Buch lesen: «Die schwarze Baronin»
Franz Preitler
Die schwarze Baronin
Roman
Leykam
Zitat
Die Geschichte der Tamara von Lützow zeigt, dass sich die wahren Werte im Laufe der Zeit nicht verändert haben. Leidenschaft ist noch immer Leidenschaft, Liebe ist noch immer Liebe, Lügen sind noch immer Lügen. Wer sich ständig nach dem Wind dreht, hat den Boden der Wahrheit damals wie heute verlassen.
Prolog
„Darf ich nun eine der anwesenden Damen um eine Taschenuhr ohne Kette bitten?“, fragte der Zauberer die in einem kleinen Saal versammelte Zuschauermenge. Die Leute folgten gespannt den Ausführungen des Mannes mit der etwas untersetzten Statur – Bellachini. Er war ein Redner mit gekonntem Witz, sein edler Anzug verriet Geschmack – sein ganzes Erscheinen wirkte seriös und überzeugend. Eine ältere Dame kramte hastig in ihrer Handtasche und holte eine kleine Uhr hervor. Sie hob begeistert die Hand: „Hier, Herr Bellachini, hier!“ Der Zauberer lächelte verschmitzt und bedeutete mit einer lockeren Handbewegung dem Mädchen an seiner Seite: „Komm, lauf schon, Leontine, bring die Uhr der werten Dame zu mir! Jetzt lauf schon!“ Leontine, ein feingliedriges, schmalhüftiges Mädchen mit schelmischem Lächeln, das dem Künstler assistierte, tänzelte mit schwungvollem Getue zur besagten Dame. Sie machte vor ihr einen flüchtigen Knicks, bevor sie die Uhr behutsam entgegennahm. Mit einem auffallend gekünstelten Gehabe brachte sie die golden glänzende Uhr dem Magier, ihrem Vater, der jede ihrer Bewegungen mit einem Augenzwinkern verfolgte. Dass die Assistentin seine Tochter war, konnten sie beide bei Gott nicht leugnen. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Leontine hatte dieselben dunklen, gekrausten Haare und fast ebenso schwarze Augen wie ihr Vater. Ihr zarter Oberkörper schien, ähnlich dem seinen, ein wenig zu kurz gewachsen. Das Mädchen wirkte mit ihrem kleinen Gesicht und der zarten, länglichen Nase wesentlich jünger, als sie tatsächlich war, besaß jedoch beim genauen Hinsehen bereits eine Fülle weiblicher Reize. Ihr Vater selbst war eher stämmig, hatte einen breiten Kopf und einen sonnengebräunten Teint. Leontine umkreiste mit einer schwungvollen Drehung den Zauberer und griff nach einem Bogen Papier. Er lag mit vielen weiteren Utensilien auf dem kleinen, hölzernen Stehtisch hinten an der Wand. „Geht die Uhr, meine Dame? Wissen Sie, bei Damen frage ich nämlich immer, ob die Uhr wirklich geht!“ Lautes Gelächter durchbrach die Stille im Saal und Bellachini meinte mit einer kleinen Handbewegung: „Weshalb, sage ich lieber nicht.“ Es folgten einige Zauberkunststücke mit der Uhr: Verschwinden und Erscheinen – die Leute applaudierten eifrig. Dann steckte er sie in das Stück Papier, das ihm Leontine schon einige Zeit ungeduldig hingehalten hatte. „Bitte mein Herr, überzeugen Sie sich selbst, ob die Uhr geht. Auch Sie mein Herr.“ Die Männer horchten dem Ticken der Uhr, nickten bejahend. Neugierige Blicke wanderten durch den Raum und man konnte eine erwartungsvolle Spannung spüren. „So, die Uhr liegt hier nun auf diesem Tisch, hier zur Rechten. Sehen Sie? Nun Leontine, bitte meine Taube.“ Das Mädchen hüpfte mit kleinen Schritten um den Zauberer herum, lächelte und brachte ihm die gewünschte Taube. „Großer Meister, ganz wie Sie wünschen. Die weiße Taube!“, so ihre Worte, die sie mehr gesungen als gesprochen hatte. Dann legte sie die Taube auf die Kante des Tisches. Sie lag wie tot da. Der Zauberer nahm den Papierbogen, wickelte die Taube darin ein und zündete das Papier an. Ein Raunen ging durch den Raum und alle blickten mit großen Augen auf das brennende Papier. Leontine versuchte mit einem kleinen Fächer den Rauch zu zerstreuen. Als das Papier fast bis zur Mitte verbrannt war, löschte ihr Vater die Flamme und griff nach einem zweiten Bogen Papier, den er um das Paket wickelte. Dann nahm er eine Weinflasche, die ihm Leontine gebracht hatte, goss sich daraus ein Glas Rotwein ein, um die Anwesenden davon zu überzeugen, dass nichts anderes darin sei, und trank es in einem Zug aus. Im Anschluss nahm er das Stück Papier mit der Taube, legte sie neben die leere Flasche und meinte: „Und nun gehe fort, liebe Taube, gehe fort und verschwinde in der Flasche.