Behemoth

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Aus der Reihe: eva taschenbuch
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Wo und wie also taucht der Holocaust in Franz Neumanns „Behemoth“ auf? Dass er nicht sofort als Genozid, d.h. als organisierter Massenmord an den Juden, in Erscheinung tritt, hängt natürlich mit dem frühen Erscheinungsdatum des Buches zusammen: Der Erarbeitungszeitraum der ersten Auflage liegt vor den maßgeblichen Entscheidungen des NS-Regimes im Laufe des Jahres 1941. Dennoch gibt es im (ersten) Teil über das politische System des Nationalsozialismus ein eigenes und ausführliches Kapitel54 über die Vorgeschichte des Antisemitismus und seinen hohen Stellenwert im deutschen 19. Jahrhundert, auch erkennt Neumann zweifelsfrei, dass der Antisemitismus zentraler Bestandteil der NS-Ideologie wurde und dass er nach 1933 als direktes Instrument für die schrittweise Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung gedient hat. Im (zweiten) Ökonomieteil wird dann die sog. „Arisierung“ der jüdischen Betriebe, sowohl im Reichsgebiet wie später in den eroberten Gebieten, dargestellt und mit großer Bitterkeit als Teil der staatlich gelenkten Monopolbildung verurteilt.55 Dominant für all diese Passagen ist jedoch eine stark funktionalistische Auffassung, die sich nicht damit auseinandersetzt, ob sich die antijüdische Politik rein instrumentell überhaupt verstehen lasse. Folglich taucht die Judenverfolgung auch dort nicht mehr eigens auf, wo – im dritten Teil des „Behemoth“ – die Arbeiterbewegung als der prädestinierte „Feind“ des Nationalsozialismus dargestellt wird.

Dieses Bild verändert sich auf dem Weg zur zweiten Auflage des „Behemoth“, wobei man vorausschicken muss, dass Neumann mittlerweile für den amerikanischen Geheimdienst tätig geworden war und offenbar nur mehr die Zeit fand, einen ergänzenden, aber immerhin 100-seitigen Anhang zu schreiben. Die Veränderungen sind gravierend und halten doch am genannten funktionalistischen Bias fest: Während 1942 als der eigentliche Gegner des Nationalsozialismus die politische Arbeiterbewegung erscheint, die zwar zerschlagen und atomisiert, aber dennoch noch nicht völlig demoralisiert ist, sieht Neumann 1944, zumal nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler, die Chancen für einen erfolgreichen Widerstand so gut wie verschwunden. Umso mehr setzt er jetzt auf den militärischen Angriff von außen, dessen Erfolg für ihn u.a. davon abhängen wird, dass die Westmächte und vor allem die USA sich nicht nur als demokratische Alternative darstellen, sondern auch die Voraussetzungen für eine sozial gerechtere Gesellschaftsordnung schaffen. Überlegungen, ob die militärischen Operationen auch dazu dienen könnten oder sollten, die in Osteuropa bereits voll in Gang befindliche und den alliierten Entscheidungsträgern durchaus bekannte Vernichtungsmaschinerie gegen die Juden zu stoppen, werden dabei nicht angestellt.

Was sich im ausführlichen Anhang von 1944 jedoch findet, ist eine bemerkenswerte Verschärfung des Blickes, die keinen Zweifel mehr daran lässt, dass die physische Ausrottung der Juden integraler Bestandteil des imperialistischen Expansionskrieges im Osten ist, ja dass die Vernichtungswut regelmäßig mit besonderer Schärfe gegen die jeweiligen jüdischen Bevölkerungsteile gerichtet ist. Neumann übernimmt hier, wie bereits erwähnt, aus seinem eigenen OSS-Papier vom Mai 1943 wortwörtlich die „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“, bezeichnet den seit 1942 vor allem im Osten zentrierten Massenmord als „planvolle Ausrottung der Juden“, aber kehrt dann doch wieder zur funktionalistischen Interpretation zurück: Der Holocaust wird in den größeren Zusammenhang eingebettet und ist für ihn das „Testfeld universaler terroristischer Methoden, die sich gegen alle jene Gruppen und Institutionen richten, die sich dem Nazisystem nicht voll und ganz unterworfen haben“.56

