Seewölfe - Piraten der Weltmeere 180

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 180
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-516-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Der Weg über die Insel wurde zu einer langweiligen Exkursion, denn es gab so gut wie keine Abwechslung. An der Landschaft änderte sich jedenfalls nichts, sie blieb wie sie war: eisig, unfreundlich, abweisend und trübe. Dazu paßten der verhangene Himmel, der Nebel und das eintönig graue Meer.

Alles in allem war es eine Landschaft, die keinerlei Reize bot und wo sie nicht einmal beerdigt sein wollten, wie die Seewölfe versicherten.

Dafür gab es Überraschungen, Rätsel und Geheimnisse, die sie noch nicht entschlüsselt hatten.

Bevor Hasard, der Profos und die anderen Männer nach links ins Innere der Insel abbogen, um sich zu orientieren, entdeckte Matt Davies weiter vorn am Strand eine längliche schwarzbraune Masse.

„Was kann das denn sein?“ fragte er.

Der Anblick, der hinter ihnen lag, steckte ihnen immer noch in den Knochen. Das waren die Gerippe gewesen, die um eine längst erloschene Feuerstelle im Halbkreis gehockt oder gelehnt hatten und denen das Fleisch schon teilweise von den Knochen gefallen war.

Matt Davies, der grauhaarige Mann mit der Hakenprothese, wollte darauf zueilen, doch Dan O’Flynn winkte ab.

„Das läuft dir nicht davon“, sagte er, „denn das ist ganz gewöhnlicher Seetang, nichts anderes.“

„Na, denn“, sagte Matt, aber man sah ihm an, daß er dennoch neugierig darauf war, auch wenn es sich nur um Seetang handelte.

Er ging darauf zu, und die anderen folgten ihm fast widerwillig, wie es schien, denn was gab es schon an einem Haufen Seetang groß zu sehen?

Das Zeug lag da wie Neptuns Bart, eine dicke, kompakte Rolle, aus der es nach Krebsen, Muscheln und kleinem Seegewürm stank.

Davies schob sie mit dem Fuß auseinander, stieß das Zeug fort und rollte es hin und her.

In dem Seetang befand sich etwas, und das war ziemlich hart, wie ein Stein etwa.

Er beugte sich nieder und nahm seine Hakenprothese zu Hilfe, denn jetzt war seine Neugier geweckt.

Als er wieder aufstand, hielt er ein mehr als faustgroßes, ovales Gebilde von dunkelbrauner Farbe in der Hand.

Er starrte es an, als zweifele er an seinem Verstand.

Auch der Seewolf schüttelte erst den Kopf, nahm das Ding in die Hand und reichte es weiter, nachdem er es geschüttelt hatte.

Jeder der Seewölfe kannte das Ding, unzählige Male war es durch ihre Hände gegangen, sehr oft hatten sie sich an der kühlen Milch gelabt oder das Fleisch der Frucht gegessen.

„Eine Kokosnuß“, sagte Ed Carberry andächtig. „Eine Kokosnuß in dieser eisigen Landschaft! Das ist ein Ding!“

Ja, das war ein Ding! Das stand deutlich in ihren Gesichtern zu lesen.

Carberry sah verblüfft in die Runde.

Hasard stieß den Profos mit dem Ellenbogen leicht an.

„Erwarte bitte nicht, daß in der Nähe Palmen stehen, Ed“, sagte er trocken, worauf die anderen in Gelächter ausbrachen.

„Das habe ich auch nicht erwartet“, brummte Ed, „obwohl ein Sprichwort sagt, daß der Apfel nicht weit vom Gaul fällt.“

„Der Gaul dieses Apfels ist jedenfalls sehr weit weg“, sagte Dan grinsend.

Hasard nahm die Kokosnuß wieder von Ferris Tucker entgegen, zog sein Entermesser aus dem Gürtel, legte die Nuß auf einen Stein und schlug sie oben auf.

Milchiger Saft rann an der Seite herab, ein Zeichen, daß die Kokosnuß noch nicht sehr alt sein konnte, denn sonst wäre die Milch längst verdickt oder gegoren.

Diese am Strand gefundene Kokosnuß sagte ihnen noch mehr als die Toten an der Feuerstelle oder der eiserstarrte Mann im Boot, den sie gerade begraben hatten.

Hasard reichte sie an Bill weiter.

