Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 376»

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Impressum

© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-784-6

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

In der Gewalt der Spanier

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Schlangen-Insel, 4. April 1595.

Die Sonne stand noch so hoch über der Kimm, daß man gerade noch einen Hund unter ihr durchjagen konnte.

Das war der Zeitpunkt, daß auf der „Isabella“ und den anderen Schiffen in der Bucht erwartungsvoll grinsende Kerle verschwanden und sich auf den Weg in die Felsen zu „Old Donegals Rutsche“ begaben.

Shane, der bei Old O’Flynn insgesamt vierzehn Tage freies Saufen und freien Verzehr hatte, war schon seit einer Stunde verschwunden und nervte den Alten oben in der Kneipe mit seinem mörderischen Durst.

Blacky, Smoky, Dan, Stenmark und Pete Ballie verschwanden ebenfalls. Ein Dutzend anderer wollte gleich folgen.

Mac Pellew und der Kutscher sahen sich entsagungsvoll an, wobei Mac ein so trauriges Gesicht zog, als würde keiner der Arwenacks jemals wieder zurückkehren.

„Verdammt“, sagte Mac empört und verärgert, „da steht man bei dieser Bullenhitze in der Kombüse, schwitzt sich das Gehirn aus dem Schädel, und dann ignorieren die Kerle das Abendessen und gehen saufen. Na, die können mich mal. Ich hau auch ab.“

„Ich schmeiß auch gleich alles hin“, sagte der Kutscher. „Seit Donegal die Kneipe hat, ist es wirklich ein Kreuz.“

Ja, seit der Alte die Kneipe komplett eingerichtet hatte, war sie jeden Abend brechend voll, und der Alte scheffelte mit beiden Händen Gold- und Silbermünzen.

Ferris Tucker und der Profos Edwin Carberry schickten sich ebenfalls an, einen „lenzen zu gehen“, als sich ihnen der Kutscher in den Weg stellte.

„He, was ist mit dem Abendessen?“ fragte der Kutscher. „Oder habt ihr etwa keinen Hunger?“

„Jawoll“, sagte Mac Pellew, „wenn ihr nichts essen wollt, dann sagt gefälligst vorher Bescheid. Dann können wir uns eine Menge Arbeit sparen und auch in die Pinte gehen. Das paßt mir ganz und gar nicht, daß wir die Arbeit für nichts und wieder nichts tun.“

„Reg dich nicht auf“, sagte Ferris, „wenn wir später noch Hunger haben, melden wir uns schon.“

„Aber nicht bei mir“, sagte der Kutscher mit finsterem Blick. „Später ist der Laden dicht, da läuft gar nichts mehr. Nicht mal soviel“, er schnippte mit den Fingern.

„Ja, wißt ihr kalfaterten Feuerunken denn nicht, was es heute bei Donegal gibt?“ fragte der Profos. „Weshalb glaubt ihr wohl, verschwinden die Kerle nach getaner Arbeit so eilig? Ha, heute gibt es doch speziell von Mary gekochtes Calaloo.“ Der Profos sagte das sehr genießerisch und schnalzte dabei mit der Zunge.

„Und dazu gibt’s eiskaltes Bier“, sagte Ferris genüßlich, „und einen schönen karibischen Rum und …“

„… süffigen spanischen Rotwein“, ergänzte der Profos. „Fehlen nur noch ein paar Weiberchen, dann wäre das Paradies vollkommen.“

„Calaloo habe ich noch nie gehört“, erklärte der Kutscher. „Aber ich war auch schon seit ein paar Tagen nicht mehr oben. Was ist das denn für ein Gericht?“

„Das stammt von den Kreolen“, sagte Ed geheimnisvoll, „es ist eine dicke Suppe und besteht aus Fisch, viel Krebsfleisch, Zwiebeln, Knoblauch, Kokosmilch, Chilis, Pfeffer, Salz, gehackten Yam-Wurzeln und Tomaten. Das ist Marys Stammgericht, und hinterher kriegst du von dem scharfen Zeug einen Durst, daß du ein ganzes Bierfaß leertrinkst. Die Kerle stöhnen vor Wonne, wenn sie das Zeug löffeln.“

Mac Pellew leckte sich bereits mit der Zunge über die Lippen und stierte erwartungsvoll den Profos an, während der Kutscher über das eben Gehörte nachdachte.

