Buch lesen: «Die Liebe ist ein schreckliches Ungeheuer»

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Die Liebe ist ein schreckliches Ungeheuer

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2020 unterstützt.

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Katharina Strebel Stiftung

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Umschlagbild: S. Corinna Bille und Maurice Chappaz, Fronleichnam 1942. Fonds Maurice Chappaz et S. Corinna Bille, Schweizerisches Literaturarchiv Bern.

Lektorat: Stephanie Mohler, Hier und Jetzt

Gestaltung und Satz: Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-470-4

ISBN E-Book 978-3-03919-948-8

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz

www.hierundjetzt.ch

Inhalt

Vorwort

Anne-Marie Blanc und Heinrich Fueter

Eine Beziehung, permanent auf die Probe gestellt: die berühmte Schauspielerin und der Filmpionier, der als Unternehmer und Hausmann glänzte.

Bettina Kiepenheuer und Martin Hürlimann

Die Kinderbuchexpertin und der Fotojournalist mit ihrem gemeinsamen Lebenswerk: dem sagenhaften Atlantis Verlag. Persönliche Bedürfnisse waren zweitrangig.

Lidija Petrowna Kotschetkowa und Fritz Brupbacher

Die russische Sozialrevolutionärin und der Zürcher Sexualreformer: Das unerschrockene Ärztepaar kämpfte für mehr als nur Gesundheit.

Silvia Bezzola und Ernst Scherz

Die erfinderischen Gastgeber führten das «Palace Gstaad» durch den Zweiten Weltkrieg. Ihre Liebesgeschichte wurde zur Erfolgsgeschichte des Luxushotels.

Annemarie Gunz zwischen Hans von Matt und Josef Vital Kopp

Das Innerschweizer Künstlerpaar, verstrickt in eine Liaison mit dem charismatischen Priester und Schriftsteller. Ob sie mehr belebte oder zerstörte, ist nicht so klar.

Johanna Gredig und Agostino Garbald

Die Engadiner Schriftstellerin und der Bergeller Zöllner: eine moderne Ehe im engen Bergtal. Nicht einmal die Gottfried-Semper-Villa verschonte sie vor Miseren.

Elsie Attenhofer und Karl Schmid

Die freiheitserpichte, weltzugewandte Kabarettistin und der sesshafte, introvertierte Germanist, ETH-Rektor und Staatsdenker. Krisen waren programmiert.

Jenny Sulzer und Sidney William Brown

Sie arrangierte das gesellschaftliche Leben, er führte den technischen Betrieb der Brown, Boveri und Cie. Zum Glück gab es im Haus grosse Kunst.

S. Corinna Bille und Maurice Chappaz

Das poetische Traumpaar der Suisse romande. Er wollte alles der Liebe, sie alles dem Schreiben unterordnen. Unter bürgerlichen Bedingungen arg ambitiös.

Abbildungsverzeichnis

Dank

Autorin

Vorwort

Die Überraschung meiner Paarrecherchen waren für mich die Frauen. Stark, klug, eigenständig, couragiert, ambitioniert – im Denken, im Handeln, im Begehren. Sinnlich die meisten, alle leidenschaftlich auf ihre Art. Frauen, die ziemlich genau wussten, wie sie leben wollten: Jenny Brown-Sulzer zum Beispiel als herrscherliche Haus- und Familienunternehmerin, als tüchtiges Zentrum einer wohlorganisierten grossbürgerlichen Ordnung. Bettina Hürlimann-Kiepenheuer mit «Löwenkräften für drei Verlage» und vier Kindern. Annemarie von Matt-Gunz als künstlerische Naturkraft. Nur Hausfrau zu sein, das konnte sich keine vorstellen. Neun Paare auf Augenhöhe – das war meine Vorstellung, das war auch die Vorstellung dieser Frauen, selbst jener drei, die noch das 19. Jahrhundert erlebt hatten. Im Alltag erfüllte sich der Lebensentwurf nicht bei allen: weil sie zwei Seelen in der Brust hatten, gesellschaftliche Anerkennung brauchten. Weil der Mann sich doch als Patriarch entpuppte, unbedingt Kinder wollte.