„Trink sie aus, Junge“, sagte er.

Bill wollte teilen, doch die anderen wehrten lachend ab.

„Glaubst du Stint vielleicht, so eine Nuß reicht für eine ganze Mannschaft, was, wie? Putz das Ding endlich weg!“

„Und heb die Schale für Arwenack auf, damit er was zum Werfen hat“, sagte Dan noch.

Hasard ließ sich auf einem der zahlreichen Steine nieder und blickte über das bleigraue Wasser.

„Diese Kokosnuß stammt aus der Südsee“, sagte er, „von irgendeiner der zahlreichen Inseln. Das beweist zweierlei: Der Frische nach ist die Nuß höchstens drei Monate alt, wenn ich richtig schätze, älter ganz bestimmt nicht. Und ein Schiff hat sie an Bord gehabt, das ganz sicher nicht den gleichen Weg gesegelt ist wie wir. Folglich haben wir die Passage in den Pazifik gefunden. Es gibt sie also, daran kann gar kein Zweifel mehr herrschen. Es beweist aber auch noch etwas anderes: Hier ist ganz in der Nähe ein Schiff untergegangen, und das kann nicht sehr lange her sein. Ich nehme daher an, daß der Mann im Boot von diesem untergegangenen Schiff stammt.“

Diese Überlegung gab ihnen erst einmal eine Weile zu denken. Aber es klang einleuchtend, was der Seewolf da sagte. Ja, wenn es sich so verhielt, dann hatten sie die Passage ebenfalls gefunden. Dann hatte sich der weite Weg doch noch gelohnt.

Aber da War noch etwas, und Ferris Tucker kleidete es in Worte.

„Wie erklärst du dir das mit den anderen Toten, Sir, die um das erloschene Feuer herumsitzen? Das paßt immer noch nicht zusammen.“

„In unser Schema passen sie jedenfalls nicht“, antwortete Hasard, „und ich vermute, daß sie mit dem untergegangenen Schiff überhaupt nichts zu tun haben. Es müssen Leute von einem anderen Schiff sein, das hier vor sehr langer Zeit strandete.“

„Hier stranden aber ziemlich viel Schiffe“, sagte Ed. „Dabei haben wir bisher kaum eins getroffen.“

„Ich habe keine andere Erklärung, Ed. Ich nehme es nur an, dann paßt es nämlich besser zusammen. Wir befinden uns hier aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen einer Inselkette, doch das werden wir später genau feststellen. Ich glaube, daß noch ein paar Leute von diesem gesunkenen Schiff überlebt haben. Deshalb werden wir die Inseln absuchen, um den armen Teufeln zu helfen.“

Darin stimmten dem Seewolf alle zu. Jeder versuchte sich in die Lage der anderen zu versetzen, und das fiel gar nicht schwer. Wer hier strandete, der konnte nicht lange überleben, denn die Einöde bot nichts oder jedenfalls kaum etwas, um lange zu überleben.

Daher änderte Hasard auch seinen ursprünglichen Plan, weiter ins Landesinnere vorzudringen. Dort gab es sicher nicht viel zu sehen, aber der kalte Strand hatte einiges aufzuweisen. Hier war Treibgut angespült worden, und daraus ließen sich Rückschlüsse ziehen.

„Gehen wir noch etwa eine Meile weiter“, sagte der Seewolf. „Bis zu der Krümmung dort vorn, dann haben wir die ‚Isabella‘ immer noch im Blickfeld.“

Die „Isabella“, über die jetzt Ben Brighton das Kommando hatte, war gefechtsbereit wie immer, wenn sie fremdes Land oder offenbar unbewohnte Inseln anliefen. Diese Vorsorge des Seewolfs hatte sich immer bestens bewährt, und so manche unangenehme Überraschung war ihnen dadurch erspart geblieben.

Auf dem ranken Rahsegler war man jedenfalls wachsam und bereit, falls irgend etwas passieren sollte.

Sie gingen weiter, und etwas später stand ihnen bereits eine neue Überraschung bevor.

Ein Fäßchen wurde entdeckt, das an den Strand gespült worden war. Es lag auf dem Trockenen zwischen den Steinen.

Das war es aber nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, denn um das Fäßchen herum bewegte sich etwas, duckte sich zwischen die Steine und verharrte reglos.

