Behemoth

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Aus der Reihe: eva taschenbuch
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Die souveräne Macht des Reiches lag beim Kaiser und den in der zweiten Kammer (dem Bundesrat) versammelten Fürsten. Die Fürsten leiteten ihre Autorität aus dem Gottesgnadentum her; dieser Begriff aus dem Mittelalter – in der absolutistischen Form, die er im 17. Jahrhundert angenommen hatte – war das beste, was das Deutsche Kaiserreich als eigene Verfassungstheorie anzubieten hatte. Das Ärgerliche daran war jedoch, daß jede Verfassungstheorie eine pure Illusion ist, wenn sie nicht von der Mehrheit des Volkes oder zumindest von den entscheidenden Kräften der Gesellschaft akzeptiert wird. Für die meisten Deutschen war das Gottesgnadentum ein offenkundiger Unsinn. Wie hätte es auch anders sein können! In einer Ansprache am 25. August 1910 in Königsberg gab Wilhelm II. eine seiner zahlreichen ›Von-Gottes-Gnaden-Proklamationen‹ ab. Er sagte folgendes:

»Hier war es, wo der Große Kurfürst aus eigenem Recht zum souveränen Herzog in Preußen sich machte, hier setzte sich sein Sohn die Königskrone aufs Haupt … Friedrich Wilhelm I. stabilisierte hier seine Autorität ›wie einen Rocher de bronze‹ … Und hier setzte sich Mein Großvater wiederum aus eigenem Recht die preußische Königskrone aufs Haupt, noch einmal bestimmt hervorhebend, daß sie von Gottes Gnaden allein ihm verliehen sei und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlüssen, und daß er sich so als auserwähltes Instrument des Himmels ansehe ... Als Instrument des Herrn Mich betrachtend ... gehe Ich Meinen Weg.«

Die unzähligen Witze und Karikaturen, in denen diese spezielle Neuformulierung der Theorie verspottet wurde, lassen wenig Zweifel daran, daß keine politische Partei sie ernst nahm – außer den Konservativen, und auch sie nur in dem Maße, wie der Kaiser sich mit ihren Klasseninteressen identifizierte. Die Rechtfertigung der souveränen Macht ist jedoch die Grundfrage der Verfassungstheorie, und deutsche Autoren durften sie nicht stellen. Es gab keine Alternative in einem Land, das in so viele Fronten – Katholiken und Protestanten, Kapitalisten und Proletarier, Großgrundbesitzer und Industrielle – aufgespalten und in dem jede Gruppe so fest in mächtigen sozialen Verbänden organisiert war. Selbst der Dümmste konnte erkennen, daß der Kaiser weit davon entfernt war, ein neutrales Staatsoberhaupt zu sein, und daß er auf der Seite ganz bestimmter religiöser, gesellschaftlicher und politischer Interessen stand.

Dann kam die Prüfung eines Krieges, der dem Volk die größten Opfer an Blut und Kraft abverlangte. 1918 war die kaiserliche Macht gebrochen, und alle Kräfte der Reaktion dankten ohne den geringsten Widerstand gegen den Linksruck der Massen ab – all das jedoch nicht als unmittelbare Konsequenz der militärischen Niederlage, sondern als Folge eines ideologischen Debakels. Wilsons »Neuer Frieden« und seine Vierzehn Punkte waren die ideologischen Sieger, nicht Großbritannien und Frankreich. Die Deutschen nahmen den »Neuen Frieden« mit seiner Verheißung einer Ära der Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung anstelle des Absolutismus und des bürokratischen Apparates, begierig auf. Selbst General Ludendorff, der in den letzten Kriegsjahren der eigentliche Diktator Deutschlands war, anerkannte die Überlegenheit der Wilsonianischen demokratischen Ideologie gegenüber der preußischen bürokratischen Effizienz. Die Konservativen kämpften nicht – in der Tat hatten sie nichts, womit sie hätten kämpfen können.