“ Die Menschen staunten und erschraken sehr, als Leontine mit einem Hammer lautstark die Flasche zerschlug und die Taube wieder zum Vorschein kam. An einem Fuß der Taube befand sich die Damenuhr – sie war mit einem roten Band angeknüpft. Aus dem Publikum kam tosender Applaus. Leontine löste behutsam die Uhr vom Fuß der Taube, brachte sie der Dame zurück und setzte den Vogel in den leerstehenden Käfig. Die Leute staunten und Leontine verneigte sich freudestrahlend. „Danke, vielen Dank meine Herrschaften.“ Ihr Vater blieb ernsten Blickes und stellte sich fragend vor das begeisterte Publikum. Die Leute lauschten gespannt seinen Worten. „Jetzt bitte ich ganz ergebenst um eine Herrenuhr.“ Ein Mann aus der vordersten Reihe stand auf und brachte dem Zauberer seine Uhr mit Kette. „So, danke, bleiben Sie gleich hier, mein Herr.“ Er wickelte auch diese Uhr in einen Bogen Papier und drückte das Paket dem Herrn in die rechte Hand. „Sehen Sie, wir wollen den Bogen Papier mit der Herrenuhr in den Trichter dieser Pistole tun. Leontine, meinen Spiegel bitte!“ Seine kleine Assistentin hüpfte zurück zum Tisch, holte einen Taschenspiegel hervor und rief: „Sie sehen hier einen kleinen Toilettenspiegel!“ Bellachini griff nach dem Spiegel, drehte ihn um und meinte dabei: „Von vorne sieht er so aus und von hinten sieht er so aus. Meine werten Herrschaften, das ist ein kleiner Zauberspiegel. Sie können in demselben alles Mögliche sehen. Affen, Tiger, Löwen, Elefanten und vieles mehr. Meine Damen, man kann darin sogar Engel sehen. Bitte schauen Sie nur selbst hinein. Diesen kleinen Toilettenspiegel gebe ich nun meiner Assistentin zurück. Sie wird ihn halten, während ich nun die Uhr auf ihn schieße. Eins – zwei – drei!“ Leontine hielt sich mit einer Hand die Augen zu und verzog ihr Gesicht zu einer komischen Fratze, während sie auf der Stelle zappelte, als habe sie Angst vor dem, was im Anschluss geschehen könnte. Die Zuschauer warteten gespannt und zuckten bei dem lauten Knall, der aus der Pistole kam, erschrocken zusammen. Der Zauberer schoss und das Glas des Spiegels lag in Scherben vor Leontine auf dem Boden. Manche der erschrockenen Damen stießen spitze Schreie aus. Das Mädchen zeigte zufrieden mit dem Finger auf den Spiegel ohne Glas. An seinem Rahmen befand sich die Herrenuhr, die sich ihr Vater zuvor ausgeliehen hatte. Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille im Raum, ehe donnernder Applaus erklang. „Danke gehorsam, vielen Dank für Ihren Applaus!“, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Seine dunklen Augen funkelten. Dann nahm er seine Assistentin bei der Hand und beide verneigten sich vor dem begeisterten Publikum. „Bravo, bravo!“, riefen die Leute im Saal. „Nach einer kurzen Pause werde ich einen der anwesenden Herren um einen Zylinder bitten“, rief er in die Menge und verschwand mit seiner Assistentin hinter dem roten Vorhang. Die Leute applaudierten nach wie vor, während sich der Künstler in seinen Sessel fallen ließ, eine Zigarre anzündete und Leontine anwies, ihm ein Glas Wein einzuschenken. Genüsslich trank er einen Schluck davon und meinte zu ihr: „Siehst du, mein Kind! So muss man das Publikum täuschen, dann rückt es auch mit dem vielen Geld heraus!“ „Ach ja? Dann möchte ich endlich etwas von dem vielen Geld sehen und nicht nur Almosen von dir bekommen!“, antwortete sie in einem gedehnten, scharfen Tonfall. Ihr elfenbeinweißer Teint wurde noch blasser und ihre Lippen bildeten nur mehr einen schmalen Strich, der über dem schwach entwickelten Kinn zu verschwinden drohte. Ihr Vater warf Leontine einen strengen Blick zu und machte eine ungeduldige Geste mit der Hand. „Geh hinaus und verbeuge dich lieber noch einmal, mein Kind. Die Leute applaudieren uns immer noch und ich will die kurze Pause doch genießen! Jetzt geh schon!“ Als Leontine weg war, nahm er einen kräftigen Schluck aus der Flasche und lehnte sich zufrieden in seinen Sessel zurück.