Auch manch ein Mann hatte sich das Leben zu zweit einfacher vorgestellt. «Ich kann nur jemanden lieben, dem ich die Freiheit lasse und der mir die Freiheit lässt», schrieb die Walliser Poetin Corinna Bille ihrem Freund Maurice Chappaz. Dieser dachte ebenfalls über Freiheit und Treue nach: «Es sollte natürlich keine Opfer, keine Verzichte geben, aber die Dinge gehören für mich zusammen, eins ist so wichtig wie das andere.» Die weltzugewandte Kabarettistin Elsie Attenhofer wollte ihrem Ehemann ein Gegenüber sein, keine Ergänzung. «Wir hatten uns auf ein Gentleman’s Agreement geeinigt: Jeder respektiert die Freiheit des andern.» Eine harte Prüfung für den introvertierten Literaturprofessor und ETH-Rektor Karl Schmid, der neben Beruf, Militär und allerlei Ämtern die Betreuung von Haushalt und Kindern organisierte. Vergleichbar die Konstellation, völlig anders die Haltung von Schauspielerin Anne-Marie Blanc und Filmproduzent Heinrich Fueter. «Nimm keine Rücksicht auf mich und die Kinder», schrieb er, «behalt uns nur lieb – auch mich». – Das tat sie. «Heini hat es verstanden, mich zu ersetzen, ohne mich je zu verdrängen.» – «Oft braucht man nicht denselben Mann für dasselbe», notierte Annemarie von Matt-Gunz, die in der katholischen Innerschweiz ein dramatisches Leben führte zwischen dem Bildhauer Hans von Matt und dem Priester Josef Vital Kopp.

Ja, das Aufregendste meiner Recherchen waren die Frauen. Rechtfertigt dies das Eindringen in intime Beziehungen, Paargeheimnisse, Familientragödien? Den Zugriff auf private Tagebücher, Aufzeichnungen, Notizen? Ich hoffe es – ganz im Sinn des alten Goethe, der seiner geliebten Marianne von Willemer kurz vor seinem Tod ihre Briefe zurücksandte und dazu schrieb: «Dergleichen Blätter geben uns das frohe Gefühl, dass wir gelebt haben …» Dieses frohe Gefühl wollen meine Porträts wecken. Sie bezeugen die Vielfalt der Möglichkeiten, mit dem Leben und der Liebe zurechtzukommen, ihnen etwas Höchstpersönliches abzugewinnen, etwas Originelles. Möglichkeiten, die Sehnsüchte nicht allmählich einschlafen zu lassen, sondern zu gestalten, und sei es auch nur sprachlich. Die Kunst des Briefeschreibens ist beeindruckend, bei Annemarie von Matt wird sie zur Literatur.

Es treten neun illustre Schweizer Paare auf, in neun Beziehungsformen, mit verschiedenen Tätigkeiten. So unterschiedlich die Lebenswelten, so divers die Quellen: die einen dürftig, gar nur einseitig, andere überfordernd, mit Hunderten, ja Tausenden Briefen. Silvia Bezzola und Ernst Scherz, unternehmerische Gastgeber im Grandhotel, arbeiteten ein Leben lang eng zusammen; sie hatten kaum Zeit und wenig Grund, sich Briefe zu schreiben. Die Verleger Bettina Kiepenheuer und Martin Hürlimann verfassten zwar je ihre Autobiografie, hüteten aber ihre Intimsphäre. Bei beiden Paaren wirkte die Liebe eher unterschwellig, wie eine freundschaftliche Grundmusik. Im Zentrum stand ihr Lebenswerk; ihre Zusammenarbeit brachte sie wechselseitig in Bestform. Die Engadiner Schriftstellerin Johanna Gredig und der Bergeller Zöllner Agostino Garbald sahen sich nach der ersten Begegnung im Herbst 1860 ein einziges Mal vor ihrer Hochzeit, unterhielten sich aber in der Zwischenzeit mit umwerfend spöttischen Briefen. Das Leben im engen Bergtal war dann weniger heiter, aber ihre weiblichen Romanfiguren stattete die Autorin so aus, wie sie gern gewesen wäre: «Das Mädchen soll nicht zum Fachmenschen, nicht zur Gattin, nicht zur Mutter erzogen werden, sondern vor allen Dingen sei das allgemein Menschliche in ihr auszubilden. Ihr Herz soll weit, ihr Verstand klar sein. Sie soll wissen, dass sie zuerst ein Ganzes für sich, nicht die Hälfte eines Andern ist. […] Sie soll allein stehen können.» Überraschend, wie wenig aus der grossbürgerlichen Welt des kunstsinnigen Industriellenpaars Jenny Sulzer und Sidney W. Brown nach aussen drang. Kein Hochzeitsbild, die Liebesbriefe verbrannt. Die Ehe lässt sich nur anhand von Jennys täglichen Notizen rekonstruieren. Umso mitteilsamer und streitlustiger waren die Revolutionäre im Ärztekittel: Meistens getrennt, verständigten sich der Zürcher Fritz Brupbacher und die Russin Lidija Kotschetkowa vor allem schriftlich.