„Solltet ihr mal probieren“, schlug Ferris vor, „Mary hat das Rezept aus Tortuga mitgebracht. Nichts gegen deine Kochkunst, Kutscherlein, aber das Zeug ist das Allerbeste.“

„Damals waren es mal geräucherte Heringe“, sagte Mac, „da konntet ihr das Maul auch nicht vollkriegen. Jetzt ist es Calaloo.“

„Man muß alles mal probieren.“

Der Kutscher sah sich um. Die Zwillinge waren fort, vom Wikinger war nichts zu sehen, und auch die anderen Schiffe lagen verlassen da. Sogar der alte Segelmacher Will Thorne war verschwunden.

„Wir schließen den Laden und gehen auch nach oben“, verkündete der Kutscher.

„Klar“, sagte Mac, „aber Beeilung bitte. Shane frißt uns sonst bestimmt alles weg. Und wenn der Wikinger loslegt, bleibt für uns nichts mehr übrig.“

Das „Calaloo-Fieber“ erfaßte sie bereits, obwohl sie es noch gar nicht probiert hatten. Aber es hörte sich gut an. Zartes Krebsfleisch mit allerlei Zutaten, danach kaltes Bier, das war genau das, was den beiden Kombüsenmännern vorschwebte.

Erwartungsfroh stiegen sie etwas später zu viert in die Felsen, wo auf dem Plateau der Eingang zu „Old Donegals Rutsche“ stand, einer Kaverne mit einer tückischen Falle, durch die Alte bei seiner ersten Erkundung gesaust und in einer haiverseuchten Bucht gelandet war. Daher stammte auch der Name Rutsche, denn die Röhre war glatt und führte von der Kaverne aus zur Ostseite der Schlangen-Insel. Die Rutsche war also ein tunnelartiger Abfluß, den Regenwasser im Laufe von Jahrtausenden ausgewaschen und poliert hatten. Irgendwann hatten sich die Felsen über der Kaverne leicht verschoben und den Zufluß versperrt.

Das hatten die Seewölfe im Verlauf der letzten Zeit herausgefunden.

Stimmengewirr war zu hören, ein paar Kerle aus Jerry Reeves Mannschaft sangen und grölten.

Es ging ein paar Stufen hinunter. Links in der ersten Kaverne stand die Holztheke, die Ferris gezimmert hatte. Der Boden war mit Dielen bedeckt, in die Felswände waren von Shane eiserne Ringe geschlagen worden, in denen Pechfackeln steckten. Es war so richtig urig und gemütlich, und das zog die Kerle magisch an.

An die Wand hinter der Theke hatte Old O’Flynn die Trümmer seines Holzbeins genagelt, zur Erinnerung an die Rutsche und die Bucht, in der er gelandet war. Als ihn dort die Haie attackierten, hatte er mit seinem abgeschnallten Holzbein immer feste draufgedroschen, bis die Splitter flogen.

An die erste Grotte schloß sich ein schmaler Durchlaß an, der zur zweiten Kaverne führte. Auch hier befand sich eine Theke, damit das Gedränge an der ersten nicht zu groß wurde. Hinter der zweiten Theke hing an einer dünnen Leine ein etwa ein Yard langer Holzbalken, der Rest eines Kielschweins, in den eingebrannt zu lesen war:

„Empress of Sea“. Das war Old O’Flynns liebstes Erinnerungsstück aus alten Zeiten. Jetzt war er außerdem stolzer Besitzer der kleinen dreimastigen Karavelle „Empress of Sea II.“.

Hinter der ersten Theke war Smokys Weib beschäftigt, die Mary O’Flynn, Donegals rothaariger Mary Snugglemouse, zur Hand ging.

Hinter der anderen Theke waren Hasard und Philip bei der Arbeit. Sie spülten Gläser und Geschirr. Hasard hatte sie „freigestellt“, damit sie Old O’Flynn zur Hand gingen, und das taten sie mit einer wahren Hingabe und Feuereifer.

Beide Kavernen waren brechend voll. Von allen Schiffen in der Bucht waren die Männer erschienen. Nur die Leute von der „Wappen von Kolberg“ fehlten. Das Schiff versah den turnusmäßigen Patrouillendienst zum Schutz der Schlangen-Insel und von Coral Island.

