Der Abituriententag

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Zweites Kapitel

Als Sebastian das separierte Zimmer des Adriakellers betrat, waren die meisten der zum Jubiläum entschlossenen Herren schon versammelt.

Ein Gruppenbild wanderte gerade von Hand zu Hand, das die stumpfe Pyramide einer symmetrisch aufgebauten Jünglingsversammlung darstellte. Die Titelschrift behauptete, daß diese in drei Schichten hockenden, sitzenden, stehenden jungen Leute die Abiturienten des Jahrgangs neunzehnhundertundzwei des kaiserlich-königlichen Staatsgymnasiums zu Sankt Nikolaus seien.

Alle Gestalten dieser gealterten Photographie hatten durch die Zeit etwas Lächerliches bekommen. Entweder wuchsen sie langstielig aus ihren Kleidern heraus oder sie waren in dem Übermaß der sie bergenden Anzüge sitzen geblieben wie gewisse Kuchen. Die verwegensten Kopfbedeckungen belebten die Reihen: Bäurische Hüte, Sportkappen, Marinemützen. Ein unternehmendes Köpfchen trug sogar einen steifen Paradehut, Melone oder Dohle genannt. Und fünfundzwanzig Jahre lang hatte sich der Fingereindruck auf dem Bild erhalten, der in jener verschollenen Stunde die Ebenmäßigkeit dieser Melone verunziert hatte.

Das Bild war gelb und befleckt. Dennoch schien auf dem vergilbten Glanzpapier jene Feuchtigkeit, jene Ahnung von schlechtem Teint wahrnehmbar geblieben, die für Knabengesichter so charakteristisch ist. Gewiß aber hätte kein gerichtlich-beeideter Sachverständiger den ihre eigene Jugend hier feiernden Herren die richtige Knabenphysiognomie zuzuteilen vermocht.

Sebastian mußte eine Weile lang suchen, ehe er den wildfremden Jungen fand, der er selber gewesen war. Er stand in der dritten Reihe, oberhalb des Klassenvorstands Professor Kio, der in der Mitte des Tableaus saß und mit soldatischem Ingrimm die Unterlippe kaute. Sebastian fand sich reichlich unsympathisch, die schiefe Haltung des Kopfes, die deutliche Blässe der Wangen, die allzu spitze Nase, dies alles bereitete ihm Unbehagen. Wie gut, daß wir älter werden, daß ein allstündlicher Tod unsere Züge immer wieder verlöscht! Man sollte sich niemals photographieren lassen.

Sebastian wollte eben die Erscheinung eines andern Knaben auf dem Bilde erforschen, als es ihm aus der Hand genommen wurde.

Professor Burda begrüßte ihn mit Begeisterung. Sein sanftmütiges Gesicht strahlte. Er lief eilig von einem zum andern. Man sah ihm die Wiedersehensfreude an. Er mochte der Einzige hier sein, der keine Stacheln und Reserven in sich verhielt. Zudem war er auch der Einzige, der Frack trug, den ein wenig schlotternden Frack einer reinen Seele. Wie der aufgeregte Veranstalter eines weiträumigen Festes wirkte er, der sich anschickt, den Einzugsfanfaren das Signal zu geben. Und es waren von den siebenundzwanzig Eleven des Jahrgangs doch nur fünfzehn erschienen. Drei hatten sich der Einladung entzogen, drei waren unauffindbar und sechs durch Tod verhindert.

Burda teilte diese Abgangsstatistik der Versammlung sogleich mit.

Schulhof, Schauspieler und Oberregisseur eines großen deutschen Stadttheaters, meinte daraufhin zu Sebastian:

»Immer noch mehr als genug!«

Und während er mit belustigten Augen auf Burda hinwies, drehte er den alten Spruch um:

»Non vitae, sed scholae discimus.«

Sebastian schüttelte viele Hände und schaltete immer wieder das Licht freundlichen Wiedererkennens in seinen Augen ein. Die meisten erkannte er auch ohne Schwierigkeiten wieder.

Ressl hatte seine angenehme Sphäre von Wohlernährtheit und Luxus behalten. Auch Faltin war ziemlich unverändert geblieben. Seine weichen runden Schwarzaugen weideten unruhig den Raum ab und suchten Gelegenheit, Neuigkeiten zu erfahren oder zu verkünden.