„Wie ich sie alle hasse“, sagte Leontine zu sich selbst, während sie sich mehrmals vor dem applaudierenden Publikum anmutig verneigte. Sie versuchte, so gut es ging, freundlich zu lächeln. Tränen stiegen in ihre Augen. Nicht vor Freude, sondern vor Zorn.
Tamara
Wien im März 1914, Café Imperial
Schön, dass du heute so spontan Zeit für mich hast. Wir haben doch immer so angenehm miteinander geplaudert. Erinnerst du dich noch? Natürlich ist es sehr lange her. Wie lange ich in Wien bleibe? Ich denke, nicht besonders lange. Vorerst ist mein Zimmer hier im Imperial für drei Tage gebucht. Warum nur so kurz? … Weißt du, weil ich anschließend nach München fahre, um mich mit einem Mann zu treffen. Um Himmels willen! Nicht, was du denkst, meine Liebe. Er ist ein bekannter Schriftsteller und an meiner tragischen Geschichte interessiert. Ich weiß jetzt schon, dass es mir sehr schwerfallen wird, darüber zu reden. Immer wenn ich darüber nachdenke, bekomme ich furchtbares Herzklopfen und meine Kehle ist wie zugeschnürt von der Angst, die nun wieder in mir aufsteigt. In erster Linie will er über meine furchtbare Zeit in Mürzzuschlag schreiben. Du kennst die Geschichte, ja? Genau die, die mich unschuldig ins Gefängnis brachte. Gebrochen an Leib und Seele wusste ich, dass ich das Opfer einer politischen Intrige war. Zu vier Monaten Gefängnis wurde ich verurteilt für eine Schuld, die andere auf sich geladen hatten, meine Untersuchungshaft ist mir dabei nicht angerechnet worden. Sie haben es gewagt, mich unschuldig einzusperren und vom Licht der Sonne und vom Glanz des Mondes auszuschließen. Ich allein kenne die Wahrheit, verstehst du? Die bittere Wahrheit! Schau in mein Gesicht und du wirst sehen, wie müde ich geworden bin. Nachts schlafe ich schlecht. Und schließe ich die Augen, bilde ich mir ein, immer noch in Haft zu sein. Ich habe bereits die Jahre zuvor viel gelitten, nach dem schrecklichen Vorfall wurde alles noch schlimmer. Schonungslos hat sich die Hölle aufgetan und versucht, mich zu verschlingen. Mein bitterer Kampf war hart, aber nicht aussichtslos. Die Enttäuschung hätte mich fast um den Verstand gebracht. Sogar im Irrenhaus bin ich gelandet. Das war enorm demütigend, entwürdigend. Ich verlangte weder Mitleid noch Hilfe und trotzdem standen sehr viele Leute auf meiner Seite. Sie waren nicht nur von meiner Unschuld überzeugt, sondern kämpften sogar um mich. Verstehst du? Im Unterschied zu meinem Mann, der viel zu schwach dafür war. So gut er auch sonst gewesen sein mag. Ob ich dir ein Foto von ihm zeigen kann? … Gerne, warte einen Moment, ich suche gleich in meiner Handtasche, denn ich trage stets ein Bild von ihm mit mir. Dumm, ich weiß. Aber ich kann nicht anders. Hier ist das Bild, schau, das ist er. Siehst du diese Augen? Sie lachen unschuldig und rein. Ja, so war er, unerfahren und treuherzig. Ich fragte mich: Wie kann ein so schöner, stattlicher junger Mann, der mitten im Leben steht, derart vertrauensselig sein? Er war ein Mensch, der ständig mit der Welt Frieden halten musste, um in seiner Seele Ordnung zu schaffen. Was los ist? … Entschuldige, gib mir eine Minute, ich muss die Tränen aus meinen Augen wischen. Siehst du, ich bin noch immer nicht über das Furchtbarste hinweg – wie stark doch die Toten sind. Eines Tages tauchen sie wieder auf, vielleicht ist gerade heute so ein Tag. Es gab kein Wort des Abschieds und ich hatte keine Chance, mit ihm über all das zu reden, was zwischen uns stand! Ob ich vergessen kann? … Nein, auch nach den vielen Jahren nicht. Wie? … Die Zeit heilt alle Wunden? … Das sagt sich so einfach. Ich habe meinen Franz über alles geliebt. Manchmal denke ich, ich liebe ihn noch immer. Besser gesagt, ich werde diesen Mann mein Leben lang lieben. Es gibt Wunden, die nicht einmal die Zeit heilt. Das weiß ich. Warum? … So etwas spürt man einfach. Du kennst mich ja und weißt, dass ich eine Frau mit besonderer Moral bin und nach dem Prinzip erzogen wurde, dass man sich durchs Leben schlagen muss. Keine Dahergelaufene, wie es sie überall zuhauf gibt. Mein Leben war davon bestimmt, dass ich aus jeder Situation etwas gemacht habe. Dazu bedarf es einer besonderen Kraft und Disziplin. Ich war nie ein schwacher Mensch, im