Ribault war da, die Rote Korsarin saß mit Karl von Hutten und dem Seewolf zusammen! Big Old Shane hockte ganz hinten in einer Ecke und wurde ständig vom alten O’Flynn bedient, der mit dem gewaltigen Durst des Graubartes kaum Schritt halten konnte.

Aber er mußte seine verlorene Wette einlösen und Shane vierzehn lange Tage kostenlos verproviantieren und einschenken, soviel der wollte. Und Shane wollte verdammt viel, was den Alten fast zur Verzweiflung brachte.

Der Wikinger saß mit Gotlinde, dem Stör und Arne an einem Nischenplatz. Sein Helm funkelte im Schein der Fackeln, und er schob gerade eine riesige Kumme von sich, die jetzt restlos geleert war. Danach tönte er laut herum, das sei das beste gewesen, was er jemals gegessen habe, und jetzt müsse Bier her.

Die vier ließen sich an dem einzigen freien Tisch nieder. Der Kutscher sog begierig den Duft von Calaloo in die Nase. Auch Mac Pellew schnupperte bereits ganz aufgeregt.

Dann erschien Mary O’Flynn, eine resolute, etwas herbe Frau um die Vierzig, mit feuerroten langen Haaren. Sie hatte die wilden Kerle gut im Griff und verstand sich mit ihnen prächtig.

Alle vier bestellten Calaloo, kaltes Bier und ein Gläschen Rum. Das „Gläschen“ war ein Humpen, der dem Bierhumpen kaum nachstand.

Am Nebentisch hockten Leute von Jean Ribault und lobten das Calaloo über den grünen Klee. Auch das kalte Bier lobten sie, und erst recht den spanischen Rotwein.

Old O’Flynn war zufrieden und rieb sich immer wieder die Hände, weil die Pinte so brechend voll war und so gut ging.

„Ich habe Martin Correa angeheuert“, verkündete er, „den Spanier, der als Zweiter Steuermann auf der ‚San Nicolas‘ fuhr, und den die Dons auf der Insel ausgesetzt hatten. Er ist ein ehrlicher und prächtiger Kerl, und er versteht sein Handwerk. Er fährt jetzt bei mir als Steuermann und zusätzlich als Bootsmann. Die Schaluppe ist jetzt immer seeklar und perfekt in Ordnung. Er hat sich verdammt gefreut, als ich ihm das anbot.“

„Der Mann ist wirklich in Ordnung“, sagte Ed, „auf den kannst du dich voll und ganz verlassen, Donegal.“

„Vielleicht geht er auch auf deine Mucken ein“, sagte Ferris grinsend.

„Meine Mucken? Ich hab’ keine einzige! In einer von meinen Mucken hockt ihr jetzt, und die andere habt ihr auch schon bewundert. Und meine dritte Mucke kocht gerade die Suppe für euch. Ich bin der einzig vernünftige Kerl hier. Ohne mich würdet ihr jetzt nicht in der Kneipe hocken und saufen. Das hab ich alles aus dem Boden gestampft.“

Dagegen ließ sich schlecht etwas sagen, denn Old O’Flynns „Mucken“ hatten alle Gestalt angenommen. Also widersprach diesmal auch keiner, was den Alten sichtlich freute.

Fünfzehn Minuten später, so lange wurde das Gericht gekocht, brachte Mary vier große Kummen, denen ein lieblicher Duft entstieg. Der Profos verdrehte entzückt die Augen, bedankte sich höflich und griff nach dem Löffel. Dann mampfte er selbstvergessen los und stöhnte vor Wonne.

Auch die anderen langten kräftig zu, und da war so manches „Ah“ und „Oh“ zu hören.

Der Kutscher war restlos begeistert. Mac Pellews Leidensmiene erhellte sich zusehends, und er blickte verzückt zur Decke.

„Donnerwetter“, sagte er anerkennend. „Jetzt verstehe ich die Kerle.“

„Ich auch“, sagte der Kutscher mampfend, „und ich verzeihe ihnen ebenfalls. Das ist ein Geschenk der Götter.“

„Hat mein Schnuckelchen aus Tortuga mitgebracht“, sagte Old O’Flynn stolz. „Und einen Durst gibt das. Schön scharf, was?“

„Du bist ein gerissener Bursche“, erwiderte Ferris, „du weißt wenigstens, wie man seinen Umsatz vergrößert. Erst scharf essen, und dann gibt es mächtig Durst. Und dann wird getrunken.“

„Und dann stimmt die Kasse“, sagte Old O’Flynn kichernd. „Aber früher habt ihr mich ausgelacht und als Spinner bezeichnet.“

„Das mußt du nicht so eng sehen“, meinte Ed. „Mann, war das gut. Ich werde mir noch eine Portion bestellen.“

„Noch eine?“ fragte Old O’Flynn fassungslos. „Aber das war ja schon eine doppelte Portion. Muß dir ja mächtig schmecken.“

Der Profos geriet vor Verzückung fast ins Schwärmen.