2. Die Struktur der Weimarer Demokratie

Verfassungen, die an den großen Wendepunkten der Geschichte geschrieben werden, beinhalten immer Entscheidungen über die zukünftige Struktur der Gesellschaft. Zudem ist eine Verfassung mehr als ihr Gesetzestext; sie ist zugleich ein Mythos, der Loyalität gegenüber einem ewig gültigen Wertsystem verlangt. Um diese Erkenntnis zu gewinnen, brauchen wir nur charakteristische Verfassungen in der Geschichte der modernen Gesellschaft, wie z. B. die französischen Revolutionsverfassungen oder die Verfassung der Vereinigten Staaten, zu prüfen. Sie legten die organisatorischen Formen des politischen Lebens fest; zugleich definierten und regulierten sie die Ziele des Staates. Diese letztere Funktion konnte in der liberalen Ära leicht erfüllt werden. Die Freiheitsgarantien, ob sie nun Teil der Verfassung waren oder nicht, hatten lediglich Sicherheiten gegen Übergriffe der verfassungsmäßigen Gewalten vorzusehen; alles, was zum freien Fortbestand der Gesellschaft benötigt wurde, war der Schutz der Eigentums-, Handels- und Gewerbefreiheit, der Rede-, Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit.

Nicht so im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Verfassung von 1919 war eine Übernahme von Wilsons »Neuem Frieden«. Vor die Aufgabe gestellt, aus der Revolution von 1918 heraus einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft aufzubauen, versuchten die Verfassungsväter der Weimarer Republik jedoch, die Formulierung einer neuen Weltanschauung und eines neuen allumfassenden, allgemein anerkannten Wertsystems zu vermeiden.

Hugo Preuß, ein scharfsinniger demokratischer Verfassungsrechtler, der mit dem eigentlichen Entwurf der Verfassung betraut war, wollte so weit gehen, das Dokument auf einen bloßen Organisationsrahmen zu beschränken, fand aber keine Unterstützung. Unter dem Einfluß des Demokraten Friedrich Naumann entschieden sich die Architekten der Verfassung für den entgegengesetzten Kurs, nämlich für die umfassende Ausführung des demokratischen Wertsystems im zweiten Hauptteil der Verfassung, unter dem Titel »Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen«.

Eine bloße Übernahme der Grundsätze des politischen Liberalismus kam nicht in Frage. Die Revolution von 1918 war nicht das Werk der Liberalen, sondern der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften gewesen, wenngleich gegen den Willen und die Neigung ihrer Führung. Zwar war es gewiß keine sozialistische Revolution: das Privateigentum wurde nicht enteignet, der Großgrundbesitz nicht aufgeteilt und die Staatsmaschine nicht zerschlagen, die Bürokratie war nach wie vor an der Macht. Doch das Verlangen der Arbeiterklasse nach größerer Mitbestimmung über das Schicksal des Staates mußte befriedigt werden.

Vom Klassenkampf sollte es zur Zusammenarbeit der Klassen kommen – das war das Ziel der Verfassung. Tatsächlich ist so die Ideologie der katholischen Zentrumspartei zur Ideologie der Weimarer Republik und das Zentrum selbst, mit seinen aus den unterschiedlichsten Gruppen stammenden Mitgliedern – Arbeitern, Selbständigen, Beamten, Handwerkern, Industriellen und Agrariern – zum Prototyp der neuen politischen Struktur geworden. Das Wesen der Verfassung war der Kompromiß zwischen allen sozialen und politischen Gruppen. Mit Hilfe eines politischen Pluralismus, der sich hinter der Form der parlamentarischen Demokratie verbarg, sollten die antagonistischen Interessen harmonisiert werden. Vor allem sollte die imperialistische Expansion ein Ende haben. Das republikanische Deutschland würde seinen Produktionsapparat in einer international organisierten Arbeitsteilung zur vollen Nutzung bringen können.

Die pluralistische Doktrin war ein Protest gegen die Theorie und Praxis der Staatssouveränität. »Die Theorie des souveränen Staates hat versagt« und soll aufgegeben werden.17 Der Pluralismus begreift den Staat nicht als eine souveräne Größe außerhalb und über der Gesellschaft, sondern als eine unter vielen gesellschaftlichen Institutionen, die keine größere Autorität hat als Kirchen, Gewerkschaften, politische Parteien oder Berufs- und Wirtschaftsverbände.18 Die Theorie hatte ihren Ursprung in Otto von Gierkes Interpretation der deutschen Rechtsgeschichte, die sich in einer merkwürdigen Kombination mit dem reformistischen Syndikalismus (Proudhon) und den Soziallehren des Neothomismus vermischte. Gegen einen feindlichen souveränen Staat forderten die Gewerkschaften und Kirchen die Anerkennung ihres angeblich ursprünglichen und nicht übertragenen Rechts auf die Vertretung autonomer Bevölkerungsgruppen. »Wir betrachten den Staat nicht so sehr als einen Zusammenschluß von Individuen in ihrem gemeinschaftlichen Leben; wir betrachten ihn vielmehr als einen Zusammenschluß von Individuen, welche bereits in verschiedenen Gruppen zu einem weitergehenden und umfassenderen gemeinsamen Zweck vereinigt sind.«19