„Ratten“, sagte Bill. „Mann, das sind Ratten!“

Er hob einen Stein und wollte ihn nach den beiden Ratten schleudern, aber Hasard hielt seine Hand fest.

„Laß sie“, sagte er, „die Ratten können hier nichts ausrichten, sie werden sich auch kaum vermehren, denn was sollen sie hier schon fressen?“

„Aber wie gelangen Ratten auf die Insel, Sir?“ wollte der Moses wissen.

„Die sind auch von dem Schiff, du weißt ja, daß die Biester in den extremsten Situationen überleben. Irgendwie haben sie sich an Land gerettet, auf einer Planke oder auf dem Fäßchen selbst.“

Die beiden Nager verzogen sich noch weiter, als die Männer die Stelle erreicht hatten. Eine der Ratten lief zwischen die großen Steine, die andere huschte den Strand entlang, blieb aber nach ein paar Yards sitzen und äugte frech herüber.

Hasard deutete auf das Faß. Es zeigte starke Bißspuren, und eine der Dauben war bereits bis zur Hälfte durchgenagt.

In den Mägen der Ratten mußte der Hunger wühlen, denn sie hatten versucht, an den Inhalt des Fasses zu gelangen, und das hätten sie innerhalb kürzester Zeit auch geschafft. Sie fraßen alles, was sie kriegten, sogar Holz, und verstanden es ausgezeichnet, sich an die jeweilige Umwelt anzupassen. Sie hatten keine Schwierigkeiten wie ein Mensch etwa.

 

Während Hasard das Faß hielt, schob Carberry die Klinge seines Entermessers zwischen die -oberen Dauben. Mit einem kurzen Ruck hebelte er eine kleine Daube heraus.

Der Duft, der dem Faß entströmte, nahm ihnen fast den Atem. Ein lieblicher Wohlgeruch drang in ihre Nasen, ein Geruch, den sie nicht kannten.

„Irgendein Gewürz“, sagte Ferris Tucker und rieb seine Nase. „Das wird der Kutscher bestimmt verwenden können. Himmel, riecht das köstlich. Das Zeug hätten die Ratten bestimmt nicht gefressen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, sagte Hasard. „Die fressen auch Gewürze, wenn sie nichts anderes haben.“

Der Inhalt bestand aus braunen, knospenartigen Dingern, länglichen Blüten ähnlich, die man getrocknet hatte. Aber keiner der Seewölfe hatte dieses Gewürz jemals gesehen.

Nachdem jeder daran geschnuppert hatte und in Begeisterungsrufe über den herrlichen Duft ausbrach, verschloß Ferris Tucker das kleine Faß wieder, indem er die Daube einsetzte und festklopfte. Dann klemmte er es sich unter den Arm.

„Auf den Gewürzinseln wächst ähnliches Zeug“, erklärte der Seewolf. „Ich bin sicher, daß auch dieses Fäßchen von dem untergegangenen Schiff stammt und nicht von einem anderen, denn der Inhalt ist knochentrocken und nicht beschädigt. Das beweist uns immer wieder, daß das Unglück noch nicht lange her sein kann.“

Die eine Ratte wich vor ihnen zurück, als sie weitergingen, die andere hatte sich zwischen den Steinen im groben Sand bereits einen Gang gewühlt und war verschwunden.

Der weitere Weg brachte keine Überraschungen mehr. Es wurde nichts mehr gefunden.

Ab und zu bewegten sie sich am Wasser durch dichte Nebelschwaden. Mitunter war der Nebel so dick, daß einer den anderen nicht sah.

Bis sie die Krümmung erreichten, verging eine halbe Stunde. Immer noch hatten sie außer den beiden Ratten kein einziges Tier gesichtet. Nicht eine Möwe ließ sich blicken, und nur einmal sahen sie einen Fisch aus dem Wasser springen.

An der Krümmung blieben sie stehen. Der Strand lief hinter dem Bogen endlos lange weiter, und er sah genauso trostlos aus wie dieses Stück, das sie hinter sich gebracht hatten.

Ob dies eine weitere Bucht war, oder ob es weiter hinten noch eine schmale Durchfahrt gab, war von hier aus nicht zu erkennen. Felsen nahmen ihnen die Sicht, die sich mitunter weit ins Meer schoben.

Darin, daß sie noch nie eine einsamere und trostlosere Insel gesehen hatten, waren sich alle einig.