„Dieser zarte Duft von Knoblauch, das Brennen der Chilis, die herben Wurzeln mit der lieblichen Kokosmilch – ah – das läßt einem das Herz aufgehen. Ich werde deinem Schnuckelchen dafür einen Kuß geben.“

„Wirst du nicht“, sagte Old O’Flynn, „bei mir wird mit Silber oder Gold bezahlt, aber nicht mit unrasierten Profosküssen. Du läßt gefälligst deine Flossen auf dem Tisch, sonst gehst du durch die Rutsche.“

Ferris lachte dröhnend, die anderen stimmten ein.

„Er ist genauso eifersüchtig wie der Wikinger, wenn der Stör nach Gotlinde schielt. Dann geht er auch gleich in die Luft.“

Das Schnuckelchen erschien etwas später und sah den Profos bedauernd an. Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Es ist nicht mehr viel da“, sagte sie mit ihrer rauchigen Reibeisenstimme. „Krebs und Fisch gehen zur Neige, und wenn das fehlt, ist es kein Calaloo mehr. Eine halbe Portion noch, ja?“

„Schade“, sagte Ed, „also eine halbe.“

Dabei schielte er verlangend auf Mac Pellews Kumme, die erst zur Hälfte geleert war. Aber Mac zog die Kumme vorsorglich näher zu sich heran, denn er kannte den Profos. Der war fast so schlimm wie Paddy Rogers oder Big Old Shane. Wenn es denen einmal schmeckte, hörten sie so schnell nicht wieder auf.

Am Nebentisch saßen auch noch hungrige Kerle. Sie hatten schon einmal heute abend Calaloo gegessen, und jetzt verspürten sie wieder Hunger.

Mary mußte die Suppe rationieren, denn jeder wollte Calaloo.

Die drei Männer aus der Crew Ribaults, Grand Couteau, was soviel wie Großes Messer hieß, Mel Ferrow und Roger Lutz fragten an, ob sie sich zu den Seewölfen setzen dürften. Klar, sie durften, und sie brachten ihre Humpen gleich mit.

„Schade, daß das Calaloo alle ist“, sagte Mel Ferrow. „An dem Zeug kann man sich zu Tode fressen. Aber wenn nur Krebse und Fisch fehlen, kann man dem abhelfen. Wir fangen welche. Roger kennt eine Insel, wo es Krebse in Massen gibt. Die sind da fast gestapelt. Davon holen wir ein ganzes Boot voll.“

„Klar“, sagte Ed begeistert, „bei den hungrigen Kerlen treten nach einer Weile Versorgungsprobleme auf. Aber wenn ihr eine Insel kennt, wo es so viel Krebse gibt, dann zischt doch ab und holt welche.“

„Das müßte ich mit Jean besprechen“, erwiderte Roger Lutz. „Aber der erlaubt das ganz sicher.“

Inzwischen kriegte der Profos seine letzte Kumme, die Mary noch großzügig gefüllt hatte. Der Kutscher und Mac waren restlos begeistert und griffen jetzt zum Bier, um den Durst zu löschen, den die scharfe Suppe mit sich brachte.

„Das hört man richtig zischen“, sagte Mac. „Das ist eine grenzenlose Wohltat.“

O’Flynn, Mary und Gunnhild hatten alle Hände voll zu tun, um den Nachschub auf die Tische zu bringen, denn nach der scharfen Suppe setzte ein unbändiger Brand ein. Die Zwillinge waren mit dem Geschirrspülen und Nachschenken ebenfalls pausenlos beschäftigt.

„Old Donegals Rutsche“ war eine wahre Goldgrube. Sie lief noch besser als die „Bloody Mary“ in Plymouth, und das wollte etwas heißen.

„Nur ein bißchen Stunk fehlt noch“, sagte der Profos behaglich. „Will denn keiner der Kerle Streit anfangen?“

Aber die Kerle waren satt und träge und wollten keinen Streit.

