Herrn Dames Aufzeichnungen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2

8. DEZEMBER

Heute wollte ich nicht ins Café, aber ich ging doch hin und fand wieder eine ungünstige Konstellation vor; der Philosoph saß mit der lebhaften älteren Dame von neulich zusammen. Ich mochte nicht aufdringlich erscheinen, so setzte ich mich an den Nebentisch, den einzigen, der noch frei war, und las Zeitungen. Sie sprachen aber so laut, besonders die Dame, daß ich nicht umhinkonnte, zuzuhören, und hinter der Zeitung mein Notizbuch vornahm, denn es schien mir wieder sehr bemerkenswert, was sie da redeten. Die Dame erzählte von einem Professor Hofmann, dessen Name neulich schon verschiedentlich erwähnt wurde – er habe ihr gesagt, sie sähe ausgesprochen ›kappadozisch‹ aus.

Kappadozien kommt, soviel ich weiß, in der Bibel vor, aber ich begriff nicht recht, wieso jemand ›kappadozisch‹ aussehen kann, und warum sie das mit solcher Wärme erzählte. Woher will man denn wissen, wie die Kappadozier ausgesehen haben? Der Philosoph lächelte auch.

Nun kam einiges, was ich nicht recht verstand, und dann das, was ich mir notiert habe.

»Nein, es sollten die Posaunen von Jericho sein – hören Sie nur: sie waren alle bei mir auf dem Atelier …«

»War er auch dabei?« fragte der Philosoph, und die Dame warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Aber ich bitte Sie, wenn Sie spotten wollen …«

»Nein, nein, ich dachte nur – aber bitte, fahren Sie fort.«

»Also der Professor, seine Frau und einige von den jungen Dichtern. Einer von ihnen ging gleich an meinen Flügel, betrachtete ihn von allen Seiten und sagte irgend etwas. Dann fragte die Frau Professor ihren Mann: ›Wollen wir es jetzt sagen?‹, und er nickte. Dieses Nicken sehe ich noch deutlich vor mir, aber ich kann es nicht beschreiben, es lag etwas ganz Besonderes darin. Dann war plötzlich ein Paket da, es wurde ausgewickelt, und ein Kästchen mit einem Schlauch daran kam zum Vorschein – es sah etwa aus wie ein photographischer Apparat. Und Frau Hofmann sagte lebhaft, dieses Kästchen habe ein Freund ihres Mannes aus dem Orient mitgebracht, es gäbe auf der ganzen Welt nur noch ein ebensolches, und das gehöre dem Oberrabbi von Damaskus. Wenn man es an ein Klavier anschraube, innerlich erhitze und dann hineinbliese, so gäbe es genau denselben Ton wie die Posaunen von Jericho.«

»Hatten Sie nicht Angst, daß auch bei Ihnen die Mauern einfallen könnten?« fragte der Philosoph.

»Nein, von den Mauern war gar nicht die Rede – ich weiß nur, daß ich dann nach Spiritus suchte, um das Kästchen zu füllen, und ihn nicht finden konnte, aber mit einemmal war er doch da, und das Kästchen war auch schon am Klavier angebracht. Der Professor blies in den Schlauch, und es gab einen dumpfen Ton – aber dann muß der Spiritus ausgelaufen sein, und plötzlich stand alles in Flammen. Niemand kümmerte sich darum, und ich dachte an meinen Perserteppich, der unter dem Flügel liegt. Sie wissen ja, ich bin etwas eigen mit meinen Sachen. Aber der Professor sagte, es sei gar kein Perser, es sei ein ›Beludschistan‹, und er habe keine Beziehung zum Wesen der Dinge – ist das nicht merkwürdig? Ja, und nun kam noch etwas ganz Triviales, ich meinte, der Flügel würde sicher auch anbrennen, und in diesem Moment stand der Professor in seiner ganzen Größe vor mir und sagte: ›Wenn Fräulein H … mir ihren Verlust genau beziffert, soll alles ersetzt werden.‹«

»Und dann?« fragte der Philosoph.

»Das weiß ich selbst nicht mehr, es war ganz verschwommen. Aber sagen Sie selbst, liebster Doktor, ist es nicht wirklich seltsam? Meinen Sie nicht, daß es kosmische Bedeutung hat?«

Damit brach das Gespräch ab, denn Gerhard kam, und die Dame ging bald darauf fort. Ich setzte mich zu ihnen und fragte Sendt, was denn das für eine rätselhafte Geschichte sei, ich hätte leider nicht vermeiden können, sie mitanzuhören. Und jetzt zweifelte ich nicht mehr daran, daß man hierzulande Zauberei treibt.