Der Seewolf ging nicht denselben Weg zurück. Sie wählten einen Umweg über eine kurze Strecke ins Inselinnere, und von hier ab wurde der Weg beschwerlicher.

Es gab keinen Pfad, nur immer wieder Steine, manche von Eis dick überzogen, andere wie glatt geschmirgelt. Der Berg, der weit vor ihnen aufragte, lag immer noch in dichtem Nebel.

„Hier muß es doch auch mal einen Tag geben, an dem die Sonne nur ein klein wenig scheint“, schimpfte Carberry.

„Vielleicht einen im Jahr“, erwiderte Ferris Tucker, „aber den haben wir nicht erwischt. Nein, hier möchte ich wirklich nicht begraben sein“, setzte er kopfschüttelnd hinzu.

Die „Isabella“ hatten sie immer noch im Blickfeld, sobald die Felsen niedriger waren oder von größeren Steinfeldern unterbrochen wurden. An Bord war alles ruhig, und nur Dan konnte mit seinen scharfen Augen sehen, wenn sich jemand auf dem Deck bewegte. Er sah die hochgezogenen Stückpforten und wußte, daß sich die „Isabella“ schlagartig in eine schwimmende Festung verwandeln konnte, aber wer sollte sie hier schon angreifen?

In einem großen Bogen kehrten sie wieder zurück. Die Feuerstelle mit den Toten hatten sie diesmal umgangen, denn der Anblick erinnerte nur an Tod, Nebel, Einsamkeit und Trostlosigkeit.

Schließlich standen sie an dem Beiboot.

Der Seewolf zuckte mit den Schultern.

„Wo und unter welchen Umständen das Schiff untergegangen ist, wissen wir immer noch nicht. Also werden wir uns die andere Richtung vornehmen, diesmal mit dem Boot. Es muß hier irgendwo Klippen geben, auf die das Schiff aufgelaufen ist. Segeln wir also in die andere Richtung.“

„Wir werden es schon finden“, sagte Dan zuversichtlich. Als er ins Boot steigen wollte, erklang von der „Isabella“ her ein scharfer, durchdringender Pfiff.

Steif wie Marionetten verharrten sie und blickten hinüber.

Ben Brighton stand auf dem Achterkastell und winkte. Dann legte er die Hände trichterförmig an den Mund und schrie: „Dort vorn qualmt etwas! Sieht nach Rauchzeichen aus!“

Aus ihrer Position konnten sie es nicht sehen, aber Ben hatte von der „Isabella“ einen besseren Ausblick.

„Zurück an Bord!“ befahl Hasard.

„Hoffentlich hat Ben sich nicht durch den Nebel täuschen lassen“, sagte Dan. „Der sieht in der Ferne mitunter tatsächlich wie Rauch oder Qualm aus. Da kann man sich leicht irren.“

Als sie über die Jakobsleiter aufenterten, ließ Hasard sich das Spektiv geben, während die anderen ihren Kameraden zeigten, was sie am Strand gefunden hatten.

Hasard blickte in die von Ben angegebene Richtung. Im Spektiv sah er Berge, darunter einen von ganz beachtlicher Höhe, aber dessen Gipfel trug noch immer das dichte Nebelkleid, so daß sich keine Einzelheiten erkennen ließen.

Auch Dan O’Flynn trat hinzu und blickte in die Richtung.

„Das ist Nebel, Ben“, sagte er.

„Das ist kein Nebel“, verteidigte Ben Brighton seinen Standpunkt. „Jetzt ist es nicht mehr so deutlich zu sehen, aber vorhin stieg eine etwas dunklere Rauchwolke in den Himmel. Sieh mal etwas weiter nach links, dort brodelt es immer noch, aber die Abstände werden jetzt viel kürzer.“

„Das könnte Rauch sein“, sagte Hasard nach einer Weile und setzte den Kieker ab.

Um den Berg herum quirlte und brodelte es. Nebel stieg in langen Fahnen hoch, bildete dort eine Wolke, die wieder nach allen Richtungen auseinandertrieb und sich verflüchtigte, während weiterer Nebel vom Boden nachstieg und das Schauspiel wiederholte.