Da trat Sebastian ein hagerer Mann an, der ihm fest in die Augen sah und eine knochige Hand hinhielt. Der Landesgerichtsrat setzte das zuvorkommend gestörte Gesicht auf, das er im dienstlichen Leben zu verwenden pflegte. Zugleich aber ärgerte er sich über dieses Gesicht, denn er wußte, wer dieser Mann war. Der Knochige sagte:

»Komarek! Ich bin Komarek! Erkennen Sie mich nicht?«

»Aber natürlich erkenne ich dich, Komarek!«

Sebastian legte vertraulich wie ein Älterer oder wie ein Vorgesetzter die Hand auf Komareks Schulter. Eine durchaus falsche, eine erlogene Geste, fühlte er. Die Qual dieses Abends begann. Komarek zog sich zurück.

Mit einer verbissenen Unruhe, der er nicht Herr werden konnte, wartete Sebastian, welchen Platz ihm Burda anweisen würde. Es war für ihn eine Erleichterung, als er gebeten wurde, zur rechten Hand des erwarteten Ehrengastes zu sitzen. Sebastian blickte umher. Ihm gegenüber, als nächster im Range, saß Karl Schulhof, oder Karlkurt Schulhof, wie er sich neuerdings nannte, der Künstler, der Schauspieler, der Oberregisseur. Sebastian verspürte eine sarkastische Regung, als er den glänzenden Scheitel und das scharf linierte Schauspielergesicht betrachtete: Überragende Geister hat die Creszenz Neunzehnhundertundzwei zu Sankt Nikolaus nicht hervorgebracht.

Unzweifelhaft parierte Schulhof diese Regung seines Gegenübers mit ähnlichen Erkenntnissen.

Die Gesellschaft wies deutlich zwei Parteien auf.

Den weitaus größeren Teil des Tisches hielt die zweite Partei besetzt. Es waren dies die Zukurzgekommenen, das Kanonenfutter eines knappen und hoffnungslosen Auskommens. Matte, graue Gesichter, in welche eine erfrorene Bitterkeit eingemauert war. Menschen, die weder zu schlafen noch zu wachen schienen, Fixangestellte des Nichts auf unfrohem Ausgang.

Tragisch zu nennen war es, daß auch Fischer Robert, der Hochbegabte, unter diesen Schatten des alltäglichen Hades hockte. Nie hatte es eine Frage gegeben, die Fischer Robert nicht gebändigt hätte, keinen Aorist, dem er nicht gewachsen war. Nicht einmal in der frühesten Pennälerzeit konnte es ihm je zustoßen, ›ut‹ mit dem ›Indikativ‹ zu konstruieren. Sebastian hatte in seinen Reden zwar stets die Vorzugsschüler im Allgemeinen und den Primus Fischer im Besonderen verächtlich gemacht, aber in der Tiefe seines Herzens brannte dennoch sehr oft Bewunderung für Fischers Fassungskraft, Geistesschärfe und Aufmerksamkeit.

Nun saß der Heros, der einst allen Lehrern die Schulheftpakete nach Hause tragen durfte, am unbesonnteren Ende der Tafel und unterhielt sich über den neuen Fahrpreistarif der Straßenbahn und über die Baupolitik der Gemeinde, denn er war Beamter des Magistrats. Er unterhielt sich mit Komarek, dem Auswurf, dem schlechtesten Schüler des Jahrgangs. War es Unachtsamkeit oder ein ironischer Geistesblitz Burdas, daß sie nebeneinander saßen?

Nicht nur das Leben, auch die Sitzordnung hatte die beiden Spitzenleistungen der Klasse, die positive und die negative, einander angeglichen.

Immerhin, Komarek war noch nicht ganz erstorben, etwas von seiner funkelnden Gedrücktheit, von seinem ›catilinarischen Feuer‹ war am Leben geblieben.