Dem pluralistischen Prinzip lag das Unbehagen des ohnmächtigen Individuums angesichts eines allzu mächtigen Staatsapparates zugrunde. In dem Maße, wie das Leben immer komplexer wird und die Zahl der vom Staat übernommenen Aufgaben wächst, verstärkt das isolierte Individuum seinen Protest dagegen, Mächten ausgeliefert zu sein, die es weder begreifen noch kontrollieren kann. So schließt es sich unabhängigen Organisationen an. Von der Übertragung entscheidender administrativer Aufgaben an diese privaten Körperschaften versprachen sich die Pluralisten zwei Resultate: die Kluft zwischen Staat und Individuum überbrükken sowie die demokratische Identität von Regierung und Regierten wirklich herstellen und zugleich, durch die Übertragung von Verwaltungsaufgaben an kompetente Organisationen, maximale Effizienz erreichen zu können.

Der Pluralismus ist also die Antwort des individualistischen Liberalismus auf den Staatsabsolutismus. Leider kann er seine selbstgestellten Aufgaben nicht erfüllen. Wenn der Staat erst einmal darauf reduziert ist, schlicht eine gesellschaftliche Institution unter anderen zu sein und somit seiner obersten Zwangsgewalt beraubt ist, dann wird nur ein Bündnis zwischen den in der Gesellschaft herrschenden unabhängigen sozialen Organisationen die konkrete Befriedigung der allgemeinen Interessen bewirken können. Damit derlei Vereinbarungen zustande kommen und eingehalten werden, muß es eine fundamentale Verständigungsbasis unter den beteiligten gesellschaftlichen Gruppen geben, kurz: die Gesellschaft muß grundsätzlich harmonisch sein. Wenn jedoch die Gesellschaft in Wirklichkeit antagonistisch ist, muß die pluralistische Doktrin früher oder später zusammenbrechen. Entweder wird eine gesellschaftliche Gruppe die souveräne Macht an sich reißen, oder es wird, falls die verschiedenen Gruppen sich gegenseitig paralysieren und neutralisieren, die Staatsbürokratie allmächtig werden – und zwar mehr als je zuvor; denn um sich gegen starke gesellschaftliche Gruppen durchzusetzen, bedarf sie weit stärkerer Zwangsmittel als sie zur Kontrolle der isolierten, unorganisierten Individuen früher benötigte.

 

Das Bündnis als die grundlegende Bedingung des Pluralismus muß im wörtlichen Sinne verstanden werden. Die Weimarer Demokratie verdankte ihre Existenz einer ganzen Reihe von Verträgen zwischen Gruppen, von denen jeder wichtige Entscheidungen über die Struktur und Politik des Staates festlegte:

1. Am 10. November 1918 gingen Feldmarschall von Hindenburg, der die Oberaufsicht bei der Demobilmachung des Heeres hatte, und Fritz Ebert, der damalige Führer der Sozialdemokratischen Partei und spätere erste Präsident der Republik, ein Bündnis ein, dessen allgemeiner Inhalt erst einige Jahre danach enthüllt wurde. Ebert soll im Anschluß daran gesagt haben: »Wir haben uns verbündet zum Kampfe gegen den Bolschewismus. An eine Wiedereinführung der Monarchie war nicht zu denken. Unser Ziel am 10. November war die Einführung einer geordneten Regierungsgewalt, die Stützung dieser Gewalt durch Truppenmacht und die Nationalversammlung so bald wie möglich. Ich habe dem Feldmarschall zuerst den Rat gegeben, nicht mit der Waffe die Revolution zu bekämpfen … Ich habe ihm vorgeschlagen, die OHL möge sich mit der MSP verbünden, da es zur Zeit keine Partei gebe ..., um eine Regierungsgewalt mit der OHL wieder herzustellen. Die Rechtsparteien waren vollkommen verschwunden.«20 Obwohl diese Absprache ohne das Wissen von Eberts Partei oder selbst seiner engsten Mitarbeiter zustandekam, stand sie im vollen Einklang mit der Politik der SPD. Sie enthielt zwei Punkte: einen negativen, den Kampf gegen den Bolschewismus, und einen positiven, die frühzeitige Einberufung einer Nationalversammlung.