„Vorhin war es viel dunkler, und Nebel hat diese Farbe nicht“, sagte Ben. „Glaube mir, ich habe mich nicht geirrt. Ich weiß, von was ich spreche.“

„Ja, das stimmt“, sagte Dan. „Wenn man genau hinsieht, erkennt man noch die etwas dunklere Schicht über der Nebelwolke. Ben hat sich nicht geirrt.“

Hasard überlegte, daß sich wohl kein Schiffbrüchiger bis oben in die Berge begeben würde, denn da wehte der Wind noch kälter, da war es viel eisiger als hier zwischen den Steinen am Strand oder den Felsen etwas weiter im Landesinnern. Andererseits, wenn jemand die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, dann erklomm er wohl doch den höchsten Punkt, denn von da oben waren Feuer oder Rauchzeichen doch wesentlich weiter zu sehen.

„Wie hoch schätzt du den Berg, Ben?“ fragte Hasard.

„Gut zweitausend Yards, soweit man bis zum Gipfel sieht“, erwiderte Ben. „Das scheint ebenfalls ein erloschener Vulkanberg zu sein wie der andere, den wir vorhin schon sahen.“

„Gut, wir segeln hin und sehen nach. Gefechtsbereitschaft bleibt bestehen. Hoch mit dem Anker! Das Boot ziehen wir hinter uns her.“

Das Vorhaben, die Insel auf der anderen Seite zu erkunden, wurde damit aufgegeben. Außer angelandetem Treibholz würde sich da ohnehin kaum etwas finden.

Die Entfernung mochte etwa fünf Meilen betragen, mehr waren es ganz sicher nicht.

Der Profos ließ den Anker hieven und scheuchte die anderen Männer an Falle, Brassen und Schoten.

Dann segelte die „Isabella“ weiter, jener Stelle entgegen, von der die geheimnisvollen Rauchzeichen stammten.

2.

Jede Nacht waren die Nordmänner erschienen, um die kleine Gruppe um Visser und Vermeulen auszulöschen.

Zum größten Teil war ihnen das auch gelungen, aber bei den Nordmännern hatte es bereits sieben Tote gegeben.

Die Holländer hatten sich wie rasende Teufel zur Wehr gesetzt.

Das Boot hatten sie nicht mehr, damit waren wahrscheinlich de Jong und te Poel verschwunden, wie sie vermuteten. Also konnten sie die Insel auch nicht verlassen.

Am vorletzten Tag waren sie nur noch zu dritt gewesen. Vermeulen, Visser und der schwerverletzte Breukel. Die anderen waren tot, erschlagen oder erstochen.

In dieser Nacht starb ihnen auch Breukel unter den Händen. Sie konnten ihm nicht mehr helfen, sie konnten nicht einmal seine Schmerzen lindern. Sie hatten nichts mehr, außer dem bißchen Zeug, das sie auf dem Leib trugen, ein paar nasse Dekken und etwas Proviant.

Trinkwasser spendete ihnen der Himmel, wenn es schneite oder regnete. Außerdem konnte man das Eis von den Steinen und Felsen brechen und vorsichtig lutschen. Das hatten sie längst herausgefunden.

Nun hockten sie in der primitiven Hütte, die sie aus zusammengetragenen Steinen erbaut hatten, und starrten mit ausdruckslosen Gesichtern auf ihren toten Kameraden.

Vermeulen hob kleine Steine vom Boden auf, warf sie in die Höhe und fing sie wieder auf. Das tat er seit mehr als einer Stunde. Ab und zu blickte er nach oben, wo das zerfetzte Segelleinen, das ihnen als Dach diente, im Wind flatterte.

„Wir können hier nicht länger bleiben, Cap“, sagte Visser. „Die Kerle tauchen heute nacht bestimmt wieder auf, und dann erwischen sie auch uns. Es ist ein Wunder, daß wir überhaupt noch leben. Die Kälte, die Nässe, wir müßten längst tot sein.“

„Ja“, murmelte der Kapitän. „Wir müßten nach menschlichem Ermessen längst tot sein, erfroren nämlich oder eingegangen an einer Lungenentzündung, aber wir sind es nicht. Wenn uns das Land nicht holt, dann holen uns diese hinterhältigen Teufel. Wie aber willst du von hier weg? Schwimmen?“ fragte der Cap höhnisch.