»Haben Sie denn nicht gemerkt, daß die Dame mir einen Traum erzählte?«

»Nein – darauf bin ich gar nicht gekommen.«

»Lieber Dame«, sagte Gerhard, und es klang beinah wehmütig – er hat überhaupt immer etwas Schmerzliches im Ton – »Sie machen Fortschritte. Schon können Sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Das geht uns allen hier wohl manchmal so – nicht wahr, cher philosophe?«

»Traum oder nicht Traum«, antwortete der Philosoph nervös, »was sie mir da auftischte, war wieder einmal eine Wahnmochingerei, wie sie im Buch steht.«

»Wahnmochingerei – was ist das?«

»Nun, was Sie da eben mitangehört haben.«

Doktor Gerhard wollte wissen, was für ein Traum es gewesen sei.

»Natürlich ein kosmischer«, sagte der Philosoph, »sie hoffte es wenigstens und wollte von mir wissen, ob es stimmt. Sonst traut sie sich nicht, ihn bei Hofmanns zu erzählen.«

Ich hätte gerne noch gewußt, was eine ›Wahnmochingerei‹ ist und ›kosmische Träume‹. Aber der Philosoph schien mir nicht gut aufgelegt, und ich kann doch nicht immer fragen und fragen wie ein vierjähriges Kind.

3

14. DEZEMBER

Ein komischer Zufall, daß ich Heinz Kellermann hier treffe. Wir haben uns seit dem Gymnasium nicht mehr gesehen. Er behauptet zwar, es gebe nichts Zufälliges, sondern was wir Zufall nennen und als solchen empfinden, sei gerade das Gegenteil davon, nämlich ein durch innere Notwendigkeit bedingtes Geschehen. Man sei nur im allgemeinen zu blind, um diese inneren Notwendigkeiten zu sehen.

Trotzdem schien er ebenso verwundert wie ich und fragte mit der gedehnten und erstaunten Betonung, die ich so gut an ihm kannte:

»Wie kommst du denn hierher?«

Ich konnte diese Frage nur zurückgeben, und dann sagte er etwas überlegen: Oh, man könne nur hier leben, und hier lerne man wirklich verstehen, was Leben überhaupt bedeute. Ich habe ihm erzählt, daß das auch mein sehnlichster Wunsch sei, und wie ich mich mit meiner Biographie herumquäle – na Gott ja – daß ich eben ein Verurteilter bin und nicht recht weiß, was ich mit mir und dem Leben anfangen soll.

Daraufhin ist er gleich viel wärmer geworden und lud mich für den Abend in seine Wohnung ein – es kämen noch einige Freunde von ihm, auf die er mich sehr neugierig machte.

Ich ging hin, und es war auch wirklich der Mühe wert. Aber ich werde jetzt wieder ein paar Tage daheim bleiben und mich sammeln. Es sind zu viel neue und verwirrende Eindrücke von allen Seiten. Wohin ich komme und wen ich kennenlerne – alles ist so seltsam, wie in einer ganz anderen Welt, und ich tappe noch so unsicher darin herum. – Ob das nun Zufall ist oder innere Notwendigkeit, daß ich hierher kam und gerade diese Menschen kennenlernte? Aber es lockt mich, ich kann dem allen nicht mehr entfliehen – ich bin wohl dazu verurteilt, und der Gedanke gibt mir meine innere Ruhe etwas wieder.

Doktor Gerhard rät mir ja immer wieder, ich solle etwas schreiben – jeder Mensch habe einiges zu sagen und müsse, was er erlebt, in irgendeiner Form nach außen hin gestalten. Wenn es auch nur wäre, um meinem Stiefvater Vergnügen zu machen, er hat ja schon immer gemeint, ich hätte ein gewisses Talent dazu. – Und er ist gewiß aufrichtig, denn er hält sonst nicht übermäßig viel von meiner Begabung.

Ich weiß nicht recht – einstweilen mache ich mir Aufzeichnungen und Notizen, besonders wenn ich mit dem Philosophen zusammen bin.

Da war der Abend mit Heinz Kellermann und seinen Freunden. Der eine mit dem scharfen Gesicht sah fast wie ein Indianer aus. Als ich das sagte, wurde Heinz ganz ärgerlich und behauptete, er sei doch blond, dunkelblond wenigstens und ein absolut germanischer Typus. Es gab eine förmliche Diskussion darüber, aus der ich entnahm, daß sie die blonden Menschen mehr ästimieren als die dunklen, und daß das irgendeine besondere Bedeutung hat.