Es ist eine der schwierigen, aber auch interessanten Interpretationsfragen, ob mit dieser Zuspitzung der ganzen Wahrheit des Holocaust tatsächlich ins Auge gesehen oder ob ihr letztlich doch wieder funktionalistisch, d.h. rationalisierend ausgewichen wurde. Eine Überlegung könnte z.B. so lauten: Bezieht man die Schlusspointe, mit der Neumanns Anhang von 1944 endet, nämlich dass die Wirtschafts- und Parteieliten immer mehr miteinander verschmelzen, zurück auf die vorher formulierte These, dass die wichtigste Funktion des offiziellen Antisemitismus darin bestehe, das Täterkollektiv im organisierten Verbrechen zusammenzuschweißen57, dann kann von einer Verharmlosung des Judenmords schwerlich die Rede sein. Gerade die funktionale Analyse, besonders wenn sie sozialpsychologisch ausformuliert wäre, könnte sich dann als ein gangbarer Weg erweisen, um dem Holocaust den adäquaten Platz im Verständnis des NS-Herrschaftssystems zuzuweisen: Seine generalisierende Interpretation würde dann nicht mehr in apriorischen Widerspruch zu seiner „historischen Singularität“ treten, um die Kurzformel aus dem sog. Historikerstreit zu verwenden, vielmehr erschiene der Holocaust als singulärer Teil einer allerdings universellen Vernichtungslogik!

Wenn Franz Neumann Überlegungen dieser Art nicht angestellt, sich ihnen jedenfalls öffentlich nicht gestellt hat, wie ist bezüglich des Genozids an den Juden die Wirkungsgeschichte des „Behemoth“ in der längeren Perspektive verlaufen? Der beredteste Zeuge dafür ist Raul Hilberg, der Anfang der 1950er Jahre an der Columbia University bei Franz Neumann studiert hat und heute als einer der Pioniere der historischen Holocaust-Forschung gilt.58 In den Erinnerungen an seinen Lehrer verweist Hilberg zunächst auf die starke psychische Abwehr, mit der Franz Neumann auf sein Vorhaben reagierte, die „Vernichtung der europäischen Juden“, wie der spätere Titel von Hilbergs Standardwerk heißt, als Thema einer Master- und dann einer Doktorarbeit zu akzeptieren. Die Abwehr konzentrierte sich besonders auf den Aspekt der erzwungenen jüdischen Mitwirkung an der Durchführung des Holocaust, also auf genau das, was später bei Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ zum Skandalon wurde, und führte sogar zu der Forderung, die entsprechenden Kapitel aus der Doktorarbeit zu streichen. „Ich glaube, in diesem Punkt verhielt sich Neumann wie jeder andere dem Judentum tief verpflichtete Mensch, als der er auf den ersten Blick ja gar nicht erschien, der er aber doch war“59, erinnert sich sein ehemaliger Schüler. Aber wieder war das nur die eine Seite. Die andere, die positive Seite der verwickelten Wirkungsgeschichte des „Behemoth“ hat sich, wenn man so will, gegen die Verzagtheit seines Autors durchgesetzt. Nicht nur, dass Neumann seinem Doktoranden dann doch schon ganz früh Zugang zu den maßgeblichen Originaldokumenten des Nürnberger Prozesses verschaffte, vielmehr orientierte sich Hilberg für den Fortgang seiner Forschungen ganz direkt an den theoretischen Prämissen seines Lehrers: „Ich übernahm seine Vorstellung, dass im Nationalsozialismus ein Nicht-Staat, wie er es nannte, vorlag, dass die vier Herrschaftseliten, die traditionellen, Heer und Staatsdienst und die neueren, Wirtschaft und Partei, nicht auf einer einheitlichen, rationalen Grundlage operierten, wie wir es mit einem Gesetzgeber oder einer Verfassung verbinden ...“60 Es war also nichts anderes als die lapidare Grundstruktur des „Behemoth“ selber sowie der unerbittliche Realismus des gesellschaftstheoretischen Zugriffs, die, weit über Neumanns Tod hinaus, den Grundstein für die heute etablierte und international ausgerichtete Holocaust-Forschung gelegt haben.61