„Wir waren noch nicht auf der anderen Seite, Cap. Je weiter der Weg für diese Kerle ist, desto eher werden sie es aufgeben. Ich habe keine Lust, mich einfach abschlachten zu lassen.“

„Warum trachten sie uns überhaupt nach dem Leben?“ fragte Vermeulen. „Sie haben doch nichts davon und wissen ganz, genau, daß wir früher oder später von allein krepieren.“

„Vielleicht belastet es ihr Gewissen, wenn wir noch leben.“

„Gewissen? Die haben doch kein Gewissen, diese Schlächter.“

Vermeulen erhob sich aus seiner kauernden Stellung und stand auf. Er reckte seine übermüdeten, halberfrorenen und mitunter gefühllos gewordenen Glieder. Wenn diese entsetzliche Kälte nur nicht wäre, dachte er. Alles andere ließ sich ja noch ertragen, aber die Kälte würde sie bald schaffen, noch schneller als der Hunger.

Er trat hinaus und blickte zu der Nachbarinsel hinüber, wo die Nordmänner hausten. Aber dort war niemand zu sehen, die Kerle hockten in ihren Höhlen, fraßen ihren Proviant auf und wärmten sich.

Ihre Toten lagen immer noch herum, niemand hatte sie mitgenommen, als der zweite oder dritte Angriff erfolgt war.

Visser war seinem Gefährten gefolgt. Er hatte sich eine Decke um den Körper gewickelt und eine andere über den Kopf gehängt. Die beiden Männer sahen wie Gespenster aus.

Meist redeten sie vom Essen oder von einem warmen Plätzchen, wo man sich ausziehen und trocknen konnte. Aber alle diese Gespräche führten zu nichts, sie waren bloßes Wunschdenken.

Heute nacht, dachte er, gleich bei Anbruch der Dunkelheit, da würden diese lausigen, hohlwangigen Kerle wieder lautlos erscheinen, um sie auch noch umzubringen.

Nein, sie konnten wegen der Kälte ohnehin kaum schlafen, und doch waren sie übermüdet und kaputt. Die Nordmänner würden diesmal leichtes Spiel mit ihnen haben.

Sie mußten hier weg, ans andere Ende der Insel, wo sie noch nicht gewesen waren.

„Wenn wir uns im Schutz der Hütte davonschleichen“, sagte der Cap, „dann sehen sie es nicht. Brechen wir gleich auf. Die restlichen Decken wickeln wir uns um den Körper. Das bißchen Zeug, was wir noch haben, das tragen wir leicht.“

Visser nickte. „Und Breukel?“ fragte er, auf die Hütte deutend, in der der Tote lag.

„Er ist tot. Wir lassen ihn da liegen. Verdammt, ich habe nicht mehr die Kraft, noch ein Grab zu schaufeln. Die Hütte wird sein Grab sein, ich kann nichts weiter für ihn tun.“

Sie waren abgestumpft und zum Teil auch gleichgültig geworden. Es hatte Tage gegeben, da waren sie auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt und sprachen von Selbstmord.

Aber dann, als einer nach dem anderen starb, reichte der Proviant etwas länger, und immer wieder hatten sie es hinausgeschoben, gezögert und gewartet, weil ein kleiner Funke Hoffnung sie aufrechterhielt.

 

Ihr Entschluß war jetzt gefaßt. Den Nordmännern wollten sie nichts überlassen, kein Stückchen Holz, keinen Fetzen Tuch, und so nahmen sie auch die zerrissene Plane vor dem Eingang und die andere mit, die die Hütte oben abdeckte.

Etwas später zogen sie los, zwei Elendsgestalten, die sich nur mühsam und schwerfällig fortbewegten und gebeugt dahinschlichen, als hätten sie längst den Tod in den Knochen.

Sie nahmen die Richtung, die sie schon einmal gegangen waren. Nur gab es noch ein kleines Stück, das sie nicht erkundet hatten.

Immer wieder drehten sie sich und blickten zu den Höhlen der Nordmänner. Alles blieb unheimlich still, keiner der Kerle steckte auch nur seinen Schädel ins Freie.

Sie erreichten die Felsengruppe und blieben stehen. Eiskalter Wind blies ihnen in die Gesichter. Sie zogen die klammen Decken fester um ihre Körper.

Visser setzte das kleine Bündel Holz, das sie noch hatten, auf den Boden und zog ein gequältes Gesicht.