Es war auch ein junges Mädchen dabei – eine Malerin – das übrigens ausgesprochen schwarzes Haar hatte; aber ich wagte keine Bemerkung darüber, denn mir schien, daß sie der Unterhaltung etwas deprimiert zuhörte, und ich muß gestehen, ich freute mich zum erstenmal darüber, daß ich blond bin.

Im ganzen hatte ich aber wieder das Gefühl, nicht recht mitzukönnen. Ich weiß nicht, ob man diese Ausdrucksweise eigentlich ›geschraubt‹ nennen kann, aber sie kommt einem manchmal so vor, und man muß sich erst daran gewöhnen.

Was meinen sie zum Beispiel damit: man müsse einen Menschen erst ›erleben‹, um ihn zu verstehen?

Heinz machte manchmal ganz treffende Bemerkungen – das kann er überhaupt sehr gut – und dann hieß es:

»Heinz, Sie sind enorm.«

Nach dem Tee setzte man sich auf den Boden, das heißt auf Teppiche und Kissen. Heinz machte die Lampe aus und zündete in einer Kupferschale Spiritus an – warum auch nicht – es gab eine schöne blaugrünliche Flamme. Aber dann stand die Malerin auf und hielt ihre Hände darüber, man sah nur die schwarze Gestalt und die Hände über der Spiritusflamme, die in dieser Beleuchtung ganz grünlich aussahen.

Und nun waren alle ganz begeistert und sagten wieder, das sei ›enorm‹. Um auch irgend etwas zu sagen und mich gegen das junge Mädchen höflich zu zeigen, meinte ich, dieses offene Feuer in der Schale habe etwas von einem alt-heidnischen Brauch. Das war nur so hingesagt, weil mir nichts anderes einfiel, aber sie sahen sich bedeutungsvoll an, als ob ich einen großen Ausspruch getan hätte, und Heinz sagte zu dem Indianer: »Sehen Sie – und er weiß gar nicht, was er damit gesagt hat.« – »Das ist es ja gerade«, antwortete der, »er muß das Heidnische ganz unbewußt erlebt haben.«

Ich wollte fragen, was er meinte, da klingelte es, und dann kam der Professor Hofmann – der mit dem Kreis – der aus dem Traum – ich dachte mir gleich, daß er es wäre. Er war ungemein gesprächig und liebenswürdig, bewunderte das Feuer in der Schale und nannte es fabelhaft, ebenso die grünlichen Hände der Malerin und sagte, es sei ganz unglaublich schön, wie sie dastände. – Ich mußte dabei an die Geschichte neulich im Café denken – die ›Wahnmochingerei‹, wie der Philosoph es nannte.

 

Dann ging die Flamme aus, und die Lampe wurde wieder angezündet. Da niemand an Vorstellen zu denken schien, tat ich es selbst. Der Professor sah mich plötzlich verwirrt und ganz entgeistert an, ich dachte, er hätte mich nicht verstanden, wiederholte meinen Namen und setzte hinzu:

»Ich heiße nämlich Dame.«

Er schüttelte mir nun mit großer Lebhaftigkeit die Hand und sagte, es freue ihn unendlich, mich kennenzulernen.

Dann unterhielt man sich über dieses und jenes. Der Professor ging dabei mit etwas stürmischen Schritten auf und ab, nahm jeden Augenblick einen Gegenstand in die Hand, betrachtete ihn ganz genau und stellte ihn wieder hin. Im Laufe des Gespräches fragte er mich, ob ich auch in ›Wahnmoching‹ wohnte. Ich fragte wieso und hielt es für einen Witz – »ich wohne in der K … straße«. Darüber brachen sie alle in Gelächter aus und fanden es enorm, daß ich nicht wüßte, was ›Wahnmoching‹ sei.

Man erklärte mir, daß der ganze Stadtteil von dem großen Tor an so heiße. Wie sollte ich das wissen, ich habe mich gar nicht darum gekümmert, wie der Stadtteil heißt, in dem ich wohne. In Berlin weiß man es, aber hier doch nicht. Ich begriff wirklich nicht, was daran ›enorm‹ sein sollte. Ja, sagten sie, das sei es ja eben – ich wäre in allem so unbewußt.