Die grosse romantische, unverbrüchliche Liebe kommt nicht vor. Umso variantenreicher spielten die neun Paare die Liebe durch. Sie konnte sogar, wie für Lidija Kotschetkowa, zum «schrecklichen Ungeheuer» werden.


Anne-Marie Blanc und Heinrich Fueter

Sie spielten unterschiedliche Rollen in einer Beziehung, die permanent auf die Probe gestellt, aber getragen wurde von nicht nachlassender Zärtlichkeit: Anne-Marie Blanc, «Grande Dame» der Schweizer Theaterwelt, oft im Ausland auf Tournee, verkörperte auf der Bühne und im Film zwar das Frauenbild jener Epoche, war aber im wirklichen Leben ihrer Zeit voraus. Heinrich Fueter, unternehmerischer Filmpionier, brachte unter einen Hut, was in der Regel Frauen leisten: Er führte seine Condor-Film AG zum Erfolg, erzog drei Buben, pflegte Freundschaften und Familie – und versäumte keine Hauptprobe seiner Gattin. Sie wirkte in etwa 200 Theaterproduktionen und vierzig Filmen mit, er produzierte in dreissig Jahren Hunderte von Filmen auf allen Gebieten dieser Kunst.

Auf einer Fotografie von 1977 verdichtet sich die Beziehung: Anne-Marie Blanc und Heinrich Fueter tanzen, altmodisch langsam, so sieht es aus. Sie schauen sich an – und der Betrachterin ist sonnenklar: ein Liebespaar. 58 und 66 Jahre alt. Ein Liebespaar, das einige Turbulenzen hinter sich hat. Das über Jahre und Distanzen im Gespräch blieb, Hunderte von Briefen schrieb, Telegramme, Karten. Heinrich mit kleiner, präziser Schrift, in einer Sprache mal poetisch, mal ironisch, wirkt meist brillant. Anne-Marie schwungvoll rund, sachlich, treuherzig humorvoll – voller Bewunderung für ihren sprachmächtigen Ehemann. Ein Liebespaar, das auch zweifelte, verzweifelte, kämpfte – stilvoll durchaus. Ein Paar, das sich in Phasen der Ungewissheit die schönsten Liebesbriefe schrieb und wieder und wieder zum Schluss kam: «Wir gehören zusammen.»

Anne-Marie Blanc nahm ihr Leben früh in die eigene Hand; heiraten wollte sie nicht. Wenn doch, dann müsste es ein reicher alter Mann sein, erklärte die 19-Jährige. Ein gutes Jahr später ist sie verheiratet – der Mann ist weder alt noch reich. Das kam so: Am 25. September 1938 bestand sie in Bern die Matura, am 1. Oktober reiste sie nach Zürich, offiziell in die Ferien zu den Cousins Hans und Bianca Fischer, inoffiziell mit dem Ziel, Schauspielerin zu werden. Hans, später unter dem Kürzel «fis» als Grafiker, Maler, Kinderbuchautor und Illustrator international bekannt, war damals Bühnenbildner des Cabaret Cornichon, kannte die Zürcher Theaterwelt – und arrangierte für seine Cousine ein Gespräch mit Oskar Wälterlin, dem neuen Direktor des Schauspielhauses. Sie rezitierte ein paar Monologe und erklärte, den Umweg über eine Schauspielschule könne sie sich nicht leisten. Wälterlin hatte auch kein Geld für sein «Findelkind» und engagierte Anne-Marie als Elevin ohne Honorar. Einen Monat später stand sie unter der Regie von Leopold Lindtberg für einen Hofknicks erstmals auf der Bühne des Schauspielhauses. Noch einen Monat später – sie mimte gerade die zweite Bäuerin im «Tell», zwei Sätze pro Abend – begleitete sie eine Kollegin zum Presseball im Hotel Baur au Lac. Es war schon Mitternacht. Sie passierten eben die Drehtür, da stürmte ein junger Mann auf sie zu: «Heini Fueter. Wartet hier, ich besorge uns einen Tisch.» Sagte es und verschwand. Zwei andere Herren führten die Damen aufs Parkett. Anne-Marie tanzte bis zwei Uhr morgens, sass dann mit ihrem Kavalier im Bierkeller, als Fueter dazukam. Jetzt war die Reihe an ihm. «So hat die Sache mit meinem Mann angefangen.» Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. Ihr Plan war ein anderer: ein unabhängiges Leben führen, nicht ständig einen Mann um sich haben. Schauspielerin wollte sie werden, und man sollte sie dabei bitte «nicht stören». «Vielleicht war es meine nicht ganz sorgenfreie Jugend, die mich in die Theaterwelt flüchten liess», erzählt die 89-Jährige in Susanna Schwagers Buch «Das volle Leben». Dort habe sie früh gelernt, welch «merkwürdige Spielarten» das Leben kennt. «Dass es im Schicksal immer auch Chancen gibt. In meinen Rollen lernte ich fürs Leben. Und aus dem Leben viel fürs Theater.» Sie sei wohl von ihrer ersten grossen Liebe, ihrem Vater, einfach «wahnsinnig enttäuscht» worden. «Die Frauen prägten meine Jugend, aber nachher wurde mein Leben von Männern bestimmt. Mein Mann und meine Söhne erzogen mich, nicht umgekehrt.» Ihre Karriere verdanke sie Heinrich Fueter, der dafür sorgte, dass sie arbeiten konnte.