Old O’Flynn, der das genau beobachtete und ständig zu Carberry blickte, zeigte mit seinem knochigen Finger auf die versteckte und getarnte Röhre, die Rutsche, durch die es abwärts ging. Er wußte genau, daß Ed nur allzu gern die Standfestigkeit der Felsenwände prüfen wollte.

Aber das war mit der Gefahr verbunden, tief unten zwischen den Haien in der Bucht zu landen. Außerdem bedeutete das das Ende von Bier, Rum und Calaloo.

So blieb der Profos friedlich, trank und erzählte. Nun ja, man mußte ja nicht alles gleich zertrümmern, was neu war, aber irgendwann würde sich schon mal eine Gelegenheit ergeben.

Die drei Männer von der „Le Vengeur“ unterbreiteten Jean Ribault ihren Vorschlag, Krabben, Fische und Krebse zu holen und so für den erforderlichen Nachschub beizutragen.

„Hier auf der Insel gibt es nicht viel. Was sich hier am Strand tummelt, wird immer gleich gefangen“, sagte Jean.

„Ich kenne eine Insel oder ein Inselchen nördlich der Schlangen-Insel. Es ist eine kleine Gruppe. Dort wimmelt es nur so von den Dingern. Und Fische kann man da ebenfalls prächtig fangen. Wenn wir mit der kleinen Jolle hinsegeln dürfen, ist das Problem vorerst gelöst“, sagte der Franzose Roger Lutz.

„Meinetwegen, aber nicht länger als ein bis zwei Tage“, sagte Ribault. „Nehmt die Jolle, rüstet sie aus und segelt morgen früh los. Ich weiß selbst am besten, wie schwierig es mit der Versorgung mitunter ist.“

„Dann segeln wir drei zusammen“, sagte Roger.

Ribault war einverstanden. Die Kerle hatten etwas zu tun und wurden nicht übermütig, und für Nachschub war ebenfalls gesorgt. Marys Calaloo war unglaublich begehrt und wurde regelrecht verschlungen. Auch dafür hatte Jean Ribault volles Verständnis. Außerdem waren Roger und Grand Couteau dick befreundet und bildeten mit Mel Ferrow eine verläßliche Mannschaft. Vielleicht trafen sie unterwegs auch auf die „Wappen von Kolberg“, die ihren Patrouillendienst zwischen den Inseln versah.

Die drei verabschiedeten sich dann auch bald darauf, weil sie am anderen Tag nicht mit dicken Schädeln in See gehen wollten.

In „Old Donegals Rutsche“ aber ging es weiter. Da feierten die anderen bis fast zum Morgengrauen durch. Seltsamerweise blieb trotzdem alles recht friedlich.

2.

Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang wurde die kleine Jolle mit Angeln, kleinen Köderfischen, Netzen und Keschern ausgerüstet. Sie nahmen auch ein paar Musketen und Pistolen mit. Mel Ferrow lud Proviant für zwei Tage sowie ein Wasserfäßchen ins Boot, weil er nicht genau wußte, ob es auf der Insel Trinkwasser gab.

Es war gerade dämmrig, aber schon sehr warm, als Mel sein Hemd auszog und sich an die Pinne der Jolle setzte.

Der Engländer mit den wasserhellen Augen zog sehr selten sein Hemd aus, denn sobald er das tat, blickte er jedesmal in entsetzte und fassungslose Gesichter.

Auch Grand Couteau und Roger Lutz, den beiden Franzosen, verging das erwartungsvolle Grinsen, obwohl sie die Narbe nicht zum ersten Male sahen. Sie sah fürchterlich aus.

Von der breitausladenden Schulter zog sich bis weit über den Rücken und einen Teil der Brust eine dunkelrote, mehrmals durch fast weiße Stellen unterbrochene Narbe hin. Die dunkleren Punkte, groß wie ein Daumen, und sehr tief, zeigten die Abdrücke der Zähne eines Haifisches, der einmal zugeschnappt hatte, dann aber von seinem Opfer gleichzeitig aufgeschlitzt worden war. Das war Mels letzte Reaktion mit dem fürchterlichen Hai gewesen. Er hatte ihm gerade noch das Entermesser durchziehen können, danach war er bewußtlos und aus zahlreichen Wunden blutend an die Oberfläche getrieben worden.

