „Was wird der chinesische Kapitän denken?“

„Daß wir auf Kurs bleiben“, erwiderte Dan, „weil wir nicht damit rechnen, von den Kerlen behelligt zu werden. Sie haben ja auch tagsüber kein Interesse an uns gezeigt.“

„Das ist wahrscheinlich, immer vorausgesetzt, sie haben das Interesse an uns. Wir müssen damit rechnen. Gut, dann gehen wir jetzt auf Ostkurs“, sagte er zu Pete Ballie, der die Pinne übernommen hatte.

„Auf Ostkurs“, wiederholte Pete. „Kurs Ost liegt an, Sir“, sagte er, als das Manöver vollzogen war.

„Recht so.“

Sie hatten jetzt von der Lee- zur Luvposition gewechselt. Das war ein weiterer Vorteil, denn auf der Luvposition konnten sie jederzeit die Überlegenheit des Zweimasters auf Kreuzkursen ausspielen. Der Zweimaster lief hoch am Wind etwas schneller als die chinesischen Kampfdschunken.

„Wenn es jetzt erforderlich wird“, sagte Hasard, „dann können wir ausreißen, und die Dschunken haben das Nachsehen. Auf ein Gefecht mit ihnen können wir uns nicht einlassen, denn wir haben gegen fünf stark armierte und mit Brandsätzen bestückte Dschunken nicht die geringste Chance. Sie würden uns so zusammenschießen, wie sie es mit der ‚Estrella‘ getan haben.“

Meile um Meile legten sie bei absoluter Finsternis zurück. Obwohl sie nichts mehr sahen, waren die Ausgucks weiterhin besetzt, die jetzt vor allem den Backbordsektor scharf kontrollierten. Es konnte ja sein, daß auf einer der Dschunken ein Licht entzündet wurde.

Es blieb jedoch weiterhin dunkel. Scheinbar waren die Dschunken verschwunden.

Im Verlauf der Nacht, so schätzte der Seewolf, mußten sie auf dem Ostkurs bereits hinter den Dschunken sein. Noch später suchte er selbst die See ab, aber er sah nichts, auch Dan O’Flynn konnte nichts bemerken, trotz seiner scharfen Augen.

„Wir müssen uns jetzt auf einer Position etwa Steuerbord achteraus der Dschunken befinden, wenn sie ihren bisherigen Kurs beibehalten haben. Beide Kurse laufen jetzt auseinander. Ich nehme an, daß wir ihnen entwischt sind.“

„Vielleicht bewegen den Schnapphahn ähnliche Gedanken“, meinte Ben. „Wir kneifen heimlich aus, und er setzt sich auf einen Kurs, von dem er annimmt, daß er uns erwischen wird. Das ist so eine Art Katz-und-Maus-Spiel bei totaler Finsternis.“

„So ähnlich“, sagte Hasard. „Wir sind die Maus, die trickreich zu entwischen versucht, und drüben lauert die Katze, die sich überlegt, was die Maus unternehmen wird, und wie man sie erwischen kann.“

Immer wieder versuchte Hasard, sich in die Rolle der chinesischen Piraten hineinzudenken. Ob ihm das allerdings gelang, konnte er nicht genau beurteilen, denn da spielten Voraussetzungen mit, die nicht immer kalkulierbar waren.

Aber auch wenn er voraussetzte – um das Denkspiel zu vervollständigen –, daß die Chinesen keinerlei Interesse an ihnen hatten, dann hatten sie trotzdem nicht falsch gehandelt.

Der Zweimaster jagte weiter durch die Nacht. Er segelte mit Halb- bis Backstagswind über Backbordbug ostwärts, und entfernte sich dabei zwangsläufig immer weiter von den Kampfdschunken, die ihn noch vor sich glaubten.

Hasard wüßte nur noch nicht genau, ob dieser Ostkurs auch richtig war. Es gab noch Unwägbarkeiten in dem nächtlichen Verfolgungsspiel. Er mußte nochmals alles das durchdenken, was mit „wenn“ oder „aber“ zusammenhing, und das war eine ganze Menge.