Als ein Heilloser und Armer hatte er schon in frühester Jugend erkannt, daß Gott in seiner unermeßlichen Unberechenbarkeit zwei Parteien der Menschheit geschaffen habe, die Glücklichen und die Unglücklichen, von denen er es aber nur mit der ersteren hielt. Zu den Glücklichen gehörten vorzüglich die Reichen, aber nicht nur die Reichen. Was diese jedoch anbetrifft, so äußerte sich ihr Reichtum nicht allein in dem Aufwand, den sie trieben, sondern mehr noch in der unbewußten Fröhlichkeit, mit der sie ihn trieben. Nicht nur die köstliche Tatsache der schmackhaft belegten Frühstücksbrötchen war maßgebend für das unerforschliche Wesen der Welt, die wohlüberlegt-sorgfältige Verpackung, die zärtlichen Hüllen von Öl- und Seidenpapier waren in Komareks Augen fast noch bedeutsamer. Überhaupt, wer könnte die tausend heimlichen Zeichen des Reichtums ermessen? Der runde rosige Schnitt der Fingernägel! Der milchige Glanz der Haut, der von geräumigen Zimmern, kultivierter Nahrung, reichlichen Bädern, unverbindlichen Gesprächen, gesichertem Zukunftsgefühl und weichem Schlaf herrührte! Das Unnachahmliche der Kleidung, selbst wenn sie vernachlässigt war! (Wenn ein Prolet hingegen einen feinen Anzug trug, wirkte er doppelt unmöglich, schämte sich und hatte Angst, in Verdacht zu kommen.) Die Art sich zu erheben ferner, wenn die Prüfungsfrage einen dieser Auserwählten traf! Eine hochfahrende und gesicherte Art sich zu erheben, wobei auch der Lehrer einen unerwünschten Beiklang von voraussetzungserfülltem Wohlwollen nicht aus der Stimme bannen konnte, selbst wenn er im gleichen Augenblick sich an dem Lebensglanze des Prüflings zu rächen dachte.

Nach Komareks Erfahrung war auf der Skala des Glücks dem Reichtum der angesehene Name benachbart.

Der Klassenvorstand rief zum Beispiel Ernst Sebastian auf. Sebastian wußte kein Wort. Da schlug Professor Kio – und er war doch ein Gerechter unter Ungerechten – die Hände über dem Kopf zusammen:

»Was würde Seine Exzellenz, Ihr Herr Vater, der Präsident des Obersten Gerichtshofes, dazu sagen, daß sein Sohn keine Ahnung von einem hypothetischen Konditionalsatz hat?«

Welch eine Verbeugung lag noch in diesem Tadel!

In mancher Beziehung übertraf ein großer Name sogar noch das Glück des Reichtums. Ein reicher Tunichtgut wurde ohne weiteres aufgefordert, ›seinen Vater in die Sprechstunde zu schicken‹. Das Professorenkollegium hatte geradezu eine Vorliebe dafür, wohlhabende Eltern den Canossagang antreten zu lassen. Wer aber hätte es gewagt, Seine Exzellenz Hofrat Sebastian Ritter von Portorosso ins Konferenzzimmer zu bestellen?

Von den Vätern der andern Partei hingegen, die Gott geschaffen hatte, von Komareks Vater, war niemals die Rede gewesen. Die Lehrer hatten es aus einem unergründlichen Schamgefühl vermieden, davon Notiz zu nehmen, daß auch hinter Komarek eine Familie stand, um das gefährdete Schicksal des Knaben bangend.

 

Ein einziges Mal nur, als ihm das ›consilium abeundi‹ drohte, hatte der Direktor (fast widerwillig) gewünscht:

»Ich möchte jemanden von Ihren Angehörigen sprechen, Komarek!«

Zu alledem aber kam, daß Komarek gezwungen war, die Schwierigkeiten seines Loses vor den Mitschülern geheim zu halten. Wenn die Glocke des Pedellen läutete und die Knaben mit frischgewaschenen Fingern ihre Bücher aufschlugen,hatte er schon stundenlange Arbeit hinter sich. Denn ihm oblag es, seine jüngeren Geschwister anzukleiden, das Frühstück für die Familie zu bereiten und, da die Eltern ihrem Verdienste nachgingen, auch die Wohnung aufzuräumen.

Mit Reichtum und Namen aber waren die Finessen des Glücks noch lange nicht erschöpft. Gott hatte nicht nur das Geld auf unbegreifliche Weise verteilt, sondern auch das Gedächtnis. Komarek August konnte soviel büffeln, stucken, ochsen als er mochte, er merkte sich, er verstand kaum einen Bruchteil des Lehrstoffs. Fischer Robert hingegen, der aus nicht viel besseren Verhältnissen stammte als er, erfaßte den Binomischen Satz beim ersten Hören.

Zu den ungleichmäßig verschwendeten Glücksgütern mußte ferner jene Erscheinung gerechnet werden, die man gemeiniglich Charakter nennt: die klare Unberührbarkeit und Unbeugsamkeit der Person, die um sich einen Raum von Respekt verbreitet. Doch nicht nur Charakter, auch Charakterlosigkeit war ein Geschenk an die Glücklichen. Man mußte schon in Gottes besonderer Gunst stehen, um im Trommelfeuer der Erniedrigungen freundlich grinsen zu können und sich alltäglich selber ins Gesicht zu spucken.