Gegenteil. Andere haben von meiner Kraft profitiert und meine Energie in sich aufgesogen. Mein einziger Fehler ist, dass ich ohne Liebe nicht leben kann. Es ist schwer, das alles zu erklären. Sagen wir es einmal so: Die Männer wussten das gekonnt auszunutzen. Das ist wie mit den Misteln und dem Baum. Plötzlich hast du einen Mann an deiner Seite und im Handumdrehen befindest du dich in einer Beziehung. Ich denke, eine Beziehung zwischen Mann und Frau ist immer etwas Bindendes. Etwas, das Körper und Seele zweier Menschen verknüpft. Noch viel mehr, wenn er dein Ehemann ist. Die Ehe ist für mich etwas Heiliges. Das hat mir meine Mutter immer gepredigt; und dass man sich als Ehefrau glücklich schätzen muss und für die Liebe des Mannes stets dankbar sein sollte. Ja, das hat sie mich gelehrt – und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Schau mich bitte nicht so an! Natürlich hast du recht, ich selbst bin heute eine zutiefst unglückliche Frau, die elend zugrunde gehen muss, weil ihr Horizont größer ist als eine Mürzzuschlager Waschschüssel. Ich führe einen harten Kampf, das Wissen um meine Schuldlosigkeit gibt mir Kraft und Mut. Die tausend Beweise für echte Anteilnahme heben meinen tieftraurigen Seelenzustand. Bin ich eine Durchschnittsfrau?
Es war stets mein innigster Wunsch, alle nur erdenkbaren menschlichen Facetten im Namen der Liebe auszukosten. Ich persönlich neige dazu die Liebe als das fünfte Element nach Feuer, Luft, Erde und Wasser zu bezeichnen. Sie ist mystisch und allumfassend und alleine deshalb eben musste ich für so manchen eine Hochstaplerin sein, wenngleich sich damals trotz aller Aufrufe während der fünf Monate kein Einziger der von mir angeblich Geschädigten meldete! Du kannst dir wohl vorstellen, in welcher inneren Verfassung ich mich noch immer befinde. Aber die wahnsinnige Empörung über das mir zugefügte Unrecht, das eine ganze Familie ins tiefste Unglück brachte, hat mich auch körperlich mitgenommen. Sieh mich bloß an. Ich habe eine schwere Krankheit mit Mühe überstanden. Und über die Behandlung während meiner Haft erzähle ich dir später noch ausführlich, es wird dich erschüttern!
Wenn ich an all die Zerrbilder denke, die man von mir entworfen hat, steigt Bitterkeit in mir auf. Man glaubt in mir so eine Art Flittchen sehen zu müssen, die sich um kurzer Genussstunden willen, die sich dafür, dass sie sich mit Prunk umgeben kann, dem Meistbietenden in die Arme wirft. Die Welt denkt, ich sei eine verblühte Frau, der der einst farbenprächtige Staub ihrer Schmetterlingsnatur fortgeweht ist, die sich um jeden Preis eine sorgenlose Existenz schaffen wollte. Ich bin jedoch eine tiefernste Natur! Der stete Kampf gegen mein Schicksal, dieses Sich-unausgesetzt-in-Notwehr-Befinden, hat mir Mut und Energie gegeben – und eine große Rücksichtslosigkeit. Mein ganzes Leben war ja ein einziges Sich-Aufopfern für andere und so mag es sein, dass Gott mich genau dafür auch noch bestrafte. Wieso? … Weil ich ständig meine eigenen Bedürfnisse zurückstellte, Sinn und Zweck meines Lebens allein darin sah, andere Menschen glücklich zu machen. Glaubst du mir nicht? Nein, nicht aus Liebe alleine, nicht aus kleinlichem Selbsterhaltungstriebe heiratete ich mehrmals. Sondern aus dem Gefühl heraus, einem Menschen etwas sein, ihm eine Heimat geben zu können, die ich auch selbst so sehnsüchtig erhoffte. Es kam mir so erhaben vor, sich selbst in der Sorge um einen anderen zu vergessen. Wenn ich dann einsehen musste, dass der Mann sich nicht einmal die geringste Mühe gab, mein Seelenleben zu verstehen, sondern mich nur seine Wirtschafterin sein ließ, die geistig neben ihm darben sollte, wenn dann noch die Erkenntnis dazukam, dass der Mann durch und durch schlecht und gemein war, dann war meines Bleibens nicht länger. Ich ging wieder hinaus in die Welt und nahm den Kampf mit dem Leben mutig auf. Allemal aber ging ich bettelarm fort – betrogen und belogen, in den heiligsten Gefühlen misshandelt! Wie? … Die Geschichte meiner vier Ehen zuvor willst du wissen? Ach, wie schwer es ist zu leben. Jetzt soll ich das Ganze wieder aufwühlen? Na gut, ich will es für dich tun, auch wenn es mich enorme Kraft kostet. Hast du denn überhaupt so viel Zeit?