Sonst bin ich wirklich ein geduldiger Mensch, aber ich hatte allmählich den Eindruck, als ob man mich mystifizieren wollte, und sagte, den Ausdruck ›Wahnmochingerei‹ hätte ich schon gehört. Der Professor wurde stutzig und fragte, von wem denn?

»Von Doktor Sendt, dem Philosophen.«

»Ah – Sie kennen Doktor Sendt?« es klang beinah, als ob ihn das verstimmte. Aber dann wurde er wieder sehr herzlich und lud mich ein, ihn zu besuchen und zu seinem Jour zu kommen.

DEN 18. …

Nachts um ein Uhr den Philosophen auf der Straße getroffen – wir gehen noch lange auf und ab, ich erzähle ihm von dem Abend bei Heinz und bitte um einige Aufklärungen.

Warum es ›enorm‹ ist, wenn man Spiritus in Kupferschalen verbrennt und jemand die Hände darüberhält – ich kann immer noch nicht vergessen, wie grünlich das ganze Mädchen aussah – warum geraten sie darüber in solches Entzücken? oder wenn man von einem heidnischen Brauch spricht?

»Junger Mann«, sagt Sendt, »enorm ist einfach ein Superlativ, der Superlativ aller Superlative. Sie werden überhaupt mit der Zeit bemerken, daß man unter echten Wahnmochingern einen ganz besonderen Jargon redet, und Sie müssen lernen, diesen Jargon zu beherrschen, sonst kommen Sie nicht mit. Man sagt beispielsweise nicht ein Ding, eine Sache, eine Frau sei schön, reizend, anmutig – sondern sie ist fabelhaft, unglaublich – enorm. Das heißt – enorm wird mehr in übertragener Bedeutung angewandt und bedeutet den höchsten Grad der Vollendung. Speziell in dem Kreise, dem ihr Freund Heinz angehört.«

»Schon wieder ein Kreis?« frage ich.

»Ja, aber die Kreise berühren sich, dieser besteht nur aus wenigen und dreht sich etwas anders. Man beschäftigt sich dort damit, den Spuren des alten Heidentums nachzugehen – daher die Freude über Ihre harmlose Bemerkung. Und das grünliche Mädchen hatte wohl irgendeine symbolische Bedeutung.«

Der Philosoph hielt plötzlich inne – hinter uns klangen rasche Schritte, und es kamen ein paar Herren an uns vorbei. Zwei von ihnen waren indifferent aussehende junge Leute – der dritte, der zwischen ihnen ging, ein knapp mittelgroßer Mann mit niedrigem schwarzen Hut und einem dunklen Mantel, den er wie eine Art Toga umgeschlagen hatte – man konnte ihn auf den ersten Blick fast für einen Geistlichen halten. Er schien über irgend etwas sehr erregt und sprach eifrig auf seine Begleiter ein, in einem ganz eigentümlichen, monoton singenden Tonfall. Gerade als sie uns überholten, hörten wir ihn sagen:

»Ja – bis vor drei Jahren konnte man sie noch für zwei Mark auf jeder Dult finden, aber jetzt haben die Juden alle aufgekauft, und unter zehn Mark sind überhaupt keine mehr zu haben.«

Gegen Ende des Satzes ging seine Stimme allmählich mehr in die Höhe, und zum Schluß kam ein kurzes, schrilles Auflachen. Als er uns sah, machte er eine halbe Wendung seitwärts und grüßte den Philosophen. Deutlich sah ich in diesem Moment sein breites, glattrasiertes Gesicht mit auffallend hellen, leuchtenden Augen, das aber trotzdem etwas absolut Unbewegliches, beinah Starres hatte. Beim Grüßen verzog er den Mund zu einem äußerst konventionellen Lächeln, in der nächsten Sekunde aber nahm er wieder einen steinernen und völlig ablehnenden Ausdruck an und ging rasch mit kurzen, eiligen Schritten seines Weges.

Der Philosoph schien sich an dieser Begegnung und der aufgefangenen Bemerkung ungemein zu freuen:

»Lupus in fabula«, sagte er, »Sie haben wirklich Glück, Herr Dame; dieser Herr, der mich eben grüßte, ist – nun man könnte ihn wohl den geistigen Vater des Wahnmochinger Heidentums nennen – nein, nein – das ist in diesem Falle nicht richtig – er würde es sehr übelnehmen, wenn man ihn als Vater von irgend etwas bezeichnen wollte – denn gerade er ist der Hauptverfechter des matriarchalischen Prinzips.«

»Liebster Philosoph«, bat ich, »nun wird es mir schon wieder zu hoch.«

Übrigens dachte ich mir gleich, daß jener Herr ein gewisser Delius sein müßte, von dem Heinz mir viel erzählte.