2. In der Hindenburg-Ebert-Vereinbarung wurde nichts über die Sozialstruktur der neuen Demokratie ausgesagt. Das war der Inhalt des Stinnes-Legien-Abkommens vom 15. November 1918, dessen Ergebnis die Errichtung der sogenannten Zentralarbeitsgemeinschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern war. Stinnes, als Vertreter der Unternehmer, und Legien, der Führer der sozialistischen Gewerkschaften, einigten sich über folgende Punkte: Die Unternehmer werden künftig die »gelben Werkvereine« nicht mehr unterstützen und nur unabhängige Gewerkschaften anerkennen. Sie akzeptieren den kollektiven Arbeitsvertrag als Mittel zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen und versprechen die generelle Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Es dürfte kaum ein eindeutigeres pluralistisches Dokument gegeben haben als dieses Übereinkommen zwischen privaten Gruppen, das als zukünftige Struktur der deutschen Arbeitsverhältnisse ein von autonomen Gruppen errichtetes und kontrolliertes kollektivistisches System etablierte.

3. Die Vereinbarung vom 22. und 23. März 1919 zwischen der Regierung, der Sozialdemokratischen Partei und anderen führenden Parteirepräsentanten enthielt die folgende Bestimmung:

»Zur Mitwirkung an Sozialisierungsmaßnahmen, zur Kontrolle sozialistischer Betriebe, zur Überwachung der Gütererzeugung und Verteilung im gesamten Wirtschaftsleben sind gesetzlich geordnete Arbeitervertretungen zu schaffen. In dem zu diesem Zweck schleunigst zu schaffenden Gesetz sind Bestimmungen zu treffen über die Wahl und Aufgaben von Betriebs-, Arbeiter- und Angestelltenräten, die bei der Regelung der allgemeinen Arbeitsverhältnisse gleichberechtigt mitzuwirken haben. Es sind weiter Bezirksarbeiterräte und ein Reichsarbeiterrat vorzusehen, die vor dem Erlaß wirtschaftlicher und sozialpolitischer Gesetze ebenso wie die Vertretungen aller übrigen schaffenden Stände gutachtlich zu hören sind und selbst Anträge auf Erlaß solcher Gesetze stellen können. Die entsprechenden Bestimmungen sind in der Verfassung der deutschen Republik festzulegen.«

Im Artikel 165 der Weimarer Verfassung sind dann zwar die Bestimmungen dieses gemeinsamen Beschlusses aufgenommen worden, aber mit Ausnahme des Gesetzes von 1920, das die Errichtung von Arbeiterräten anordnete21, wurde nichts zur Erfüllung des Versprechens getan.

4. Das Verhältnis zwischen dem Reich und den einzelnen Ländern wurde in einer Vereinbarung vom 26. Januar 1919 festgelegt. Der Traum vom deutschen Einheitsstaat wurde ebenso wie Hugo Preuß’ Forderung verworfen, Preußen als ersten Schritt zur Einheit Deutschlands aufzugliedern. Das föderative Prinzip wurde, wenn auch in abgeschwächter Form, wieder zum Bestandteil der Verfassung erhoben.

5. Endlich wurden sämtliche früheren Vereinbarungen in eine Übereinkunft der Parteien der Weimarer Koalition eingebettet: der Sozialdemokratischen Partei, des katholischen Zentrums und der Demokraten. Diese Übereinkunft enthielt den gemeinsamen Beschluß, so bald wie möglich eine Nationalversammlung einzuberufen, den bestehenden Status der Bürokratie und der Kirchen anzuerkennen, die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern und die Macht unter den verschiedenen Schichten des deutschen Volkes zu teilen, so wie es später im den Grundrechten und -pflichten des deutschen Volkes gewidmeten Verfassungsteil geschah.

Als die Verfassung schließlich angenommen wurde, war sie mithin in erster Linie eine Kodifikation von bereits vorab getroffenen Vereinbarungen verschiedener soziopolitischer Gruppen, von denen jede für sich in gewissem Umfang die Anerkennung ihrer Sonderinteressen gefordert und erreicht hatte.