Bemerkung zum Namen Behemoth

In der jüdischen Eschatologie – babylonischen Ursprungs – sind Behemoth und Leviathan die Namen zweier Ungeheuer. Behemoth beherrscht das Land (die Wüste), Leviathan die See, Behemoth ist männlichen, Leviathan weiblichen Geschlechts. Die Tiere des Landes verehren Behemoth, die Tiere der See Leviathan als ihre Herren. Beide sind Ungeheuer des Chaos. Nach den apokalyptischen Schriften kehren Behemoth und Leviathan kurz vor dem Ende der Welt wieder. Sie werden eine Schreckensherrschaft errichten – aber Gott vernichtet sie. Anderen Versionen zufolge bekämpfen sich Behemoth und Leviathan unablässig, und schließlich werden sie sich gegenseitig umbringen. Dann ist der Tag der Gerechtigkeit gekommen. Die Tiere verzehren das Fleisch beider Ungeheuer bei einem großen Festmahl, das die Ankunft des Reiches Gottes ankündigt. Die jüdische Eschatologie, das Buch Hiob, die Propheten, die apokryphen Schriften der Bibel sind voll von Hinweisen auf diesen Mythos, der häufig unterschiedlich gedeutet und oft den politischen Umständen angepaßt wird. Der heilige Augustinus sah in Behemoth den Satan.

Hobbes war es, der beiden, Leviathan und Behemoth, zur Popularität verhalf. Sein Leviathan ist die Analyse eines Staates, das heißt eines politischen Zwangssystems, in dem Reste der Herrschaft des Gesetzes und von individuellen Rechten noch bewahrt sind. Sein Behemoth oder das lange Parlament, in dem er den englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts behandelt, schildert dagegen einen Unstaat, ein Chaos, einen Zustand der Gesetzlosigkeit, des Aufruhrs und der Anarchie.

Da wir glauben, daß der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen »verschlungen« hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System:

DER BEHEMOTH

Vorwort zur ersten Auflage (1942)

Das Manuskript wurde abgeschlossen, als Deutschland die Sowjetunion angriff; das Buch wurde fertiggestellt, als Deutschland, um sein Gesicht zu wahren, den Vereinigten Staaten den Krieg erklärte. Da der Autor nie an die Möglichkeit einer russisch-deutschen Kollaboration glaubte, und da der Krieg mit den Vereinigten Staaten – erklärt oder nicht erklärt – seit 1939 ein Faktum war, hatten die beiden Ereignisse keinen Einfluß auf das Buch.

 

Jedoch haben sie, sogar schon während dies geschrieben wird, die innenpolitische Situation Deutschlands sowohl in militärischer als auch in psychologischer Hinsicht tief beeinflußt.

Im Ersten Weltkrieg hatte Deutschland an zwei Fronten zu kämpfen, nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern seit 1917 auch psychologisch: die beiden Feinde waren der Bolschewismus und der Wilsonianismus. Die Niederlage Deutschlands im Jahre 1918 bedeutete den Sieg dieser zwei Doktrinen über den Semiabsolutismus des Kaiserreiches, und im schließlichen Wettstreit zwischen Demokratie und Bolschewismus blieb Wilsons »Neuer Friede« siegreich. Die heutige Konstellation ist fast dieselbe. Der Nationalsozialismus ist wieder dabei, einen psychologischen Zwei-Fronten-Krieg zu führen. Für die ältere Generation des deutschen Volkes ist Amerika immer noch das Land der unbegrenzten industriellen Möglichkeiten; es repräsentiert eine Lebensweise, die einer manipulierten und terrorisierten Kultur unendlich überlegen ist. Für große Teile der Arbeiter, seien sie Kommunisten oder nicht, ist Sowjetrußland die Verwirklichung alter Träume – dieses Mal mit einer militärischen Leistungskraft verbunden, die genau so groß und vielleicht sogar größer als die des Nationalsozialismus ist.

Eine militärische Niederlage Deutschlands ist notwendig. Ob der Nationalsozialismus ohne eine militärische Niederlage zerschlagen werden kann, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich sicher: eine militärische Niederlage wird ihn auslöschen. Die militärische Überlegenheit der Demokratien und Sowjetrußlands muß dem deutschen Volk bewiesen werden. Die Ideologie des Nationalsozialismus steht und fällt mit seiner angeblichen ›Leistungskraft‹. Diese muß widerlegt werden. Eine Dolchstoßlegende wie 1918 darf sich nicht wieder erheben können. Mehr und bessere Flugzeuge, Panzer und Gewehre sowie eine vollständige militärische Niederlage werden den Nationalsozialismus im Bewußtsein des deutschen Volkes vernichten.