Ich war kaum siebzehn Jahre alt, als ich Herrn Kunz in Berlin heiratete. Einen sehr gut aussehenden, stattlichen Mann. Ich wusste nichts vom Leben, nicht einmal einen Ball hatte ich bis dato besucht; meine Mutter führte ein einsames Dasein, nachdem ihr einziger Sohn im Duell gefallen war. Niemand kam in unser Haus. Ich war von Kindheit an von einem glühenden Wissensdurst beseelt und meine kluge, hochintelligente Mutter half mir, diesen zu befriedigen. Dann heiratete ich diesen Agenten, hatte eine entzückende Wohnung – aber keinen richtigen Mann. Ich war zu unerfahren, um das zu verstehen, wunderte mich aber, dass der Herr die wunderschönsten Stickereien anfertigte und mir ständig die Haare machen wollte. Er hatte in seiner ganzen Art etwas Weibliches und war mir also kein Ehemann. Ich wartete wohl auf etwas, gab mich jedoch mit der Zeit auch ohne dieses Etwas zufrieden. Schon nach wenigen Tagen unserer Ehe, wenn man dieses Zusammensein so nennen kann, blieb mein Mann Tage und Nächte aus, ohne dass ich wusste, wo er sich befand. Er verreiste für lange Zeit, ohne mir auch nur einen einzigen Brief zu schreiben, ohne dass ich seinen Aufenthaltsort kannte. Eines schönen Tages erfuhr ich das Schreckliche. Er war ein Säufer, ein Spieler, hatte Wechsel gefälscht, Unterschlagungen gemacht und sollte verhaftet werden. Du kannst dir wohl vorstellen, was ich durchmachte. Es brauchte übermenschliche Kraft, all das zu verstehen. In meiner Gutgläubigkeit gab ich ihm alles, was ich besaß, und verhalf ihm zu seiner Flucht nach Amerika, deckte mit dem Letzten seine Schulden und Fälschungen – er versprach mir, im Gegenzug dafür ein neues Leben anzufangen. Sobald alles in geordneten Bahnen verlaufe, so seine Worte, werde er mich nach Amerika nachholen. Vielleicht hätte ich nicht so gelitten, wenn ich ihn gleich losgelassen hätte. Doch ich wartete und wartete auf seine Nachricht, bis ich einsehen musste, dass er mich betrogen hatte. Was weiter aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Erst bei meiner Verhandlung in Leoben vernahm ich, dass er gestorben sei.
Ich mietete mir dann damals ein kleines Zimmer und fristete mithilfe kunstvoller Handarbeit mein Leben, bis ich als Gesellschafterin einer Dame eine Stellung fand. Bei dieser Dame zu Hause war alles ein wenig anders als seinerzeit bei uns. Sie wohnte in einer großen Mietvilla mit einem weitläufigen Garten und hatte im Gegensatz zu uns auch Bedienstete. Alles war fein, gesittet und geregelt. Ich war erstaunt, wie unbeschwert diese Dame ihr Leben führen durfte. Du musst wissen, mich hat meine Mutter nach dem Grundsatz erzogen, dass das Leben mit einem ständigen Existenzkampf verbunden ist. Dort sah ich zum ersten Mal, dass es auch anders sein konnte, und in diesem Hause lernte ich den Freiherrn von Lützow kennen. Er war ein Offizier und noch dazu adelig und er versprach mir seine Liebe. Im Gegensatz zu meinem ersten Mann war er sehr männlich, zudem äußerst gebildet und konsequent. Mag sein, dass er vom Aussehen her nicht ganz meinem Typ entsprach, aber er konnte mit Worten umgehen – auf eine eigene, beruhigende Art, die mich faszinierte. Ich glaubte an seine Liebe, er schilderte mir das Leben an seiner Seite in den prächtigsten Farben. Freiherr von Lützow war zudem ein stattlicher Offizier und sein Auftreten und sein Verhalten