Bereits mit dreizehn Jahren besaß Komarek die Erkenntnis all dieser Gnaden, weil er die Gnaden selber nicht besaß. Zwangsläufig ward er so zum Luzifer der letzten Bank. Ein düsterer Glanz von Rebellion schwebte um sein Haupt. Ein zähneknirschendes Duldertum lag in seinem Schweigen, wenn er auf eine Lehrerfrage nicht Bescheid wußte. Es sah dann fast so aus, als wisse er die Antwort wohl, verweigere sie aber aus Trotz. Manche Lehrer fürchteten sich heimlich vor ihm und vor seinen alten, entlarvenden Augen. Schweigend ertrug er Niederlagen, Hohn und bissige Bemerkungen. Ein paar Male aber, als das Maß überlief, war Komarek aufgesprungen, hatte getobt und unflätige Worte ins Klassenzimmer geschleudert. Mit auffälligem Eifer war man dann bemüht gewesen, ihn zu beruhigen und die peinliche Szene zu vertuschen. Ein Wunder, daß er sich unter solchen Bedingungen bis zur Matura durchkämpfen konnte.

Diejenigen der Herren aber, die erwartet hatten, heute in Komarek einen radikalen Politiker, einen Bolschewiken zu finden, waren auf dem Holzwege. Der Schulrebell hatte sich zwar mit der Weltordnung nicht abgefunden, aber er schien ihr auf halbem Wege entgegengekommen zu sein, sehr verstaubt, sehr müde und recht gleichgültig. Er trug am hageren Körper einen langen Gehrock und eine schwarze Krawatte dazu, als wäre er in Trauer.

Sebastian formulierte für sich:

›Er sieht aus wie ein sozialdemokratischer Vertrauensmann der Beamtenschaft jenes Unternehmens, in dem er es bis zur Würde eines Prokuristen gebracht hat.‹

Hier aber in dieser Runde schien Komareks bitterer Blick, der Abwehr herausforderte und Demütigung hervorkitzelte, wiedererwacht, dieser schwarze Proletenblick, der allen Glücklichen zurief: ›Ihr könnt mich zwar schlagen und demütigen, aber ich durchschaue das Ganze.‹

Sebastian wenigstens hatte diesen Eindruck, so oft er Komareks Auge kreuzte. Die Blickbegegnung war ihm widerwärtig, wenn er auch sich selbst dabei mit der routiniertesten richterlichen Undurchdringlichkeit zu wappnen wußte.

Zur Linken Sebastians, in der Sphäre der Glücklichen, saß Ressl, der Genießer, der reiche Mann.

Schon als Knabe hatte dieser Wohlgenährte behauptet, er könne die Jahrgänge der kostbaren Weine unterscheidend erschmecken und einige Dutzend Austern auf einem Sitz vertilgen. Er betrat das Schulzimmer niemals anders als mit gelben Wildlederhandschuhen, die er langsam abzustreifen pflegte. Die verborgensten Quellen erlesener Primeurs waren ihm, wenn man seinem Worte trauen durfte, geläufig. Nur in Uranoffs Keller durfte man vormittags Kaviar und Portwein genießen, nur in Belcredis Extrastube gegen Abend einen starken Trunk zu sich nehmen: Whisky, Gin, Absinth. Seidenwäsche, Krawatten, Handschuhe galten nur als vollwertig, wenn sie von Balbeck & Batka bezogen wurden. Wer Briefpapier gebrauchte, und es war nicht Englisch Bütten mit dem Dreikronenwasserzeichen, der stellte ein bedauernswertes Kulturwesen dar. Mochten amerikanische Fabriken den Markt auch immer mit trittfestem und wohlgebildetem Schuhwerk überschwemmen, ein Kavalier trug nur nach Maß angefertigte Schuhe, die der allgemeinen Mode entgegen einen persönlichen Charakter wahren durften. Denn die Fußbekleidung hatte das Recht, die Unabhängigkeit und Empfindlichkeit ihres Trägers zu offenbaren.

Die Maximen und Vorschriften, mit denen Ressl seine Mitschüler in Schrecken versetzt hatte, waren Legion.