«Mein innig geliebtes Herz», schreibt Anne-Marie Blanc am 12. September 1954 aus Göttingen: «Dein Brief … ist eine Goldene Medaille wert, wenn man bedenkt, dass er das Produkt einer 15-jährigen Ehe ist. So schnell macht uns das niemand nach!» Besonders stolz ist sie über sein Kompliment, sie sei im Grunde der einzige Mensch, der ihn wirklich verstehe, über alles «äussere Auseinandergerissensein» und alle beruflichen Verpflichtungen, «die anderen unwesentlich erscheinen», hinweg. Ihr «Wandertrieb» sei wohl ein Erbteil ihres Vaters, aber ihre Verbundenheit, die nach aussen hin so locker, ja beinahe zweigleisig scheinen möge, sei viel tiefer, «weil sie dauernd auf Probe gestellt wird». Vielen sei unbegreiflich, «dass wir diese ewigen Trennungen, diese Hetzerei, dieses Hintansetzen persönlicher Empfindungen auch um Dinge willen auf uns nehmen, die sich in den Augen anderer nicht lohnen». Je mehr sie darüber nachdenke, desto überzeugter sei sie, sie hätten aus der gegebenen Situation das Beste gemacht. «Wäre ich in Zürich geblieben am Schauspielhaus, wäre für meine künstlerische Entwicklung kein bisschen mehr geschehen, so wie die Verhältnisse dort liegen.» Mehr Möglichkeiten als in Deutschland bekomme sie nirgendwo, obwohl ihr die «gebratenen Hühner» auch hier nicht in den Mund flögen. «Dazu müsste ich unerhört geschickt und menschlich unsympathischer oder etwas Einmaliges sein.» Das sei sie leider nicht. Vielleicht ziehe sie beruflich mal «das grosse Los», vielleicht auch nie. Vorläufig wolle sie weitermachen – «immerhin ermöglichen wir uns und unseren Kindern ein anständiges Leben, ohne dass wir uns zu schämen brauchen. Aufgeben oder warten wäre beinahe eitel und überheblich».

Aufgeben, das kennt auch Heinrich Fueter nicht. 1949 gelang es ihm, seine Condor-Kurzfilme in Europa und den USA als sogenannte Beiprogrammfilme vor dem Hauptfilm zu platzieren. Drei Jahre später schaffte sein Team den sensationellen Dokumentarfilm «Mount Everest 1952»; es begleitete im Frühling und Herbst die Schweizer Expedition mit den Bergsteigern Raymond Lambert und Tensing Bothia, welche erstmals die Südroute erschlossen, 240 Meter unter dem Gipfel aber scheiterten. Als Kältetest wurde das Filmmaterial über Wochen im Kühlschrank der Familie Fueter gelagert. Und die Kameraleute übten im Garten das Fortkommen in hochalpiner Ausrüstung. 1953 produzierte Condor den ersten Farbfilm über eine Herzoperation.