mir gegenüber gefielen mir von Tag zu Tag besser. Als er mir dann einen Antrag machte, verdrängte ich die Scheidung von meinem ersten Mann, die mir bis dahin psychisch schwer zu schaffen gemacht hatte, und sagte „Ja“. Es war in Helgoland, er blickte mich so offenherzig an, dass ich nicht anders konnte. Die erste Zeit war voller Leidenschaft, er verehrte mich, als erfülle er eine heilige Pflicht. Jedenfalls lebte ich mit diesem Mann so lange glücklich zusammen, bis er seine Stellung aus Gründen, die er mir partout nicht verraten wollte, verlor. Er bat mich um meine gesamte Mitgift, denn ich hatte in der Zwischenzeit eine ziemlich bedeutende Erbschaft gemacht. Er bemühte sich auch um eine neue Anstellung. Wer die deutschen Verhältnisse kennt, weiß, wie schwer es für einen ehemaligen Offizier ist, Broterwerb zu finden. Bald traten denn auch existenzielle Sorgen an uns heran. Ich nahm meine kunstvollen Handarbeiten wieder auf und ernährte uns beide mehr schlecht als recht, bis ich ihm bei einem mir sehr gut bekannten Russen eine vorzügliche Stellung vermitteln konnte. Wir lebten friedlich zusammen, ich erfüllte meine Pflicht als Hausfrau, studierte auch eifrig und füllte mir mit diesen mannigfachen Studien mein Dasein aus. Als ich später dann wahrhaben musste, dass mein Mann eine gemeine Rolle spielte, seinen Brotgeber bei der politischen Polizei verriet, sich von dieser bezahlen ließ, mich auch noch mit einer Dirne betrog, da ließ ich mich von ihm scheiden. „Du bist total verrückt“, dachte ich. Mir war ganz seltsam zumute, denn ich wurde innerhalb kürzester Zeit ein zweites Mal geschieden. Bist du entsetzt? Meine Geschichte ist nun halt einmal kein schönes Märchen. Glaub mir, ich konnte nicht anders, sonst hätte ich das alles nicht überstanden. Ich war gezwungen, den Mann zu verlassen, dem ich einst vertraut hatte. Um Gutes zu tun, übte ich den Beruf einer Krankenpflegerin aus. Ein Freund meiner Eltern gab mir die Mittel und ich machte eine Reise durch Frankreich, Italien, Sizilien und Nordafrika. In dieser Zeit war ich zum ersten Mal in meinem Leben rundum glücklich. Ich fing an zu sehen, mein Horizont erweiterte sich und ich lernte das Leben und die Menschen kennen. Bei meiner Arbeit als Krankenpflegerin traf ich meinen dritten Ehemann, Herrn von Schewe. Es dünkte mich eine erhabene Aufgabe, den kranken Mann zu pflegen, ihm sein Leben ein wenig leichter zu gestalten, ihm ein Heim geben zu können. Seine schüchterne, tiefe Liebe rührte so gewaltig an mein Herz. Du verstehst mich? Was konnte mir das Leben noch bieten? An Glück glaubte ich nicht mehr recht. Aber als der arme, kranke Mann so eindringlich flehte: „Ach Schwester, ob Sie nun einen pflegen oder viele, ist doch gleich. Ich liebe Sie so grenzenlos, heiraten Sie mich!“, da konnte ich nicht nein sagen. Es war ja eine schier unerschöpfliche Menschenliebe in mir, ich wollte so leidenschaftlich gern einen Lebenszweck haben, ein nützliches Glied in der menschlichen Gesellschaft sein! So gab ich wiederum mein Jawort, brachte den Kranken nach Neapel, wo wir in aller Stille getraut wurden. Es war eine schwere Bürde, die ich trug. Mein Mann hatte mir verschwiegen, dass er schon mehrmals in Heilanstalten gewesen war. Zeitweise war er unfähig, sich zu bewegen; er war ein verschlossener, finsterer Charakter und entsetzlich nervös.