Obgleich er die Mode angab, konnte man ihn weniger einen Elegant als einen Genußmenschen nennen, denn der Eleganz stand eine üppige Körperlichkeit im Wege. Allmorgendlich bekämpfte ein schwedischer Masseur auf Befehl von Ressls Vater die Korpulenz dieses gesegneten Sohnes. Verstiegene Geister behaupteten sogar, daß Ressl senior, der große Textilfabrikant, Fritzens Gesundheit zuliebe, ihm wöchentlich einmal eine Mätresse gedungen habe. Diese Sage war aber ebenso boshaft wie überflüssig.

Fritz Ressl, nun selber Herr der väterlichen Firma, hatte seine Korpulenz keineswegs verloren, dafür aber seine weichen blonden Haare. Er sah gutmütig und leicht geniert Burdas Veranstaltung ins Auge. Das kleinbürgerliche Lokal erfüllte ihn sichtlich mit Widerständen. Es schien, als habe er nur ungern die Handschuhe abgelegt und fühle eine leichte Scheu, Tisch, Stuhl und Besteck zu berühren. Immer wieder sah er, um Einverständnis werbend, zu Sebastian hin. Doch konnte er keine rechte Gesprächsbrücke zu dem Schweigsamen finden. Dieser bewahrte eine steife Haltung, die von Minute zu Minute ablehnender wurde.

Durch die sonderbare Rückverwandlung stellten sich für die kurzen Stunden dieser Zusammenkunft die alten Beziehungen der Klassengemeinschaft wieder her. Ressl hatte immer einen großen Respekt vor Sebastians Namen, vor Rang und Würde seines Vaters gefühlt.

So unsinnig es war, nach fünfundzwanzig Jahren, jetzt, da sich die Welt durch Krieg und Revolution um- und umgestaltet hatte, bedrückte ihn dieser lächerliche Respekt wieder, und mehr vielleicht noch als damals. Er, Ressl, war Großindustrieller, Herr über Konzerne und Bankunternehmungen, einer der reichsten Männer des Landes, und dennoch,die Nähe dieses schlechtbesoldeten Staatsbeamten bedrückte ihn.

Die alten Wertungen waren nicht gänzlich abzutöten. Ein Minister, ein Diplomat, ein Würdenträger, was bedeutete das heute? Hundertmal pflegte Ressl den Satz auszusprechen, daß er ›als Mann der Wirtschaft im Leben stehe‹, während ein Politiker, ein Staatsfunktionär, ein Richter nicht im Leben stehe. Aber was half das? Im Leben zu stehen schien doch nicht als Wert aller Werte zu gelten! Denn Ressl war jetzt eifrig bestrebt, ein Gespräch mit Sebastian in Gang zu bringen, obgleich er selber ein Mann der Wirtschaft war und jener nicht im Leben stand.

Im Übrigen wußte Ressl genau, daß die Umwälzung jene höheren Kreise, die man ›Gesellschaft‹ nannte, nicht vernichtet, sondern nur verarmt, aber dadurch noch unzugänglicher und hochmütiger gemacht hatte. Wie man hörte, spielte Sebastian in diesen Kreisen eine geachtete Rolle. Wenn Ressl erlauchte Herrschaften zu den Empfängen in sein Palais lud, so leistete man der Einladung gerne Folge, trank ausgiebig vom Sekt des Hausherrn, betrug sich freundlich-nonchalant, war aber gar nicht sehr beeilt, die Gastgeber im eigenen Hause wiederzusehen. ›Du bist wohl ein Snob geworden‹, dachte der Fabrikant, während er aufmerksam und zu jeder Anerkennung bereit seinen stillen Nachbarn anlächelte.

Faltin hingegen, der Advokat, schräg gegenüber, bestürmte Sebastian unbekümmert mit allen möglichen Ereignissen und Neuigkeiten, so, als sähe er ihn nicht nach langen Jahrzehnten das erstemal wieder, sondern setzte eine kurz vorher abgebrochene Unterhaltung fort. Personennamen, Daten, Summen stürzten sich von seinen breiten ungeformten Lippen kopfüber ins Ungewisse. Faltin, der Allgegenwärtige, war sich treu geblieben. Er überströmte von Informationen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens. Diese Informationen waren nicht ganz so zuverlässig, wie sie leidenschaftlich vorgebracht wurden. Kam es denn auf Wahrheit an, wenn unstillbare Sucht einen antrieb, Freunde und Bekannte vom wilden Getümmel des Daseins in Kenntnis zu setzen?