3. Die sozialen Kräfte

Die Hauptstützen des pluralistischen Systems waren die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften. Sie allein hätten im Deutschland der Nachkriegszeit die großen Massen des Volkes auf die Seite der Demokratie bringen können, und zwar nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Mittelschichten, den Teil der Bevölkerung, der am meisten unter dem Monopolisierungsprozeß zu leiden hatte.

Die übrigen Schichten reagierten auf die verwickelte Nachkriegslage und nachrevolutionäre Situation genau so, wie zu erwarten war. Die Großgrundbesitzer verfolgten auf allen Gebieten eine reaktionäre Politik. Die monopolistische Industrie haßte und bekämpfte die Gewerkschaften und das politische System, das den Gewerkschaften ihren Rang verliehen hatte. Die Armee nahm jedes verfügbare Mittel zur Stärkung des chauvinistischen Nationalismus wahr, um ihre einstige Größe wiederherzustellen. Die Justiz schlug sich nach wie vor auf die Seite der Rechten, und das Beamtentum unterstützte konterrevolutionäre Bewegungen. Dagegen war die Sozialdemokratie außerstande, die gesamte Arbeiterklasse oder die Mittelschichten zu organisieren; Teile der Arbeiterklasse fielen von ihr ab, und im Mittelstand konnte sie nie richtig Fuß fassen. Den Sozialdemokraten fehlte eine fähige Führung, eine konsistente Theorie und die nötige Handlungsfreiheit. Ohne daß es ihnen bewußt war, stärkten sie die monopolistischen Tendenzen in der deutschen Industrie. Und da sie volles Vertrauen in ein formalistisches Legalitätsprinzip setzten, waren sie unfähig, die reaktionären Elemente in Justiz und Beamtentum auszuschalten oder die Armee auf die ihr verfassungsmäßig zustehende Rolle zu beschränken.

Der starke Mann der SPD, Otto Braun, preußischer Ministerpräsident bis zum 20. Juni 1932, als er durch den Hindenburg-Papen-Staatsstreich seines Amtes enthoben wurde, schreibt das Versagen seiner Partei und die erfolgreiche Machtergreifung Hitlers einer Kombination aus Versailles und Moskau zu.22 Diese Verteidigung ist weder richtig noch besonders geschickt. Natürlich lieferte der Versailler Vertrag ausgezeichnetes Propagandamaterial gegen die Demokratie im allgemeinen und die Sozialdemokratische Partei im besonderen, und zweifellos gelangen der Kommunistischen Partei Einbrüche bei Sozialdemokraten. Aber primär verantwortlich für den Untergang der Republik war keines von beidem. Wären indessen Versailles und Moskau tatsächlich die zwei hauptverantwortlichen Faktoren für das Entstehen des Nationalsozialismus gewesen, hätte dann nicht die Aufgabe einer großen demokratischen Führung gerade darin bestanden, für das Funktionieren der Demokratie trotz und gegen Moskau und Versailles zu sorgen? Ungeachtet aller offiziellen Erklärungen bleibt es die entscheidende Tatsache, daß die Sozialdemokratische Partei versagte. Sie versagte, weil sie nicht sah, daß das zentrale Problem der Imperialismus des deutschen Monopolkapitals war, welches sich mit dem ständig zunehmenden Monopolisierungsprozeß immer dringlicher stellte. Je mehr die Monopole wuchsen, desto weniger ließen sie sich mit der politischen Demokratie vereinbaren.

Eines der vielen großen Verdienste von Thorstein Veblen war es, daß er auf diese spezifischen Merkmale des deutschen Imperialismus aufmerksam machte, die sich aus seiner Position als eines Spätlings beim Kampf um den Weltmarkt ergaben.