Am 2. September 1959, Anne-Maries 40. Geburtstag, erinnert Heinrich an den Beginn des Zweiten Weltkriegs und wie sie in seiner Altstadtwohnung mit zwanzig Kerzen und Freund Karl Schmid am Spätnachmittag Anne-Maries 20. Geburtstag gefeiert und diesen um Mitternacht, als die Züge mit den Mobilisierten sternförmig in alle Richtungen fuhren, im Zürcher Bahnhofbuffet «mit drei Bechern Hürlimann Hell» begossen hatten. Das «Experiment Ehe» sei gelungen – «welche Verbindung zweier Menschen ist keines? Ich glaube, wir haben den Sinn für Freundschaft und wollen ihn auch weitere Dezennien bewahren und vor allem weitergeben an unsere ‹Herren›». Die Herren, das sind die Söhne Peter-Christian, 18, Martin, 15, und Daniel, 10 Jahre alt. Heinrich Fueter, «menschenneugierig», ist ein Meister in der Kunst der Freundschaft: «Was im Leben zählt, sind Freundschaften.» Nicolas Baerlocher, Zürichs «Ambassadeur der schönen Künste» (NZZ), zehn Jahre für Fueters Firma tätig, nannte ihn ein «Genie der Freundschaft».

Heinrich Fueter, Heini genannt, kam am 17. Februar 1911 in Zürich zur Welt. Sein Vater, der Basler Historiker Eduard Fueter, lehrte an der Universität Zürich, war Redaktor der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und veröffentlichte im Jahr von Heinrichs Geburt seine «Geschichte der neueren Historiographie». Sie brachte ihm, in mehreren Auflagen und Übersetzungen, Weltruhm – und Widerspruch, vor allem in Deutschland. Er sei wohl der «innovativste Historiker» seiner Zeit gewesen, betonen Bernhard Ruetz und Susanna Ruf in der Biografie «Heinrich Fueter». Anstössig fand das Zürcher Bürgertum Eduard Fueters bohemehafte Ungebundenheit, seine zerrüttete Ehe, seine Deutschfeindlichkeit, was zum Bruch mit der NZZ und zum Abbruch der akademischen Karriere führte. Fueter zog zu seiner Mutter nach Basel, arbeitete als Sekretär bei der Basler Handelsbank, wurde mehr und mehr zum Eigenbrötler und starb, 52-jährig, kurz nachdem er nach Harvard berufen worden war. Heinrich verehrte den Vater, teilte seine liberalen, Deutschland-kritischen Ansichten und abonnierte aus Protest über dessen Behandlung die NZZ nie; er las sie, wenn sie irgendwo auflag. Die Mutter, Jenny Weber, Tochter von Henriette und Carl Weber-Sulzer, Chef der Winterthurer Textilausrüstung Zur Schleife, war zehn Jahre jünger als Eduard: lebhaft, energisch, interessiert, der Musik zugetan. Die unglückliche Ehe, 1907 geschlossen, wurde 1914 geschieden. Jenny zog mit Heinrich und dem drei Jahre älteren Eduard Karl ins «Rebgüetli» nach Zollikon, das ihr gehörte. Eine zweite Ehe ging sie mit dem Schriftsteller und Literaturprofessor Robert Faesi, Spross eines Zürcher Patriziergeschlechts, ein. 1919 brachte sie ihren dritten Sohn, Robert, zur Welt, Robin genannt. Vater Faesi pflegte eine liebevolle Beziehung zu seinen Stiefsöhnen und unterstützte sie grosszügig. Politisch hatten Heini und er das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Im «Rebgüetli» wie im 1938 erworbenen «Neugut» ob Wädenswil gingen Dichter, Schriftsteller und Künstler ein und aus: Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Stefan Zweig, und viele andere. Heini, Asthmatiker, verbrachte die ersten zwei Wintersemester der Primarschule in St. Moritz, lernte Andrea Badrutt kennen, was wohl erste Berufswünsche weckte: Hotelier, Skilehrer, Bergführer. Nach zwei Jahren Gymnasium in Zürich wechselte er an die Kantonsschule Trogen, wo er Andrea Badrutt erneut traf. Im April 1929 berichtete Rektor Fritz Hunziker nach Zollikon, Heini könne zwar mildernde Umstände anführen, vor allem den Tod seines Vaters, aber die Noten in Mathematik, Physik und Französisch seien ungenügend; er habe «seine Pflichten nicht getan», sei schnell zufrieden mit sich und gern der ungerecht Beurteilte, denke «hoch» von sich und kritisiere schnell. «Die Liebe nimmt ihm auch sehr viel Zeit weg.» Heini schaffte die Matura, studierte erst Literatur und Musik, dann Rechtswissenschaft an der Universität Zürich. Zusammen mit zwei Studienkollegen spielte er Klavier in Bars und Nachtklubs und besserte so sein Taschengeld auf. Er hatte als 17-Jähriger «Mein Kampf» gelesen, engagierte sich gegen den Faschismus und gründete 1933 mit Gleichgesinnten die an Universität und ETH aktive «Kampfgruppe gegen geistigen Terror». In seiner Dissertation, «Verlaggeber und Verleger im Verlagskonkurs», untersuchte er die Folgen für den Autor, wenn dessen Verleger in Konkurs gerät. Robert Faesi war in diese Situation geraten, Heini hatte ihn vor dem Konkursgericht vertreten. Seinen Unterhalt verdiente sich der ausgebildete Skiinstruktor in diesen Jahren weitgehend selbst: im Winter 1937/38 im «Tivoli» in Kopenhagen als Skischulleiter und Skilehrer auf einem mit Salz bestreuten Rupfenteppich mit einer Neigung von bis zu dreissig Grad. Er arbeitete bei einer Zürcher Privatbank, auf Kur- und Verkehrsdirektionen, als Sekretär beim Lesezirkel Hottingen, als Journalist. Als Sportreporter für den Bund, die Nationalzeitung und Sport nahm er als offizieller schweizerischer Pressevertreter an den Olympischen Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen teil – und gewann die Abfahrt der Pressevertreter. Im Anschluss an die Olympiade verhinderte ein anderthalbjähriges Einreiseverbot nach Deutschland wegen «publizistischer und aktiver politischer Tätigkeit» ein Engagement beim französischen Regiemeister Julien Duvivier.