Wir zogen aufs Land. In einem Anfall geistiger Umnachtung warf mich mein Mann einmal sogar aus dem Fenster! Er kam in eine Anstalt und ich ging wieder hinaus in die weite Welt, machte viele Reisen, wusste nicht, was ich mit meinem Leben noch anfangen sollte, irrte umher. Ich sehnte mich nach Glück und Geborgenheit. Vor allem nach einer Heimat. Die Einsamkeit wurde auch von meinen Studien nicht ausgefüllt, eine so temperamentvolle Frau wie ich sehnt sich nach dem Leben und seinen Freuden! Von einer Reise durch Indien zurückgekommen, machte ich in Mentone Zwischenstation. Es war Januar und der Winter in Deutschland, dem Ziel meiner Reise, zu kalt. In Mentone wurde ich mit Herrn Meurin bekannt. Die Frauen nannten ihn einen „schönen Mann“, ich aber konnte diesem verlebten Gesicht mit der gelben, schlaffen Haut nichts abgewinnen. Der unstete Blick seiner grünlich schillernden Augen war mir oft unsympathisch. Er verstand jedoch klug und anregend zu plaudern, und seine geistsprühenden Briefe nahmen mich ganz gefangen. Ich sagte mir, wenn mich Zweifel peinigten: Ein Mann, der mit so reiner, kindlicher Liebe an seinen Eltern hängt, kann nur gut sein. Ach! Alles Lug und Trug, der ganze Mann war eine einzige große Lüge. Hätte ich auf all die Warnungen gehört, wie viel Unglück wäre mir erspart geblieben! Er sagte mir, er sei Plantagenbesitzer, Afrikaforscher, am auswärtigen Amte angestellt und mehr. Später erfuhr ich, dass er ein stellungsloser Kommis sei, nur Schulden und recht böse Sachen auf dem Gewissen habe. Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, ihm mein Jawort zu geben, es war an einem märchenschönen Abend. Du musst wissen: Die herrliche Natur wirkt sehr auf mein Gemüt! Ich war so grenzenlos allein, er erzählte mir von seinem Elternhause, von seinen Geschwistern. Mir war so weh ums Herz. Heiße Sehnsucht nach dem Frieden dieses weinumrankten Hauses an der grünen Mosel überkam mich! Ach! Endlich einen Platz zum Ausruhen, endlich Liebe, Ruhe und Frieden! Unser Bund sollte etwas Besonderes sein, wir schlossen ihn in London. Wer könnte meine Handlungsweise nicht verstehen?
Und dann dieses grauenvolle Erwachen! Er hatte seinen Gläubigern gesagt: „Wartet, ich heirate eine sehr reiche Russin, dann bekommt ihr euer Geld. Lasst mich nur so lange in Ruhe, bis ich geheiratet habe.“ Er hatte keine Anstellung, war weder im auswärtigen Amte noch Afrikaforscher, sondern lediglich kurze Zeit Kommis einer Handelsgesellschaft in Neuguinea gewesen; dort hatte er sich eine Tropenkrankheit geholt und musste nach Europa zurückgebracht werden. Er war ein kranker, verbrauchter Mann. Auch diesem Manne verschaffte ich durch Beziehungen eine gute Anstellung im gehobenen Dienst, als Inspektor. Entzückend richtete ich unser Haus ein. Ich bin, glaube ich, eine gute Hausfrau und für meine Person sehr bescheiden. Wir wären also vorzüglich zurechtgekommen, wenn mein Mann nicht so verschuldet gewesen wäre. Er besaß keinen Pfennig Vermögen, schon als Braut musste ich ihm Geld geben, um die Hochzeit und alles andere zu bezahlen. Nun fingen die Gläubiger an zu drängen, Klage über Klage kam. Der Gerichtsvollzieher war täglicher Gast bei uns, ich bezahlte, verkaufte, es hieß ja immer: „Dies ist das Letzte.“ Meine Enttäuschung war entsetzlich, der Mann schlug mich erbarmungslos, wenn ich kein Geld geben konnte. Er zerschlug mir das Trommelfell, mein Gesicht war oft entstellt, mein Leiden nicht zu schildern. Er musste die Stellung aufgeben. Ich erfuhr, dass er wieder mit seiner früheren Geliebten zusammen sei. Ihre Briefe gingen an die Adresse des Buchhalters. Kurz, ich wollte von ihm fort. Da sagte er: „Wir wollen nach Afrika gehen, ich habe dort eine ausgezeichnete Stellung.“ Er verkaufte meine Sachen, nahm mein Geld und wir reisten ab. Ich bin so mürbe geworden. Eine derartige Gleichgültigkeit war über mich gekommen, dass ich widerstandslos alles mit mir geschehen ließ.
Herr Meurin hatte in Afrika keine Anstellung, unsere Mittel gingen zu Ende, er wurde todkrank und ich brachte ihn mithilfe eines guten Menschen zu seinen Eltern. Dort versuchte er, mich als geistesgestört hinzustellen. Als ihm dies missglückte, zeigte mich sein Vater wegen Betrugs bei der Staatsanwaltschaft an. Ich hatte ihm ein Fahrrad geschenkt, dieses bis auf 30 Kronen bezahlt und wollte es, als ich nicht weiter zahlen konnte, dem Besitzer zurückgeben. Mein Mann hatte es verpfändet. Der Schwindel kam ja während der Untersuchung schnell heraus und das Verfahren wurde eingestellt. Ich aber reichte die Scheidung ein, seither verfolgt dieser Mann mich mit seinem wütenden Hasse. Wo er mir schaden konnte, tat er es! Aber er wird seinen Lohn finden, dessen bin ich ganz sicher, noch ist nicht aller Tage Abend.