»Die deutschen Industriekapitäne, die in der neuen Ära die unumschränkte Führung übernehmen sollten, waren in der durchaus glücklichen Lage, sich nicht von der Lehranstalt einer auf Kleinhandel beruhenden Landstadt in die Fakultät für Bodenspekulation und politische Schiebereien immatrikulieren zu müssen … Sie kamen in die Ausleseprüfung der Tauglichkeit zur aggressiven Führung von Industrieunternehmen … Da das Land zugleich im großen und ganzen … nicht auf altertümliche Standorte und Transportwege für seine Industriebetriebe angewiesen war, stand es den Männern, die Umsicht walten ließen, frei, ihren Sitz einzig und allein unter dem Gesichtspunkt seiner Zweckmäßigkeit für die Mechanisierung auszuwählen … Da sie außerdem keine veraltete Betriebsausrüstung und keine unzeitgemäßen Handelsverbindungen hatten, die die Sache getrübt hätten, stand es ihnen auch frei, die Produktion auf ihrem besten und höchsten Leistungsstand aufzunehmen.«23

Das leistungsfähige und machtvoll organisierte deutsche Wirtschaftssystem von heute wurde unter dem Anreiz einer ganzen Reihe von Faktoren geboren, die durch den Ersten Weltkrieg in den Vordergrund traten. Die Inflation am Anfang der 20er Jahre gab skrupellosen Unternehmern die Möglichkeit, auf Kosten des Mittelstandes und der Arbeiterklasse riesige Wirtschaftsimperien aufzubauen. Das Musterbeispiel war der Stinnes-Konzern, und es ist zumindest ein Symbol, daß Hugo Stinnes der eingefleischteste Gegner der Demokratie und der Rathenauschen Außenpolitik war. Die Auslandsanleihen, die nach 1924 nach Deutschland flossen, verschafften der deutschen Industrie das zur Rationalisierung und Erweiterung ihrer Betriebe nötige flüssige Kapital. Selbst das umfassende Sozialfürsorgeprogramm, das die Sozialdemokratie vorantrieb, verstärkte indirekt die Zentralisation und Konzentration der Industrie, da die Großunternehmen die Lasten viel leichter übernehmen konnten als der kleine oder mittlere Unternehmer. Trusts, Konzerne und Kartelle überzogen die gesamte Wirtschaft mit einem Netzwerk autoritärer Organisationen. Unternehmerverbände kontrollierten den Arbeitsmarkt, und Lobbies der Großunternehmer setzten alles daran, den Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizapparat in den Dienst des Monopolkapitals zu stellen.

In Deutschland gab es nie so etwas wie die volkstümliche Antimonopolbewegung in den USA unter Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson. Industrie und Finanz waren natürlich fest davon überzeugt, daß das Kartell und der Trust die höchsten Formen der Wirtschaftsorganisation darstellen. Der unabhängige Mittelstand brachte seine Opposition – außer gegen große Kaufhäuser und Kettenläden – nicht klar zum Ausdruck. Wenn auch die Mittelschicht mächtigen Interessengruppen wie dem Reichsverband der Deutschen Industrie24 angehörte, so waren ihre Sprecher doch ausnahmslos führende Vertreter der Großindustrie.

Die Arbeiterschaft war keineswegs ein Gegner der fortschreitenden Trustbildung. Die Kommunisten betrachteten das Monopol als ein unvermeidliches Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus und hielten es daher für sinnlos, die Kapitalkonzentration statt des Systems selbst zu bekämpfen. Daß die Politik des reformistischen Flügels der Arbeiterbewegung in der Tat nicht wesentlich anders aussah25, entbehrt nicht der Ironie. Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften betrachteten die Konzentration ebenfalls als unvermeidlich, ja darüber hinaus als eine höhere Form der kapitalistischen Organisation. Ihr führender Theoretiker, Rudolf Hilferding, faßte den Standpunkt auf dem Parteitag der Sozialdemokraten 1927 zusammen:

 

»Organisierter Kapitalismus bedeutet … den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion … Das heißt nichts anderes, als daß unserer Generation das Problem gestellt ist, mit Hilfe des Staates … diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln.«26 Unter Wirtschaftsdemokratie verstand die SPD eine stärkere Beteiligung an der Kontrolle der monopolistischen Organisationen und besseren Schutz der Arbeiter vor den negativen Auswirkungen der Konzentration.

Die größten Trusts der deutschen Geschichte wurden in der Zeit der Weimarer Republik gebildet. Das Ergebnis der Fusion von vier großen Stahlgesellschaften im Westen Deutschlands im Jahre 1926 war die Bildung der »Vereinigten Stahlwerke«. Die »Vereinigten Oberschlesischen Hüttenwerke« waren ein ähnlicher Zusammenschluß der oberschlesischen Stahlindustrie. Die »IG Farbenindustrie« entstand 1925 durch Fusion der sechs größten Konzerne auf diesem Sektor, die zuvor alle in einem Kartell zusammengeschlossen waren. 1930 betrug das Aktienkapital der IG Farbenindustrie insgesamt 1,1 Mrd. Mark, die Zahl ihrer beschäftigten Arbeiter stieg auf 100 000 an.