Wochenlang hatten sie ihn zusammengeflickt und nicht geglaubt, daß er überleben würde. Die Rippen waren auf der Narbenseite krachend gebrochen, die rasiermesserscharfen Zähne des Hais hatten ihm tiefe Furchen gegraben, und die Haut hatte er ebenfalls eingebüßt.

Aber Mel Ferrow, zäh wie hundert Katzen, überlebte.

Daß er für Haie seither nichts mehr übrig hatte, war verständlich. Er hatte geradezu einen regelrechten Haß auf die Biester entwickelt und kriegte beim Anblick eines Hais „Zustände“.

Das war jedesmal wie ein kleiner Schock, er verkrampfte sich, sah wieder deutlich die Szene vor seinem geistigen Auge und entspannte sich danach nur langsam. Wie viele Haie er seither getötet hatte, wußte er nicht, aber es waren sehr viele.

Roger setzte das Segel, Grand Couteau, der schwarzhaarige Franzose, der so flink mit dem Messer war und so explosiv wie Luke Morgan, löste die Leine.

Das Wasser über dem Höllenriff war in kräuselnder Bewegung. Deutlich war zu sehen, daß sich der Mahlstrom nach draußen in Bewegung setzte.

Als sie durch den domartigen Bogen segelten, ging die Sonne auf und warf Silberblitze aufs Meer. Der Tag begann, ein verrückter Tag, der ihnen noch viel Kummer bereiten sollte.

Sie freuten sich, mal ganz allein für ein oder zwei Tage auf einer der kleinen Inseln Krabben fangen und ungestört fischen zu können.

Mel prüfte die Angelleinen und sah nach den lebenden Ködern, die sie auf der Schlangen-Insel in der Bucht gefangen hatten. Es waren handlange Fische, auf die besonders gern Zackenbarsche losgingen. Die Angelleinen hatten als Vorlauf dünne Eisenketten, denn die riesigen Barsche veranstalteten wilde Wassertänzchen, wenn sie erst einmal am Haken hingen. Manche zerfetzten oder zerbissen dann die starken zähen Sehnen, aus denen die Leinen bestanden, und verschwanden wieder.

Die Vorlaufkette aber schafften sie nicht.

Der Wind blies handig. Jeder der drei Männer hing seinen Gedanken nach oder döste etwas vor sich hin.

Vier Stunden später sahen sie die Inselgruppe vor sich, die ihr Ziel war. Es war eine Gruppe winziger Eilande, die im nördlichen Bereich der Caicos-Inseln lagen. An der Ostseite, dem Atlantik zugekehrt, gab es Korallenriffe, die Westseiten der Inselchen waren schneeweiß, mit langen fast unberührten Stränden, von Kokospalmen bewachsen und mit üppiger tropischer Vegetation. Nordwestlich der Inselgruppe verlief die Caicos-Passage.

Weit und breit gab es keinen Menschen. Kein einziges Schiff war auf dem Meer zu sehen. Sie hatten das Gefühl, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt.

„Die dritte Insel ist es“, sagte Roger, „da laufen Tausende von den Viechern herum. Couteau und ich fangen die Krabben, und du gehst inzwischen angeln, Mel. Einverstanden?“

„Klar“, sagte Mel strahlend, „angeln ist meine Leidenschaft, und hier gibt es jede Menge Fische, auch Zackenbarsche.“

Das Inselchen mit dem weißen Strand und den Hainen voller Kokospalmen wurde angesteuert. Dann lief die Jolle leicht auf den Sand und die Körbe zum Einfangen der Krebse und Krabben wurden entladen.

„Da gibt es auch Trinkwasser“, sagte Roger, „hier kann man es schon eine Weile aushalten.“

Sie nahmen die Musketen und Pistolen aus der Jolle, ließen aber jeweils eine Waffe im Boot, ein paar Pulverflaschen und den Proviant, den sie glatt vergaßen. Sie sahen nur auf den Dickichtgürtel und zu jener Stelle, wo die hohen Palmen standen.