Siehst du, ich habe mir mein ganzes Leben lang ein schweres Los ausgesucht. Es gehört zu den schmerzlichsten Erfahrungen, wenn man für jemanden voll und ganz da ist und von ihm dann zutiefst enttäuscht wird. Ich musste unter schwierigsten Bedingungen lernen loszulassen und es dauerte sehr lange, bis ich das begriff. Es brauchte Zeit und das Leben ging vorbei. Manchmal erstickte ich fast an meiner Einsamkeit. Was meinst du? Warum ich vorhin geweint habe, als ich das Bild von meinem Franz gesehen habe? In solchen Momenten ist mir zum Weinen, denn Gott hat mich mit ihm beschenkt und bestraft zugleich.
Willst du wissen, wie ich ihn kennengelernt habe? Ja, dann höre mir gut zu! Müde und traurig nach den vielen rastlosen Reisen kam ich vom Süden, um mich in der frischen Bergesluft von Österreich zu erholen. Ich wählte bewusst Mürzzuschlag, weil mir gesagt wurde, dort könne ich, fern vom Getriebe der Welt, ruhig leben. Die Natur ist mir ein wichtiger Lebensbestandteil, ich war begeistert von diesem herrlichen Fleck Erde und kann mich keines Platzes erinnern, der mich so entzückt hätte. Du weißt ja, ich habe die halbe Welt bereist. Täglich machte ich weite Spaziergänge, ich kannte keinen Menschen und ich vermisste die Menschen auch nicht. Meine Seele schrie nach Ruhe und Frieden. Ich war vom Schicksal so wundgerieben, hatte ja noch kaum die letzte große Enttäuschung überwunden. Bei einer meiner einsamen Wanderungen begegnete mir eines Tages im Mai im grünen Walde ein Mann in steirischer Tracht. Ruhig schritt er den Waldweg entlang und rauchte mit Behagen seine Zigarre. Wir standen uns gegenüber und sahen uns fragend in die Augen. Der Mann stutzte, auch ich war wie versteinert. Zögernd nahm er den mit einem grünen Auerhahnstoß geschmückten Steirerhut vom Kopf. Eine weiche Stimme fragte mich: „Pardon, meine Gnädigste, Sie sind fremd hier?“ „Jawohl, ich bin erst ganz kurz hier“, gab ich zur Antwort. Darauf er: „Fürchten Sie sich nicht so allein im Wald? Darf ich Ihnen meine Gesellschaft anbieten? Ich bin hier der Bezirkshauptmann.“ Ist es Gottes Weg gewesen, war es Zufall, der mich diesen Mann finden ließ? Ich war zum ersten Mal in Österreich und wusste nicht, was ein Bezirkshauptmann ist. Das ganze Wesen des Mannes, von dem ich nicht wusste, was ich von ihm halten sollte, nahm mich gefangen. Seine elegante Erscheinung und seine Art zu sprechen ließen auf einen Mann von Welt schließen, dazu aber passte seine einfache, steirische Trachtenkleidung nicht. Mein Interesse, meine Neugierde waren geweckt. Ein Zauber ging von ihm aus, dem ich sofort erlag. Plaudernd gingen wir ein Stück des Weges gemeinsam, so gar nichts Fremdes war mehr zwischen uns. Es war mir, als ob ich diesen Mann, dessen Namen ich nicht einmal verstanden hatte, bereits jahrzehntelang kennen würde. Plötzlich blieb er stehen und sah mir tief in die Augen, er fasste meine Hand und sagte mit zitternder Stimme: „Ich bin so unglücklich, meine Mutter hat mich da mit einem Mädchen zusammengebracht, weil es reich ist. Ich liebe das Mädchen nicht, ich kann mit so einem Fratz nicht glücklich leben und ihm nicht treu sein. Ich habe mich gebunden und bereue es zutiefst. Ich werde mich lieber erschießen, als sie heiraten.“ Ich sah ihn erschrocken an und konnte nicht begreifen, wie man einer gänzlich fremden Frau solch intime Sachen anvertrauen konnte. Bald aber gewahrte ich eine derart große Angst im Herzen dieses sympathischen Mannes, dass ich ihm Trost spenden musste. Ich sagte ihm, eine Verlobung sei ja längst keine Ehe. Die Zeit der Verlobung sei dazu da, sich gegenseitig zu prüfen, ehe man sich fürs Leben bindet; und dass er ein Unrecht an jener jungen Dame begehe. Eine solche Handlungsweise sei eines Ehrenmannes unwürdig und er sei verpflichtet, den Eltern der Dame seine Gesinnung offen und ehrlich mitzuteilen. „Aber meine Eltern sind in sehr schlechten Verhältnissen, da hat wohl meine Mutter viel falsch gemacht und dazu beigetragen. Schon seit langer Zeit öffne ich ihre Briefe nicht mehr, weil ich dieses fortwährende Drängen nicht mehr ertragen kann!“