Auf der vordersten Kampfdschunke stellte der schlitzäugige Kapitän ebenfalls Überlegungen an. Sie hatten absichtlich kein Interesse an dem weit voraus segelnden Zweimaster gezeigt, um die weißen Teufel in Sicherheit zu wiegen. Um so überraschter würden sie sein.

Der Dschunkenkapitän war klein und gedrungen, ein mongolischer Typ mit stark vortretenden Wangenknochen, die von lederartiger Haut umspannt wurden. Seine Augen waren wie die einer Ratte, die alles blitzschnell und mißtrauisch musterten.

Er trug als Zeichen seiner Würde einen langen Zopf, der ihm bis weit über den Rücken hing. Eine schwarze Kappe verbarg den Rest seiner spärlichen Haare. Die anderen trugen nur halb so lange Zöpfe.

Es war jetzt kurz vor Mitternacht und stockdunkel. Der voraus in Sichtweite segelnde Zweimaster war verschwunden. Die Finsternis hatte ihn geschluckt. Aber er war da, auch wenn er jetzt unsichtbar blieb.

Li-Loyang, so hieß der Dschunkenkapitän, verzog sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. Die weißen Teufel würden sich wundern, wenn er überraschend auftauchte und über sie herfiel.

In Gedanken beschäftigte er sich mit den Kursen, die gesegelt werden mußten, um den Zweimaster einzukreisen. Dabei stellte er ähnliche Überlegungen an wie Hasard, nur in entgegengesetzter Richtung. Er mußte trickreich versuchen, das Wild zu erwischen und in die Enge zu treiben.

Er beriet sich mit Ni Kua, seinem engsten Vertrauten, gleichzeitig Sterndeuter, Berater, Feuerwerker und Stellvertreter.

Ni Kua war ein kleiner, vertrocknet wirkender Kerl mit völlig unbewegtem Gesicht. Er hatte eine stark ausgeprägte Mongolenfalte, eine Falte am Auge, die den freien Lidrand überdeckte und sich über den inneren Augenwinkel zog, der dadurch verdeckt wurde. Dabei entstand eine halbmondförmige Rundfalte, und dadurch sah Ni Kua immer wie ein grinsender Zwerg aus, dessen Augen ewig geschlossen schienen.

Ni Kua genoß jedoch die Hochachtung des Kapitäns und den Respekt, den man ihm allgemein entgegenbrachte, denn er war einer jener Abkömmlinge, die den Großen Kanal zwischen Hongchou im Süden und Changan im Norden gebaut hatten. Das lag zwar schon etwa siebenhundert Jahre zurück, aber das tat nichts zur Sache.

Li-Loyang griff in jeder Situation auf die umfangreichen Kenntnisse des Ni Kua zurück. Er verließ sich fast blindlings auf ihn, denn Ni Kua besaß das weise Buch mit dem Titel I Ching, das Buch der Wandlungen, das eine Mischung aus alter Bauernweisheit und den Orakelsprüchen der Wahrsager war. Dieses Buch enthielt eine Aufstellung aller Dinge, die dem „yin“ oder „yang“ zugeordnet waren. Weiter enthielt es acht Trigramme, die aus verschiedenen Kombinationen mit nur zwei Symbolen zusammengesetzt waren, eben dem „yin“ oder „yang“.

Der gallig grinsende Zwerg mit den ausgeprägten Schlitzaugen zitierte ständig Auszüge aus diesem Buch. Es diente ihm zur Interpretation aller denkbaren, möglichen und unmöglichen Situationen.

So konnte er damit ein Seebeben erklären, einen mißlungenen Überfall oder eine Krankheit. Er konnte aber – nach Meinung des Kapitäns – voraussagen, wie eine Sache verlaufen würde. Die Mißerfolge übersah man dabei großzügig, dafür wurde dann eine Erklärung gefunden, aber die Erfolge blieben im Gedächtnis haften.

So war Ni Kua zu Ansehen, Ruhm und Ehren gelangt. Jetzt fehlte nur noch der Reichtum, und den gedachte man sich an den Küsten der Neuen Welt zu holen, wo es unglaubliche Schätze geben sollte. Auf dem Weg dahin waren sie jetzt, nur störte sie der Zweimaster.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

€2,49

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100 S. 1 Illustration
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9783954398614
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