„Seht euch nur mal die Dwarsläufer an“, sagte Couteau staunend, „da hast du aber nicht übertrieben, Roger. Die brauchen wir nur noch in die Körbe zu scheuchen.“

Die Dwarsläufer, handtellergroße Krabben, krebsten dort wild durcheinander, wo es etwas zu fressen gab. Manchmal war es das Fleisch aufgeplatzter Kokosnüsse, mitunter waren es tote Fische, die das Meer an den Strand gespült hatte. Alles, was irgendwie freßbar war, stopften die Viecher in sich hinein. Es war eine pausenlose und ununterbrochene Fresserei. Ein paar scherenbewehrte Exemplare waren darunter, an denen sie ihre helle Freude hatten.

Couteau wollte nach einem greifen, doch der blieb stehen, hob kampfeslustig die Schere und ging zum Angriff über, als er die Hand dicht vor sich bemerkte. Dann zuckte die Schere vor und schnappte zu.

„Nicht mit mir, Freundchen“, sagte der Franzose lachend. Blitzschnell griff er mit der anderen Hand zu und hob den Dwarsläufer hoch.

Sie bestaunten ihn gründlich von allen Seiten. Es war ein prachtvolles Exemplar.

„Calaloo“, sagte Mel grinsend, „jede Menge, bis zum Erbrechen. Jetzt müßte es noch ein paar Inseln mit Tomaten, Knoblauch und Zwiebeln geben, alles schön dicht beisammen. Dann könnten wir gleich abkochen. Helft mir mal, die Jolle ins Wasser zu schieben. Ich kann es kaum erwarten, bis der erste Bursche am Haken hängt.“

Ein paar der Dwarsläufer flüchteten in Sandlöcher, ins Wasser oder unter das Grün des Dickichts, als die Tritte der Männer in ihren unmittelbaren Nähen erklangen und den Boden erschütterten. Andere ließen sich überhaupt nicht stören.

Sie schoben die Jolle ins Wasser und gaben ihr einen kräftigen Stoß. Langsam driftete sie ins Meer hinaus, und Mel Ferrow spießte erwartungsvoll seinen ersten Köder auf den Haken.

Das Fischchen zappelte noch und erweckte die Neugier anderer, die größer waren und auf leichte Beute lauerten. In der Nähe der kleinen Landzunge war das Wasser tief und klar. Mel konnte weit hinuntersehen. Tief unter ihm wuchsen ein paar Korallenstöcke, dann war wieder fast weißer Grund zu erkennen, und darüber jagten verzerrte Schatten.

Gleich darauf verspürte Mel den Ruck an der Angelschnur, ein Zerren, ein weiterer Ruck. Er schlug den Haken an und gab Lose, fierte die Leine ein bißchen und hielt sie wieder fest.

Dann begann er einzuholen, und bald darauf hatte er den ersten Zackenbarsch im Boot. Er war mittelgroß, ein prächtiger Fisch, der wild herumsprang. Ein Jagdhieb mit dem Knauf des Messers, und der Zackenbarsch hörte auf zu zappeln und zu leben.

Den zweiten fing er schon ein paar Minuten später. Diesmal war es ein Exemplar, das etwa soviel wog wie ein zehnjähriger Junge.

„Calaloo!“ brüllte Mel erfreut und warf einen Blick zum Strand, wo Roger und sein Freund den Dwarsläufern nachrannten und sie einfingen.

Ein paar von ihnen verließen auch schon wieder heimlich die Körbe und eilten mit ihrem merkwürdigen Gang ins Wasser. Aber Couteau fing sie schnell wieder ein und legte die Bastmatten darüber, die mit Steinen beschwert wurden.

Der vierte Zackenbarsch, etwas später folgte der fünfte. Mel Ferrow war selig. Das ließ sich prächtig an und versprach, ein voller Erfolg zu werden. Er fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr.

Da waren der leuchtende Strand, der blaue Himmel, das herrliche klare Wasser und die laue Brise, die sanft über seinen Körper strich.

Er beschloß spontan, eine Art „Krabben-Kurierdienst“ einzurichten und öfter mal hierher zu segeln, um für den notwendigen Nachschub zu sorgen.

Der sechste Zackenbarsch zappelte am Haken. Er war reichlich klein, zappelte und tobte aber stärker als die anderen. Mel gab noch etwas Leine nach. Im selben Augenblick gab es einen harten Ruck an der Leine, durchs Wasser jagte ein Schatten, in der Tiefe brodelte es, und die Leine wurde ihm fast aus den Händen gerissen.

Neugierig starrte der Engländer ins Wasser und zuckte zusammen.