Faltin bemühte sich redlich, immerdar Zeuge zu sein, aber ein Mensch, auch der teilnehmendste, ist nur ein Mensch. So mochte es vorkommen, daß sogar Faltin im Laufe eines seiner sprudelnden Berichte nicht mehr wußte, was er seinem Partner Neues mitteilen könnte. In solchen Minuten trostloser Ausgeleertheit sagte er dann plötzlich:

»Hören Sie! Als ich neulich durch den Stadtpark ging, kam mir der Opernsänger Arimondi entgegen ...«

Worauf der andere erstaunt erwidert:

»Aber Faltin, das ist unmöglich! Arimondi ist ja schon jahrelang tot.«

Faltin aber blickt dem Entlarver nicht allzu erstaunt ins Gesicht und nickt nur:

»So!? Er hat auch wirklich miserabel ausgesehen!«

Solche Geschichten bewiesen zur Genüge, daß der gute Faltin kein Lügner war, sondern nur von liebreichem Diensteifer brannte, den Menschen anregende Begebenheiten zu erzählen.

Gott weiß, welch anregenden Vorgang er der Tischrunde gerade zum Besten geben wollte, als Karlkurt Schulhofs, des Oberregisseurs, eindringliches und geschultes Organ die Unterhaltung an sich riß.

Schulhof, der Künstler, der die Welt und die Größen der Welt kannte, fühlte sich am weitesten über seine ehemaligen Kameraden emporgewachsen. Er trug die Miene geduldiger Überlegenheit und gutmütiger Hinneigung zur Schau, wie sie Erwachsene gegen Kinder annehmen. Dabei hatte er es Burda verschwiegen, daß er eigens wegen der heutigen Veranstaltung seine Reise unterbrochen hatte, die ihn zu Filmaufnahmen nach Italien führte. Er gab vor, auch hier wegen vielfältiger Pläne und Geschäfte vierundzwanzig Stunden verbringen zu müssen. Sich selber gestand er niemals ein, daß er bei allen Erfolgen, die er in der Welt errang, insgeheim immer die Wirkung auf seine alten Schulfreunde, auf die Stadt, in der er groß geworden, in Betracht zog, obgleich er diese Stadt und diese Leute geringzuschätzen meinte.

Heute aber und hier mußte er erkennen, daß seine Taten und sein Ruhm diese mittelmäßige Gesellschaft von Kaufleuten, Staats-, Bank- und Privatangestellten durchaus nicht aus dem Gleichgewicht gebracht hatten, daß sich seine Erfolge in einem Reich abspielten, das diesen Bürgern meilenfern lag. Es war zweifelhaft, ob einer der Anwesenden seine Aufsatzreihe ›Prinzipien einer neuen Bewegungsregie‹ oder ›Die Bühne als Raumkunstwerk‹ gelesen hatte. Von seinen im Angesichte Deutschlands errungenen Siegen, von der epochalen Gestaltung ›Leonce und Lenas‹ zu Lauchstädt dürfte wohl keiner ein Sterbenswörtchen erfahren haben. Sicherlich durchackerten diese Leute mit fleißig gerunzelter Stirne alltäglich den Leitartikel, den Handelsteil und die Schwurgerichtsecke ihrer Leibzeitung, die Theater- und Kunstnachrichten aber überschlugen sie ahnungslos.

Einst, in ihrer Jugend, da hatten einige von ihnen Gedichte und Dramen verfaßt, lange Nächte mit philosophischen Gesprächen totgeschlagen und eine große Zukunft erhofft. Er, Schulhof, war damals im Schatten eines Sebastian gestanden. Doch wenn man diesen Herrn Sebastian heute in Augenschein nahm, was war von all der Herrlichkeit zurückgeblieben? Ein eingebildeter Jurist mit verkniffenen Lippen wie hundert andere! Die Zeit allein bringt das wahre Talent zur Reife. Und Schulhof war, wie er befriedigt feststellen durfte, das einzige Talent des Jahrgangs.

So hoch hatte er sich über das Niveau der Mitschüler erhoben, daß er gar nicht über die Feinheiten seiner Kunst mit ihnen sprechen konnte, sondern, wider seinen guten Geschmack, sich mit den populärsten Mitteln der Mehrheit zu Gemüte führen mußte.