Der Jurastudent lebte in einer Wohnung an der Neustadtgasse in Zürich, zusammen mit Hans-Ueli Buff, später eine internationale Kapazität für Wiederherstellungschirurgie, und Karl Schmid, dem späteren Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Unsicher, ob er das Schlussexamen bestehen würde, bewarb er sich vorsorglich bei Praesens-Film – und wurde Produktionsleiter des Films «Füsilier Wipf» (1938) nach der gleichnamigen Novelle seines Stiefvaters. Filmbegeistert, das war er, aber nach bestandener Prüfung hätte er sich doch lieber in ein Anwaltsbüro gesetzt. «Unterschrift ist Unterschrift», beharrte Produzent Lazar Wechsler, das müsse der Jurist doch wissen. Wechsler, Sohn jüdischer Eltern aus Polen, war 1914 in die Schweiz gekommen, hatte an der ETH Zürich Ingenieurwesen studiert und im Brückenbau gearbeitet. Ohne jede Filmerfahrung gründete er 1924 die Praesens-Film AG; sie wurde für lange Zeit zur einzigen bedeutenden Schweizer Filmgesellschaft.

Als Aufnahme- und Produktionsleiter erlebte Heinrich Fueter 1940 die Schicksalsstunde seiner Frau hautnah: Sie spielte die Gilberte de Courgenay, die schöne Wirtstochter, welche die Moral der Soldaten stärkte. Andere bemühten sich um die Rolle, etwa Elsie Attenhofer und Ditta Oesch. Anne-Marie Blanc wäre für die Rolle der Tilly, der Braut aus der Stadt, vorgesehen gewesen, die sie schon im gleichnamigen Singspiel auf der Bühne verkörpert hatte. Bei den Castings gab sie den Bewerberinnen die Stichworte, bis Wechsler bestimmte: «Frau Blanc, Sie spielen die Gilberte, schliesslich sind Sie eine Welsche.» Die Auserwählte war unsicher. Was, wenn sie durchfallen würde? Sie fiel nicht, sie wurde zur Ikone einer Generation – und Franz Schnyders Film zum Symbol der Geistigen Landesverteidigung. Er beruht auf der wahren Geschichte der Kellnerin Gilberte Montavon, der patriotischen Kultfigur im Ersten Weltkrieg. Eine Kompanie rückt im welschen Städtchen Courgenay ein. Die Soldaten erliegen dem Charme der Wirtstochter – der Refrain ihres Lieds klingt quer durch die Schweiz: «C’est la petite Gilberte, Gilbert’ de Courgenay; elle connaît trois cent mille soldats et tous les officiers. C’est la petite Gilberte, Gilbert’ de Courgenay; on la connaît dans toute la Suisse et toute l’armée.» «Die richtige Gilberte war klein, rundlich, eine mütterliche und ein bisschen energische Person», erzählt Anne-Marie Blanc im Buch «Das volle Leben». «Meine Gilberte war weniger bodenständig, ein bisschen vergeistigt, zurückhaltend und dadurch vielleicht zeitloser. Ich war ja eine blonde Bohnenstange.» Ein wenig geflirtet habe sie gern. «Richtig los ging die Anmacherei erst durch den Film. Da raunte es ständig auf der Strasse: ‹Salü Gilbertli!› Die erotische Komponente ist wichtig in diesem Beruf.»