Dann stieg er vorsichtig in die Felsgruppe auf, um einen Blick zur anderen Seite zu werfen. Als er etwa zwanzig Yards geschafft hatte, mußte er die Augen zusammenkneifen, denn der scharfe Wind brachte winzige Eiskristalle mit sich, die sein Gesicht taub werden ließen und ihm schmerzhaft in die Haut schnitten.

Er sah sich um, lange und bedächtig. Von hier aus dehnte sich ein schmaler Küstenstreifen in endlose Länge. Wie ein riesiger Zapfen sah die Insel aus, und ganz hinten, wo Nebel und Land verschmolzen, erkannte er eine schmale Furt wie eine Sandbank, die diese Insel mit einem großen Felsenmeer verband. Dahinter erhob sich vage ein riesiger, nebelverhangener Berg.

Das Gebiet war zerklüftet, und Visser hatte den Eindruck, als gäbe es dort natürlich gewachsene Höhlen in den Felsen.

Wenn sie da hinüberwollten, würden sie bei Ebbe nicht einmal nasse Füße kriegen, dachte er erleichtert.

Er stieg wieder nach unten und erzählte Vermeulen, was er entdeckt hatte. Der Cap grinste plötzlich.

„Da sind wir in Sicherheit“, sagte er. „Dann ist die Insel also durch eine Sandbank mit einer anderen verbunden. Ist sie sehr groß?“

„Läßt sich schwer abschätzen, Cap. Aber ich glaube schon. Wenn du den Hals reckst, siehst du den Berg. Er sieht aus wie ein Götterthron. Da gibt es Spalten und Verstecke.“

„Nur werden sie uns nicht mehr viel nützen“, sagte Vermeulen niedergeschlagen.

„Warum nicht?“

„Weil wir nicht mehr viel zu fressen haben. Darum! Und das bißchen Holz – na ja, wir gehen erst einmal weiter.“

Zwischen den Felsen, wo der Wind sich fing und nicht mehr so scharf blies, ruhten sie noch einmal aus, um Kräfte für den verhältnismäßig weiten Weg zu sammeln.

Unter normalen Umständen wäre das für sie ein Spaziergang gewesen, aber seit langem schon herrschten keine normalen Verhältnisse mehr. Jede Meile, die sie hinter sich brachten, bedeutete Qual und Erschöpfung und kostete Kraftreserven, die sie nicht mehr hatten.

Der Berg wuchs vor ihnen in die Höhe und wurde immer größer. Kein Zweifel, daß dieser Berg vor Jahrtausenden mal ein feuerspeiender Vulkan gewesen war. Seine Form ließ es erkennen, und der schneebedeckte Kraterrand verkündete es weithin.

„Wenn wir dort hinaufsteigen“, sagte der Cap, „dann haben wir einen Überblick über die ganzen Inseln oder über den größten Teil des Landstrichs. Außerdem sind wir da oben unangreifbar. Jedem, der sich uns nähert, können wir tonnenweise Steine auf den Kopf werfen.“

„Bloß wird es da verteufelt kalt sein, Cap!“

„Vielleicht finden wir eine kleine Höhle, die wir mit den Decken auskleiden können. So was wie ein Schlupfloch.“

„Hoffen wir es.“

„Dort vorn können wir hinüber“, sagte Vermeulen. Vor ihnen dehnte sich nun die fast trockene Sandbank. Alle beide erkannten, daß es da Wasserlöcher gab wie in der Heimat auf dem Watt.

Die Sandbank war steinig, der Untergrund sehr fest. Die Steine drückten sich nicht in den Sand ein.

Ein schmales Rinnsal floß dicht vor ihnen träge dahin und sammelte sich in einem größeren Wasserloch. Es war nicht tiefer als ein Yard.

Vermeulen wollte gerade daran vorbeigehen, als er eine schnelle Bewegung sah. Er blieb stehen und blickte auf den steinigen Grund hinunter.

„Sieh dir das an!“ schrie er verzückt und begann sich auf die Schenkel zu schlagen. „Sieh dir das an!“ wiederholte er.

Visser trat hinzu, und über sein Fuchsgesicht glitt ebenfalls ein Grinsen, als er den silbrigen Schatten sah.

„Ein Fisch“, sagte er andächtig. „Ein richtiger, gottverdammter Fisch. Ich habe schon ewig keinen mehr gesehen.“

„Und gegessen erst recht nicht“, sagte Vermeulen. „Den Freund, den holen wir da raus, und wenn ich das ganze Wasserloch leersaufen muß. Aber den kriegen wir. Wie nur?“ fragte er gleich darauf.