Er erzählte also laut, damit ihn auch die auflauschende Gruppe von Festangestellten am unteren Tischende höre, wie er des öfteren vom Reichspräsidenten in ein leutseliges Gespräch gezogen worden sei und als einer der besten Freunde des theaterliebenden Exkönigs von Bulgarien im Schlosse zu Koburg alljährlich mehrmals logiere. In aller Bescheidenheit – Sebastians Zuhören machte ihn unsicher – verriet er, daß niemand anderer als er vom Botschafter in Paris aufgefordert sei, an der Seite einer Weltberühmtheit die Verständigungsfestspiele zu leiten. Worauf er aber den höchsten Wert zu legen schien, war die vertraute, ja väterliche Beziehung, die er mit den größten Bühnenkünstlern der Zeit unterhielt. War solch ein prominenter Stern in eine künstlerische Bedrängnis geraten, so kam er – es blieb ihm nichts anderes übrig – zu Karlkurt Schulhof, sich Rat zu holen. Und Schulhof wußte Rat. »Max«, sagte er dann zu dem Gewaltigen, vor dem die Direktoren zitterten, »Max, du bist ein großer Kerl, aber den Text darfst du nicht verdrehen. Darin steckt Eitelkeit! Den Dienst am Kunstwerk sollen wir alle nicht vergessen, Max, wenn es auch nur ein Schmarren ist!«

 

Schulhof war eben dabei, seine reine Kunstgesinnung ins rechte Licht zu rücken, als ein Ruck durch die Versammlung ging und die Herren, wahrhaftig wie eine Schulklasse, sich mit scharrendem Lärm und im Takt erhoben.

Von Alter und Siechtum gebeugt war das Männchen, das von einem aufgetakelten Dienstboten jetzt durch die Tür des Extrazimmers geschoben und den Armen Burdas anvertraut ward.

Regierungsrat Professor Wojwode (Geographie und Geschichte), ein Veteran, ein Überlebender des Lehrkörpers, der die hier jubilierende Generation durch die vorschriftsmäßigen Wissenschaften geleitet hatte.

Halbblind und schüchtern lächelte der Greis die vielen fremden Gesichter an, diese geätzten und unfrohen Gesichter von Vierzigjährigen, auf welche die schon abgenützte Stoffwechsel- und Blutumlaufmaschine ihre ersten Mahnsignale zu schreiben begann. Ein anderes Zeichen aber war auf Wojwodes Gesicht geschrieben, auf das graue und verwischte Blatt. – Denn dieses unterwürfige Lächeln, welches alle Lebenden um Verzeihung zu bitten schien, daß es noch »Ich« sagte, die schweratmig schlaftrunkene Kinderfrage, die das herabhängende Kinn wehmütig stellte, all dies mußte als unwiderrufliches, als hippokratisches Zeichen gelten.

Wenige Monate, wenige Wochen später, und es wäre zweifelhaft gewesen, ob der Geographie- und Geschichtslehrer Wojwode noch hätte unter seinen Schülern weilen können.

Beim Eintritt des Alten aber war mit diesen Schülern eine merkliche Veränderung vorgegangen, sie waren nämlich über ein Vierteljahrhundert hinweg wirklich wieder Schüler geworden. Dies zeigte sich in geschwätziger Unruhe, in der vordringlichen Verlegenheit, die sie erfaßt hatte, in der Art, wie sich jeder dem Regierungsrat in Kenntnis zu bringen trachtete, und schließlich darin, daß sie den alten Lehrer wie einst nur in der dritten Person anredeten.

Wojwode mußte viele Hände ausführlich schütteln.

Betäubt von so viel lauten und kräftigen Menschen, stammelte er mit versagender Stimme freundliche Worte.

Zehntausend Schüler waren während seiner fünfzig Dienstjahre an ihm vorübergezogen, nein, als eine unruhig bewegte Horde, schwätzend, schwindelnd, spielend, störend vor seinen Augen in grünen Bankreihen gesessen.

Acht Jahre und immer wieder acht Jahre!

Für Kinder sind acht Jahre eine Ewigkeit.

Acht Jahre, was sind sie für einen alten Berufsmenschen?

Acht Jahre immer dasselbe: Andrés Schulatlas, grünbraun die geographischen, farbenbunt die politischen Landkarten! Acht Jahre und immer wieder acht Jahre! Die nördlichen Kalkalpen, die Uralpen! Gneis, Granit und Glimmerschiefer! Die Schlacht bei Cannä! Der Westfälische Friede! Der Investiturstreit! Der spanische Erbfolgekrieg ... Grüne, unruhige Bankreihen! ... Ein Gewirre von vielen tintenbefleckten, ungezogenen Bubenhänden! Im Hof unten spielt ein Leierkasten das Sextett aus Lucia ... Acht Jahre ...