Ja, es stimmte, und ich fand, es sei wirklich wieder ein sonderbares Spiel des Zufalls, daß wir ihm gerade bei diesem Gespräch begegneten, aber Sendt sagte, man träfe ihn sehr oft um diese Stunde, er liebe die Nacht und alles Dunkle.

»Dieser Delius – nun, er ist wohl eine sonderbare Erscheinung«, fuhr er dann fort, »die heutige Zeit, auf die wir alle mehr oder minder angewiesen sind, gilt ihm nichts, er ignoriert sie oder begegnet ihr wenigstens nur rein konventionell – etwa so, wie er mich vorhin grüßte. Sein eigentliches Leben spielt sich in längst versunkenen Daseinsformen ab, mit denen er sich und andere identifiziert. Passen Sie einmal gut auf, Herr Dame – wissen Sie ungefähr, was man sich unter Seelensubstanzen vorzustellen hat?«

Ich sagte, daß ich es mir wohl vorstellen könnte – es war ja neulich im Café schon davon die Rede.

»Schön – also Delius denkt sich nun diese Seelensubstanzen von den ältesten Zeiten her wie Gesteinschichten übereinander gelagert, etwa zuunterst die der alten Ägypter, Babylonier, Perser – dann die der Griechen, Römer, Germanen und so weiter. Man nennt das biotische Schichten. Seit der Völkerwanderung, meint er nun, habe sich alles verschoben, die Substanzen sind durcheinandergemischt und dadurch verdorben worden. Infolgedessen wirken bei den jetzigen Menschen lauter verschiedene Elemente gegeneinander, und es kommt nichts Gutes dabei heraus. Nur bei wenigen (und das sind natürlich die Auserlesenen) hat sich eine oder die andere Substanz in überwiegendem Maße erhalten – zum Beispiel bei ihm selbst die römische – er fühlt und empfindet durchaus als antiker Römer und würde Sie höchst befremdet anschauen, wenn Sie ihm sagten, er lebe doch im zwanzigsten Jahrhundert und sei in der Pfalz geboren. Denn seine Substanz ist eben römisch. Bei Heinz Kellermann und dessen Freunden dagegen herrscht die altgermanische vor, daher auch die stark betonte Vorliebe für Blonde und Langschädel.«

»Aber lieber Doktor, sagen Sie mir nur noch das eine: was hat das alles damit zu tun, daß dieser Stadtteil Wahnmoching heißt?«

»Herr Dame – denn Sie heißen ja wirklich so«, sagte der Philosoph, und ich konnte es ihm in diesem Augenblick nicht übelnehmen – »Wahnmoching heißt wohl ein Stadtteil, eben dieser Stadtteil, aber das ist nur ein zufälliger Umstand. Er könnte auch anders heißen oder umgetauft werden, Wahnmoching würde dennoch Wahnmoching bleiben. Wahnmoching im bildlichen Sinne geht weit über den Rahmen eines Stadtteils hinaus. Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen – Wahnmoching ist noch vieles, vieles andere, und das werden Sie erst allmählich begreifen lernen. Aber für heute sei es des Guten genug, sonst möchte noch die aufgehende Sonne uns hier im Zwiegespräch überraschen.«

Damit trennten wir uns.

4

20. …

Mir fehlte etwas der Mut, zu diesem Jour zu gehen, aber Doktor Gerhard nahm mich mit. Ziemlich viele Leute, die sich in mehreren Räumen verteilten, die Frau des Hauses an einem gemütlichen Eckplatz hinter der Teemaschine, um die herum eine Anzahl junger Leute und Damen. Als wir eintraten, schwieg alles ein paar Minuten lang – ich merkte später, daß es jedesmal so war, wenn jemand Neues kam. Gerhard stellte mich vor und fügte statt meiner hinzu:

»Gnädige Frau, mein junger Freund heißt nämlich so.«

Frau Hofmann empfing mich sehr liebenswürdig – ihr Mann habe ihr schon von mir erzählt. Dann wandte sie sich an die anderen: »Denken Sie nur, Herr Dame wußte bis vor kurzem nicht, daß er in Wahnmoching wohnte.«

Man betrachtete mich, wie mir schien, mit verwundertem Wohlgefallen, und ich war durch diese Bemerkung gewissermaßen eingeführt. Ich langweilte mich etwas, denn da ich niemand kannte, mußte ich vorläufig auf meinem Platz sitzen bleiben und Tee trinken. Gerhard machte vor einem jungen Mädchen halt – neben ihr auf einem Tischchen stand ein grüner Frosch aus Porzellan oder Majolika – und sagte etwas wehmütig:

»Gnädiges Fräulein – Sie sollten eigentlich immer einen grünen Frosch neben sich sitzen haben.«

Dann ging er weiter von einer Gruppe zur anderen und sagte wahrscheinlich ähnliche Dinge, denn wo er hinkam, wurde es gleich etwas belebter.