Aber das genügt nicht. Der Krieg muß durch die Spaltung Deutschlands, die Trennung der großen Massen des Volkes vom Nationalsozialismus, verkürzt werden. Dies ist Aufgabe der psychologischen Kriegführung, die nicht von der Innen- und Außenpolitik der Gegner Deutschlands zu trennen ist. Psychologische Kriegführung ist nicht Propaganda; sie ist Politik. Sie besteht darin, dem deutschen Volk zu beweisen, daß militärische Überlegenheit durch eine Demokratie errungen werden kann, die keinen Anspruch auf Vollkommenheit erhebt, sondern vielmehr ihre Mängel eingesteht und nicht vor der langwierigen und mühsamen Aufgabe zurückschreckt, sie zu überwinden.

Das ganze Buch hindurch habe ich mich bemüht, nur originale deutsche Quellen für meine Analysen, die sich von den gängigen Interpretationen des Nationalsozialismus häufig stark unterscheiden, zu benutzen. Die Einleitung ist nicht als eine Geschichte oder vollständige kritische Analyse der Weimarer Republik gedacht; sie versucht lediglich, die strukturellen Mängel ihres Systems aufzuzeigen. Ich hoffe, in Kürze eine Sozialgeschichte der Weimarer Republik vorlegen zu können. Die Idee zu dem vorliegenden Buch entstand während meines Studiums an der London School of Economics and Political Science, wo ich das große Vergnügen hatte, für drei Jahre zu arbeiten. Für viele Anregungen meines Freundes Harold J. Laski und von Professor Morris Ginsberg bin ich zu tiefem Dank verpflichtet.

Mein Dank gebührt vielen Freunden, vor allem meinen Kollegen am Institut für Sozialforschung und dessen Leitern Max Horkheimer und Frederick Pollock. Mein Freund Herbert Marcuse ging einige Teile des Manuskripts durch; Otto Kirchheimer gab mir wertvolle Anregungen zu Fragen des Strafrechts; A. R. L. Gurland machte mir seine umfassende Kenntnis der deutschen Industrie zugänglich. Mein Freund D. V. Glass half mir in dem Abschnitt über Bevölkerungsprobleme. Mein früherer Assistent, O. K. Flechtheim, nunmehr Dozent an der Atlanta University, verwandte viel Zeit auf das Studium der Geschichte der Weimarer Republik. Professor E. J. Gumbel, heute an der New School for Social Research, überließ mir seine zahlreichen Publikationen über die Rechtsprechung in der Weimarer Republik.

The Honorable Thurman W. Arnold, Assistant Attorney General der USA, gestattete mir freundlicherweise die Benutzung einer Denkschrift, die ursprünglich für ihn und die Vorträge über das deutsche Kartellsystem verfaßt worden war, welche ich 1938 und 1939 vor den Mitgliedern der Anti-Trust-Kammer hielt.

Das Research Institute on Peace and Post-War Problems des American Jewish Committee gestattete mir freundlicherweise, meine Denkschrift über Deutschlands »Neuordnung« in das Buch mit aufzunehmen. Professor Robert M. MacIver ging das Schlußkapitel durch und gab mir eine Reihe wertvoller Anregungen. Professor Alfred E. Cohn vom Rokkefeller Institute for Medical Research war so freundlich, mir eine Geldsumme für die Druckkosten zur Verfügung zu stellen. Redigiert wurde das Buch von den Herren D. V. Glass, M. I. Finkelstein und Norbert Guterman, die mir zusammen mit Felix Weil auch beim Lesen der Korrekturbögen behilflich waren.

Folgenden Verlagsanstalten sage ich Dank für die Erlaubnis zum Abdruck:

Little, Brown & Company, Boston: Douglas Miller, You Can’t Do Business with Hitler.

Houghton Mifflin Company, Boston: Adolf Hitler, Mein Kampf (veröffentlicht von Reynal und Hitchcock).

Alfred A. Knopf, New York: William L. Langer, The Diplomacy of Imperialism.

The Brookings Institution, Washington: Cleona Lewis, Nazis Europe and World Trade.

The Viking Press, New York: Thorstein Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution.

W. W. Norton, New York: Alfred Vagts, A History of Militarism, sowie Emil Lederer, State of the Masses. The Threat of a Classless Society.

Columbia University Press, New York: Mildred Wertheimer, The Pan-German League.

A. J. Holman Company, Philadelphia, aus ihrer Ausgabe von Martin Luthers Werken, Band I, S. 250 und 271, Band IV, S. 240, 249 und 272.