Kindergesichter hätte er vielleicht wiedererkannt, aber diese wildfremden, überströmend lauten Herren?! Gott, Gott! Wenn er es nur wird aushalten können! Der Raum beginnt zu schwanken. Vielleicht hatte seine Wirtschafterin recht gehabt, als sie ihm diesen Ausgang nicht erlauben wollte. Wojwode lächelte unterwürfig und flüsterte immer wieder:

»Freu mich, freu mich sehr, meine Herren!«

Endlich – es war höchste Zeit – geleitete Burda den erschöpften Alten zu seinem Ehrenplatz.

Da saß er nun, erleichtert, obwohl alle Augen auf ihn gerichtet waren: Fischers, des Primus Augen, die sich, plötzlich selbstbewußt geworden, zum Worte zu melden schienen, Komareks bohrende Vorwurfsaugen und Sebastians zuwartender Blick.

Faltin brachte schnell etwas an:

»Verehrter Herr Regierungsrat! Ich bin gestern am Hause des Herrn Regierungsrat vorübergegangen, da habe ich eine Dame gesehn; ich nehme an, die Frau Tochter ...«

Faltin hatte einen schlechten Griff getan. Der Alte verzog wehleidig den Mund und wehrte ab:

»Meine Tochter ist seit zwanzig Jahren verheiratet. Ich weiß gar nicht, wo sie jetzt lebt. Nein, nein ... Im Gegenteil. Ich bewohne mein Quartier Gott sei Dank allein.«

Faltin zog sich betreten zurück.

Schulhof aber brachte nun seine Persönlichkeit zur Geltung: »Herr Professor sehen erstaunlich jung aus. Brillant geradezu! Wirklich unverändert ...«

Wojwode erschrak:

»Zu gütig, meine Herren! Entspricht leider nicht der Wahrheit. Alten Menschen geht es derzeit nicht gut. Und uns alten ausgedienten Lehrern gar! Du guter Gott! ... Fragen Sie doch den Herrn Kollegen Burda! Er kümmert sich in seiner Herzensgüte um uns verlassene Invaliden. Ja, ja! Er ist der Einzige ...«

Schulhof zeigte nachsichtige Begeisterung:

»Ich weiß, was ich sage, Herr Regierungsrat. Wir werden – ich gebe Ihnen mein Wort darauf – noch das nächste Jubiläum gemeinsam feiern. Wie ich Sie hier vor mir sehe, erinnere ich mich wieder an hundert Einzelheiten der alten Zeit. Ich habe nichts vergessen. Und das heißt etwas bei meinem Beruf, der mich in Europa und Amerika täglich mit hundert Menschen zusammenbringt, und ich darf sagen, mit den interessantesten und verschiedenartigsten Menschen!«

Ach, wie freundlich war doch dieser wohlgekleidete und bewegliche Herr, der es im Leben gewiß zu einer hohen Stellung gebracht hatte! Der Alte strengte sich an, irgend einen Anhaltspunkt zu finden. Gerne hätte er gute Worte mit guten Worten erwidert. Nichts fiel ihm ein. Aber Schulhofs Scheitel, Sprachglätte, Gesichtsschnitt erweckten Vorstellungen, die er jetzt nur ziellos in Worte kleiden konnte, in eine jener Professorenwendungen, wie er sie hundertmal gebraucht hatte:

»Jawohl, viele sind berufen und wenige auserwählt! Ich habe es immer gesagt: Nicht jeder ist ein Makart, der denGriffel führt. Aber dann und wann darf man freudige Überraschungen erleben.«

»Ich bin beim Theater«, stellte Schulhof fest und nannte seinen Namen.

Nun aber hatte sich Burda erhoben.

Es war keine witzige Rede, die er hielt, kein welker Kneipzeitungsspaß, wie er bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Die Augen des kleinen Pädagogen waren ganz schwer von dem Schicksal der Generation, die mit ihm aus dem Abgrund der Zeiten aufgetaucht war. Er fühlte wahrhaft brüderlich, als er die Kameraden begrüßte und dem uralten Ehrengast innig für sein Erscheinen dankte.

Ist sie denn etwas gar so Geringfügiges, diese Gemeinschaft, die acht lange Jahre, die längsten des Lebens, uns aneinanderkettet? Nur Wesen, die allein im Augenblick leben, nur Geschöpfe ohne Rechenschaft und Erinnerung, nur Hohlköpfe, Hohlherzen oder Frauen vermögen nicht zurückzukehren, können die sonderbarste Mannesrührung, den Blick auf die eigene Jugend nicht verstehen. Mannheit aber sei Kontinuität und Ethos Gedächtnis!

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