Anne-Marie Césarine Blanc, eine Welsche. Kein Tropfen Deutschschweizer Blut. Am 2. September 1919 in Vevey geboren, Tochter der Valentine Chevallier und des Louis Blanc. Die Mutter Genferin, der Vater Waadtländer, Geometer und Grundbuchverwalter – Spross einer Weinbauernfamilie. Der Grossvater Präfekt – sein Haus stand mitten in den Reben. Valentine hatte als sehr junge Frau den wesentlich älteren Mann geheiratet. Seine erste Frau, an Tuberkulose gestorben, hatte drei Buben zurückgelassen und ein Mädchen, das zehnjährig starb. Valentine Blanc kümmerte sich um die Kinder, als wären es ihre eigenen. «Grossartige Brüder» – Anne-Marie blieb lebenslang mit ihnen verbunden. Louis Blanc hingegen, der Vater, «ein richtiger Kleinstadtkönig», entpuppte sich als Schürzenjäger und Alkoholiker. Anne-Marie war zehn, ihre Schwester Françoise acht, als Mutter und Töchter fanden: «Ça suffit.» Anne-Marie drängte Valentine, mit den drei Kindern (Jacques war zweijährig) zu ihrer ältesten Schwester, Emma, nach Bern zu ziehen – und schwor sich, einen Beruf zu lernen, um nie mittellos einer solchen Situation ausgeliefert zu sein. Im Frühjahr 1930 fanden sie im internationalen Mädchenpensionat von Tante Emma und deren Mann, Kaspar Fischer, eine neue Heimat. Valentine arbeitete als Gouvernante, kümmerte sich um die Schülerinnen, wenn sie krank waren, und begleitete sie in den Ausgang. Das Gastrecht für ihre Familie war der Lohn, das Pensionat mit Töchtern aus gutem Hause eine Lebensschule für die Blanc-Kinder. Anne-Marie lernte in drei Monaten so gut Deutsch, dass sie den Übertritt ins literarische Gymnasium schaffte. In der Gruppe «Junge Bühne» spielte sie die Hosenrolle der Rosalinde in Shakespeares «Wie es euch gefällt», später eine ihrer liebsten Rollen. Die Rosalinde habe sie zum Theaterspielen verführt. In etwas zwitterhaften Rollen sei sie in ihrem Element, und bei Shakespeare seien die Frauen oft stärker als die Männer. «Sie war dafür geschaffen», sagte später Erwin Kohlund, der auch Teil dieser Theatergruppe war. Als wäre es ein Kinderspiel, habe sie die Luise in Schillers «Kabale und Liebe», die Lena in Büchners «Leonce und Lena» verkörpert. Den Wunsch, Medizin zu studieren, verwarf die 14-Jährige nach schlechten Noten in Physik und Chemie. Also die Bühne. Sie wollte nach Zürich. «Geh», sagte die Mutter, «aber übernimm die Verantwortung».

Schauspielhaus Zürich, im Herbst 1938. Der Anfang seiner grossen Zeit – mit einem mutigen Direktor, einem illustren Ensemble, viele geflüchtet aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Darunter Maria Becker, ein paar Monate jünger als Anne-Marie. «Sie half mir in vielem. Aber dann – fünfzig Jahre lang in der kleinen Schweiz die grosse Becker vor der Nase. Das war auch eine Hypothek.» Anne-Marie bekommt kleine und kleinste Rollen. In der zweiten Saison erhält sie monatlich 100 Franken, in der dritten 180. Das Metier bringen ihr die Schauspieler Ernst Ginsberg und Wolfgang Heinz bei, Ellen Widmann die Sprechtechnik. Sie wohnt bei Hans Fischer; die Mutter hilft ihr über die Runden. In Arnold Küblers Stück «Schauenberg und Rakkertal», das Wälterlin für die Landesausstellung 1939 inszeniert, betraut er sie mit der weiblichen Hauptrolle. Und acht Monate nach ihrem stummen Hofknicks gibt sie ihr Filmdebüt als Sonja Witschi in «Wachtmeister Studer» mit Heinrich Gretler als Wachtmeister. So beginnt ihre Doppelkarriere. Damals wirken die gleichen Leute am Schauspielhaus wie in der Sommerpause bei Praesens-Film. «Gretler als Partner, Lindtberg als Regisseur, Richard Schweizer als Drehbuchautor … alles Leute, die ich schon vom Theater kannte, das gleiche Milieu. Ich hatte wirklich Glück, dass in wichtigen Augenblicken die richtigen Leute einfach da waren», erzählt sie Anne Cuneo in «Gespräche im Hause Blanc». Lindtberg wird ihr Wegbereiter und Mentor; er arbeitet für Lazar Wechsler und engagiert Anne-Marie Blanc bis zum Kriegsende. Sein Leitmotiv: «Alles in Szene setzen, nur sich selber nicht.»