Zu keiner Zeit der Republik (nicht einmal während des Booms im Jahre 1929) wurden die Produktionskapazitäten der deutschen Industrie voll oder nur ausreichend ausgeschöpft.27 Am schlimmsten stand es in der Schwerindustrie, besonders bei Kohle und Stahl, also gerade in den Bereichen, die während des Kaiserreichs die industrielle Führung gestellt hatten und immer noch die entscheidenden Wirtschaftsorganisationen beherrschten. Mit der Weltwirtschaftskrise nahm die Kluft zwischen der tatsächlichen Produktion und der Kapazität derart gefährliche Ausmaße an, daß staatliche Hilfe zwingend notwendig wurde. Neben Subventionen in Form von direkten Schenkungen, Krediten und niedrigen Zinssätzen nahm man zu Kartellen und Zöllen Zuflucht.28 Diese Maßnahmen halfen, verstärkten aber zugleich eine andere Gefahr. Schließlich war der Rahmen der deutschen Regierung immer noch eine parlamentarische Demokratie; was aber würde geschehen, wenn in den Massenorganisationen Bewegungen entstünden, die die herrschende monopolistische Struktur bedrohten? Schon vor einiger Zeit, im November 1923, hatte öffentlicher Druck das Kabinett Stresemann gezwungen, eine Kartellverordnung zu erlassen, die die Regierung autorisierte, Kartelle aufzulösen und gegen Monopolstellungen generell vorzugehen29. Zwar wurde von diesen Befugnissen nicht ein einziges Mal Gebrauch gemacht, aber die in der politischen Demokratie enthaltene Gefahr für Privilegien blieb bestehen und wurde in Zeiten einer großen Krise offensichtlich akuter.

4. Der Niedergang der organisierten Arbeiterbewegung

Der gesamte Prozeß der Rationalisierung, Konzentration und Bürokratisierung hatte schwerwiegende Folgen für die Sozialstruktur. Eine der bedeutsamsten Auswirkungen war sicherlich die ernsthafte Schwächung der Macht der Gewerkschaften, die am besten am Rückgang der Streiks abzulesen ist. Die Waffe des Streiks besaß ihre größte Wirksamkeit in der Periode des verhältnismäßig freien Wettbewerbs, denn die Widerstandskraft eines einzelnen Unternehmers ist relativ gering. Der erfolgreiche Streik wird in dem Maße schwieriger, wie sich Monopole entwickeln und die Stärke der Unternehmerorganisationen wächst, und dies um so mehr, wenn die Monopole das Ausmaß internationaler Kartelle annehmen, wie das in der Stahlindustrie der Fall war. Selbst der völlige Stillstand der Produktion auf nationaler Ebene kann vom Kartell ausgeglichen werden. Dies sind allgemein gültige Regeln.

Der Weimarer Pluralismus ließ in Deutschland weitere Faktoren hinzutreten. Zunehmende Staatseingriffe in Wirtschaftsunternehmen gaben Arbeitskämpfen den Makel von Streiks gegen den Staat, während die Mittlertätigkeit der Regierung vielen Arbeitern zugleich die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als unnötig erscheinen ließ. Die Gewerkschaften ihrerseits waren nicht darauf erpicht, einen Staat zu bekämpfen, an dem sie ein so starkes Interesse hatten. Vor allem bewirkte das Monopol große – und für die Gewerkschaften nachteilige – Veränderungen in der sozialen Schichtung. Der steigende Prozentsatz ungelernter und angelernter Arbeiter (und besonders der arbeitenden Frauen), die ständig größer werdende Zahl von Vorarbeitern und Aufsichtspersonal, die zahlenmäßige Zunahme der Gehaltsempfänger in Bürostellungen und im wachsenden Distributionsapparat, von denen viele in nichtsozialistischen Gewerkschaften mit Mittelstandsideologie organisiert waren30 – all diese Faktoren schwächten die Gewerkschaftsbewegung. Die große Wirtschaftskrise verschlimmerte die Lage noch; einmal wegen des gewaltigen Produktionsrückgangs und der Erzeugung großer Arbeitslosenmassen, und zweitens deshalb, weil die damit verbundenen politischen Spannungen jedem Streik die Tendenz zum politischen Streik gaben31, welchen die Gewerkschaften aufgrund ihrer revisionistischen und wirtschaftsdemokratischen Theorien strikt ablehnten.