Da war wieder das Ziehen im Magen, die Verkrampfung und sekundenlang panische Angst, die jedoch schnell verging.

Am Haken hing ein Hai, kein Zweifel, und den hatte der zappelnde Barsch angelockt. Der Hai hatte sich sein Opfer geschnappt, zugebissen in seiner furchtbaren Freßgier und den Zackenbarsch samt Haken verschluckt. Jetzt hing er selbst dran.

Die Verkrampfung war vorbei. Mel konnte wieder durchatmen, doch ihm blieb keine Zeit, sich den Hai anzusehen. Das fürchterliche Monster unter dem Boot begann jetzt zu toben, um sich von dem Haken und der Schnur zu befreien. Die Schnur hielt, den eisernen Vorlauf schaffte auch der wütende Riesenfisch nicht.

Und dann zog er los, daß Mel die Schnur durch die Hände glitt. Jetzt flammte in dem Engländer der alte Haß auf die Haie wieder auf. Sein Gesicht war leidenschaftlich gerötet. Der Hai sollte nicht mehr von der Leine gehen.

Es gelang ihm gerade noch im letzten Augenblick, ein paar Törns der Angelschnur um den vorderen Poller zu legen, bevor die Leine ganz ausrauschte und mitsamt dem Hai verschwand. Dann hielt er fest und wartete ab, wie der große Fisch sich weiter verhalten würde.

Der Hai zog los und zerrte die nicht gerade leichte Jolle hinter sich her. Mel sah seinen Schatten unter Wasser, der gut und gern seine zwei Yards maß. Vielleicht erschien er unter Wasser auch größer, als er war, oder es war umgekehrt. Das war Mel jedoch egal. Er hatte das mörderische Biest am Haken und ließ es ziehen. Einmal mußte es ja seine Kräfte erschöpfen.

Roger feuerte gerade eine besonders hartnäckige Riesenkrabbe in den Korb und drehte sich um.

Zu seiner Verblüffung sah er, daß die Jolle mächtig Fahrt aufnahm, obwohl kein Segel gesetzt war. Mel stand im Boot und hielt eine Leine. Er warf keinen einzigen Blick zurück.

„Was ist denn mit dem los?“ fragte Roger verdattert. „Da ist doch gar keine Strömung, und dennoch prescht die Jolle nach Norden ab.“

Grand Couteau starrte ebenso verblüfft auf die Jolle mit dem entschwindenden Mel Ferrow. Achtlos ließ er die Krabbe in den Sand fallen, die er gerade in den Korb werfen wollte.

„Der hat was am Haken“, sagte er fassungslos.

„Die Wassermänner schieben ihn bestimmt nicht“, murmelte Roger. „Aber die Zackenbarsche können doch keine Jolle …“

Er brach schluckend ab. Fassungslos blickten sie ins Wasser vor der Jolle. Dort schien es einmal kurz zu brodeln, dann schoß der tobende Hai aus dem Wasser, drehte sich halb und klatschte in sein Element mit Wucht und Getöse zurück. Die Dreiecksflosse schnitt sofort wieder unter, als das Biest auf Tiefe ging.

„Ein Hai – mein Gott“, sagte Roger. „Der hat tatsächlich einen Hai am Haken. Ausgerechnet er, der Haie so innig liebt.“

„Warum kappt der Kerl denn nicht die Leine?“ schrie Grand Couteau. „Der will hier wohl den Helden spielen?“

Er lief weiter zum Strand hinunter, gefolgt von Roger Lutz und legte beide Hände an den Mund. Dann brüllte er aus vollen Lungen: „Die Schnur, Mel! Kapp die verdammte Schnur!“

„Ja, weg damit!“ brüllte auch Roger. „Hau sie durch, Mel!“

Couteau raufte sich fast die Haare.

„Der sture Hund hört uns nicht einmal!“ schrie er. „Der reagiert überhaupt nicht.“

„Der will nicht hören“, sagte Roger, „denn jetzt ist er in seinem Element. Das große Hai-Fieber hat ihn wohl wieder gepackt. Für den ist das eine reine Leidenschaft, fast ein Vergnügen.“

Die Jolle zog weiter nach Norden, während Mel ihnen den Rücken zuwandte und an der Leine hantierte.

„Schießen“, sagte Couteau, „vielleicht hört er den Schuß, wenn wir mit Musketen ballern.“

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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110 S. 1 Illustration
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9783954397846
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