Auch Heinrich Fueter setzt allerlei in Szene: «Ich wusste sofort, dass Anne-Marie die Frau meines Lebens ist.» Sie ist skeptisch. Weil sie acht Jahre jünger ist? Weil sie gehört hat, dass er ein Frauenheld sei? Doch sie mag ihn, «er war lustig und kultiviert». Sie sehen sich täglich. Irgendwann intervenieren die Freunde, sie habe ein Herz aus Stein: «Siehst du denn nicht, wie sehr er dich liebt?» Fueter, Koordinationschef sämtlicher Veranstaltungen für die Landesausstellung, steckt gerade tief in der Arbeit – und dient als Adjutant und Skioffizier bei der Gebirgsartillerie. Anne-Marie darf derweil seine Wohnung nutzen und organisiert mit ein paar Singles einen kollegialen Mittagstisch. Nach sechs Wochen ist Heini zurück – Anne-Marie bleibt, bei «einem Kerl, der so göttlich kochen konnte». Zum Ziel geführt haben laut Peter-Christian Fueter die Verliebtheit und Hartnäckigkeit des Vaters, «sein Charme, seine Phantasie und Unterhaltungskunst, nicht zuletzt seine Liebe zu Literatur, Musik und Kunst». An Weihnachten 1939 verloben sie sich. Ein «dummer Zustand», finden beide und heiraten am 8. März 1940. «Man wollte zu jemandem gehören, sich festhalten können», erklärt die Braut, «ohne den Krieg hätte ich vielleicht nicht geheiratet». Das Hochzeitsfoto zeigt Heini in strenger Uniform, Anne-Marie im gesprenkelten Mantel und mit Turban; er blickt ernst, sie lächelt verhalten. Als die Schweiz im Mai mit dem Durchmarsch deutscher Truppen rechnet, bittet Heini seine Frau, sie möge ins Berner Oberland zu ihrer Mutter dislozieren. Sie aber will ihre weit gefährdeteren deutschen Kollegen nicht im Stich lassen. «Ich bleibe. Wir spielen ‹Faust II›.» Die Aufführung am damals einzigen freien deutschsprachigen Sprechtheater in Europa wurde zum Symbol.

«Machen wir im Sommer einen Film?», fragt Anne-Marie Produzent Wechsler. Er winkt ab. «Dann machen wir ein Kind», lacht sie – und verdankt diesem eine Rolle im Film «Landammann Stauffacher», denn ohne schwanger zu sein, hätte sie nie «wie eine solide Bäuerin» ausgesehen. 1941 kommt Peter-Christian zur Welt. Anne-Marie pausiert für die Geburten jeweils zwei, drei Monate: 1944 für Martin, 1949 für Daniel. Beim jüngsten zieht «als Kapitän» Grossmutter Valentine Chevallier, Mémé genannt, ins Haus; sie wird sich 15 Jahre lang hauptsächlich um die Kinder kümmern. Auf der Bühne und im Film verkörpert Anne-Marie Blanc zwar das Frauenbild jener Epoche, im wirklichen Leben ist sie ihrer Zeit voraus. Das Ehepaar, das während des Kriegs für Praesens-Film zusammengearbeitet hat, geht nachher getrennte Wege. Anne-Marie Blanc zieht es ins Ausland: Wien, Paris, London. Theaterengagements und Filmrollen in deutschen Heimat- oder Boulevardfilmen. «Ich kam mir immer vor wie ein Matrose», erklärt sie Jahre später: Draussen sehnt er sich nach dem Festland und an Land nach dem Meer. Es sei zwar nicht immer einfach, «allein zu schwimmen in einer Welt von versteckter Bosheit und Verlogenheit». «Ich rase von Probe zu Probe, von Vorstellung zu Besprechungen und weiss von nichts anderem mehr.» Immerhin sei so die Einsamkeit erträglicher.