Die enge Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite führte zu einem stetigen Bürokratisierungsprozeß innerhalb der Arbeiterbewegung. Diese Entwicklung und die fast ausschließliche Konzentration auf Sozialreformen machte die Sozialdemokratische Partei für die jüngere Generation gänzlich unattraktiv. Die Zusammensetzung der Parteimitglieder nach Dauer der Mitgliedschaft und Altersgruppen ist sehr aufschlußreich:


Dauer der MitgliedschaftProzentAltersgruppeProzent
5 Jahre u. weniger46,5625 Jahre u. jünger7,82
6 bis 10 Jahre16,2626 bis 30 Jahre10,34
11 bis 15 Jahre16,5231 bis 40 Jahre26,47
16 Jahre und mehr20,6641 bis 50 Jahre27,26
100,0051 bis 60 Jahre19,57
61 Jahre od. älter8,54
100,00 32

Das wenige, was der Sozialdemokratie an Handlungsfreiheit blieb, wurde von der Kommunistischen Partei noch weiter eingeschränkt. Außer in den Tagen der Revolution von 1918 und 1919 und in den Sturmzeiten von Inflation und ausländischer Besetzung, die im Juli 1923 ihren Höhepunkt erreichten, war die KPD keine unmittelbar entscheidende politische Kraft. Das eine Mal wollte sie eine kleine Sekte von Berufsrevolutionären nach dem Vorbild der Bolschewiki von 1917 sein, das andere Mal eine »revolutionäre Massenorganisation«, eine Art Synthese zwischen dem frühen russischen Modell und einer Struktur gleich der SPD. Ihre eigentliche Bedeutung lag in der Tatsache, daß sie einen ganz erheblichen indirekten Einfluß ausübte. Ein gründliches Studium der Kommunistischen Partei würde vermutlich mehr über die Eigenschaften der deutschen Arbeiterklasse und bestimmter Teile der Intelligenz zutage fördern als eine Untersuchung der größeren Sozialistischen Partei und der Gewerkschaften.

Beide, Kommunisten wie Sozialisten, sprachen primär dieselbe soziale Schicht an: die Arbeiterklasse. Die bloße Existenz einer überwiegend proletarischen Partei, die sich dem Kommunismus und der Diktatur des Proletariats verschrieben hatte und von dem magischen Bild Sowjetrußlands sowie den Heldentaten der Oktoberrevolution beflügelt wurde, war eine permanente Bedrohung für die Sozialdemokratische Partei und die führenden Kräfte in der Gewerkschaftsbewegung, zumal in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und sozialer Unruhen. Daß diese Bedrohung eine reale war, obwohl nie in gleichbleibender Stärke, geht klar aus den Wahlergebnissen und Mitgliederzahlen hervor. Zwar gelang es den Kommunisten nicht, eine Mehrheit der Arbeiterklasse zu organisieren, die Sozialistische Partei zu zerschlagen oder die Kontrolle der Gewerkschaften an sich zu reißen. Der Grund dafür lag in ihrem Unvermögen, die unter den deutschen Arbeitern wirkenden psychologischen Faktoren und soziologischen Trends richtig einzuschätzen, so gut wie in ihrer Unfähigkeit, die materiellen Interessen und ideologischen Bande zu zerreißen, welche die Arbeiter an das vom Reformismus entwickelte System der pluralistischen Demokratie ketteten. Dennoch schwankte die reformistische Politik schon allein wegen der Drohung, die Arbeiter könnten den reformistischen Organisationen den Rücken kehren und zur Kommunistischen Partei überlaufen, ständig hin und her. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür bietet die zögernde Duldung des Kabinetts Brüning (1930–1932) durch die Sozialdemokratische Partei, verglichen mit ihrer unmißverständlichen Opposition gegenüber den Kabinetten Papen und Schleicher (1932). Die Kommunistische Partei hatte alle drei als faschistische Diktaturen angegriffen.