Ich beneidete ihn im stillen um diese Gabe, denn ich konnte mich nicht recht in die Konversation hineinfinden.

Es war die Rede von Menschen im allgemeinen, von ihrem Wesen, und worauf es dabei ankäme. Der Professor sagte etwas überstürzt und definitiv:

»Auf die Geste kommt es an.« Die jungen Herren, es waren zwei oder drei, nickten bedeutungsvoll zustimmend, und die ältere Dame aus dem Café – die kappadozische – die ich gleich wiedererkannt hatte, sagte lebhaft:

»Ich hätte gedacht – in erster Linie auf die Echtheit des Empfindens.«

»Empfinden ist immer echt«, bemerkte Hofmann wieder sehr definitiv, so daß man nicht anders konnte als ihm beistimmen. Aber Gerhard, der jetzt wieder neben dem Tisch stand und ein Bild betrachtete, warf milde ein:

»Nun, das kann man doch nicht so ohne weiteres hinstellen, es gibt wohl auch leere und bedeutungslose Gesten, die durch das Empfinden nicht gerechtfertigt werden. Und ich meine, man darf nicht so schlechthin von der Geste sprechen.«

Worauf die Frau des Hauses förmlich triumphierend meinte:

»Nun, worauf es ankommt, ist eben der Stil.«

»Gewiß, aber nicht jeder«, korrigierte ihr Mann und sah etwas beleidigt aus. »Die Geste ist überhaupt die geistleibliche Urform alles Lebens, und der Rhythmus der Geste ist der Stil.«

Die anderen hörten ganz begeistert zu, und die Kappadozische äußerte:

»Das haben Sie wieder ganz wunderbar gesagt.«

Gerhard räusperte sich ein paarmal, als ob er nicht ganz einverstanden wäre, dann brach er auf, und ich schloß mich ihm an. Zum Herrn des Hauses sagte er noch:

»Lieber Professor, ich hoffe, mein junger Freund wird noch öfter Gelegenheit finden, mit Ihnen zusammenzukommen.«

Der Professor schüttelte mir wiederholt die Hand und sah mich ganz zerstreut an. Als wir hinausgingen, sagte er halblaut zu Gerhard:

»Ihr Freund ist ein wundervoller Mensch.«

Warum wohl – ich hatte den ganzen Abend kaum zehn Worte gesagt und das meiste, was sie sprachen, nicht verstanden, zudem, wie Gerhard mir nachher sagte, einen schweren Fauxpas begangen, indem ich der Frau Professor sagte: ich sei sehr begierig, den Meister kennenzulernen. So etwas dürfe man nicht tun – es wäre eine Art Gotteslästerung. Er pflege sich im dritten Zimmer aufzuhalten, und nur, wer würdig befunden sei, würde ihm vorgestellt; zum Beispiel jener verklärte Jüngling, der vorhin leise mit der Hausfrau sprach und dann plötzlich verschwand. Das gehöre eben auch zur ›Geste‹.

 

Geste – Geste – was soll man darunter verstehen? wie war es noch? – die geistleibliche Urform alles Lebens. Hier wird ja überhaupt so viel vom ›Leben‹ gesprochen, und immer so, als ob es durchaus nichts Selbstverständliches sei, sondern gerade das Gegenteil. Aber gerade darin liegt wohl etwas, was reizt und anzieht – ich möchte ja selbst endlich einmal dahinterkommen, was es eigentlich mit dem Leben auf sich hat – ob es etwas ganz Selbstverständliches oder etwas ungeheuer Kompliziertes ist.

Heinz zum Beispiel tut ja, als ob er hier in diesem sonderbaren Stadtteil den Stein der Weisen gefunden hätte. Und mir ist, seit ich hier bin, zumut, als ob ich nur in Rätseln sprechen höre und mich zwischen lauter Rätseln bewege. Ich fühle mich ziemlich unglücklich, und in meinem Kopf ist es wirr und dunkel.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?