Große Lust, in das eisige Wasser zu steigen, hatte keiner von beiden. Die eiskalte Brühe ließ die Knochen absterben, und die Klamotten trockneten nie mehr so richtig.

Mit den Händen reichten sie auch nicht auf den Grund, da fehlte ein kleines Stück.

Aber diesen Fisch mußten sie haben, und wenn sie ihn auf der Stelle roh aßen, denn jetzt begannen ihre Mägen ernsthaft zu rebellieren. Dieses Hungergefühl hatte wahrscheinlich der Fisch ausgelöst. Er wog ganz sicher drei Pfund, wenn nicht noch etwas mehr. Jetzt verharrte er am Grund und rührte sich nicht.

„Wir fangen ihn mit der Plane, die wird gerade über das Loch von zwei Seiten reichen“, sagte Vermeulen.

In die ausgefranste Plane stieß er mit dem Messer noch ein paar kleine Löcher hinein, dann hielt er sie fest, Visser nahm das andere Ende und ging um das Wasserloch herum. Die Plane beschwerten sie mit ein paar kleinen Steinen, damit sie besser auf den Grund sank.

Als sie den Grund erreichte, stob der Fisch davon, flitzte von einer Wand zur anderen, stieg höher, ging wieder auf Tiefe und narrte sie lange Zeit.

Einmal stand er über der Plane, aber als sie die ruckartig anhoben, flitzte er dicht unter der Wasseroberfläche wieder auf den Grund.

Vermeulen begann laut zu fluchen. Weder er noch Visser merkten, daß sie bereits bis an die Knöchel im Wasser standen. Diesmal spürten sie die Kälte vor lauter Jagdeifer nicht.

„Wenn er wieder über der Plane steht“, sagte Vermeulen grimmig, „dann gebe ich dir ein Zeichen mit den Augen, und wir ziehen die Plane mit einem Ruck stramm. Mit aller Kraft.“

Vorsichtig jonglierten sie den Leinenfetzen so, daß der Fisch darüberschwamm. Dann traten sie einen Schritt zurück und sahen, daß ihre Beute genau auf der Plane schwebte und langsam höher stieg, um der Berührung auszuweichen.

Vermeulen gab Visser das Zeichen, und beide Männer zogen mit einem gewaltigen Ruck die Plane stramm.

Der Fisch sauste aus dem Wasser, sprang in die Höhe und landete hinter Vermeulen im Sand. Dort blieb er liegen, zappelte und versuchte, sich zum Wasser zu schlängeln.

Vermeulen stürzte sich in wilder Gier darauf, packte ihn und schlug ihm den Messergriff an den Kopf.

„Wir haben ihn!“ brüllte er laut.

Visser wollte gerade in das Freudengeschrei miteinstimmen, als er sah, daß die Sandbank längst keine Sandbank mehr war, sondern Wasser sie von allen Seiten bedeckte.

„Schnell, Cap!“ rief er angstvoll. „Los, zur anderen Seite ’rüber, das können wir gerade noch schaffen.“

Vermeulen fluchte, wickelte den Fisch in die Decke und zerrte die Plane zu einem Strick zusammen.

Jetzt, nachdem sie den Fisch hatten, spürten sie auch wieder die eisige Kälte, und sie begannen zu rennen, so schnell oder so langsam, wie ihre Kondition das zuließ.

Das Wasser stieg nur sehr langsam, aber es war auch noch ein ganzes Stück, das sie vor sich hatten. Dabei saß ihnen die Angst im Nacken, die andere Seite nicht mehr rechtzeitig zu erreichen.

Als sie es schließlich doch geschafft hatten, stand ihnen das eiskalte Wasser schon fast bis zu den Knien.

Beide zogen ihre Stiefel aus, rieben sich die erstarrten Knochen mit der Decke trocken und zogen die Sachen wieder an, nachdem sie die Hosenbeine ausgewrungen hatten.

Kalt und eklig fühlten sich die Hosen an, und wieder schnatterten beide Männer vor Kälte.

„Verdammt“, sagte Visser, „den Fisch haben wir, aber jetzt ist das Holz wieder naß geworden. Bis das trocknet, sind wir längst vergammelt.“

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