23. Dezember 1941

FRANZ NEUMANN

Vorwort zur zweiten Auflage (1944)

Unter normalen Bedingungen würde der Autor ein neues Buch geschrieben haben. Dies, wie auch die derzeitigen Schwierigkeiten der Herstellung, hätten eine rasche Veröffentlichung unmöglich gemacht. Daher entschlossen sich Verleger und Autor, der ersten Auflage einen umfassenden Anhang beizugeben. Der Anhang bringt die Entwicklung des Nationalsozialismus auf den neuesten Stand. Er füllt auch bestimmte Lücken der ersten Auflage, vor allem in vier großen Bereichen:

der deutschen Verwaltung, insbesondere der Polizei;

der Struktur der Partei;

der Theorie und Praxis der deutschen Militärregierung;

der Struktur der Wirtschaftskontrollen.

Der Anhang ist somit ein kleines Buch für sich, und nur der Mut der Oxford University Press machte es möglich, ein wesentlich umfangreicheres Buch zum alten Preis herauszubringen.

Jedem einzelnen Kapitel des Anhangs ist eine Anmerkung vorangestellt, die darauf verweist, zu welchem Hauptkapitel des Buches es eine Ergänzung darstellt. Da das neue Material zudem ausführlich im Inhaltsverzeichnis und im Index angegeben ist, dürfte es nicht schwerfallen, Buch und Anhang miteinander zu verbinden.

Nachdem der Anhang fertiggestellt war, verschworen sich deutsche Generäle zu einem Mordanschlag auf Hitler. Das Attentat vom 20. Juli 1944 schlug fehl, führte aber zur völligen Konzentration der politischen, legislativen und administrativen Macht in den Händen von Göring und Goebbels unter der Leitung Himmlers, der auch das Ersatzheer kontrolliert. Himmler ist mithin nicht nur der unumstrittene Herr der Heimatfront, sondern sein Einfluß reicht über die Kontrolle des Ersatzheeres und der Waffen-SS bis tief in die Reihen der kämpfenden Front. Der Erlaß Hitlers vom 25. Juli 1944, durch den Göring damit beauftragt wurde, die Heimatfront auf den totalen Krieg umzustellen, und der Goebbels zu seinem Bevollmächtigten bestimmte, könnte zum Verschwinden des heute noch bestehenden Dualismus von Staat und Partei führen. Die Partei würde dann die Relikte des rationalen Verwaltungsstaates restlos beseitigen und an seine Stelle die amorphe, formlose Bewegung setzen und damit das wenige, was vom Staat übriggeblieben ist, in eine mehr oder minder organisierte Anarchie verwandeln.

1. August 1944

Washington, D. C.

F. N.

Einleitung

Der Zusammenbruch der Weimarer Republik

1. Das Kaiserreich

Ein halbes Jahrhundert oder länger drehte sich die Geschichte des modernen Deutschland um einen Angelpunkt: die imperialistische Expansion durch Krieg. Mit dem Auftreten des Sozialismus als einer industriewirtschaftlichen und politischen Bewegung, die den Bestand des industriellen, finanziellen und agrarischen Reichtums bedrohte, beherrschte die Furcht vor dieser Bedrohung des Imperialismus die innere Politik des Reiches. Bismarck versuchte, die sozialistische Bewegung zu vernichten, einerseits durch Lockmittel, andererseits und mehr noch durch eine Reihe von Gesetzen, die die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften verboten (1878-1890). Er scheiterte. Die Sozialdemokratie ging stärker als je zuvor aus diesem Kampf hervor. Wilhelm I. wie Wilhelm II.1 versuchten sodann, den Einfluß der Sozialisten unter den deutschen Arbeitern zu untergraben, indem sie mehrere Sozialreformen durchführten – auch sie scheiterten.

Der Versuch, die Arbeiterklasse mit dem Staat auszusöhnen, ging so weit, wie die herrschenden Kräfte es gerade noch wagen konnten; weitere Vorstöße in dieser Richtung hätten bedeutet, die Grundlagen, auf denen das Reich beruhte – die halbabsolutistischen und bürokratischen Prinzipien des Regimes – selber aufzugeben. Nur politische Zugeständnisse an die Arbeiterklasse konnten eine Aussöhnung herbeiführen. Die herrschenden Parteien waren jedoch nicht willens, das preußische Dreiklassenwahlrecht abzuschaffen und im Reich selbst sowie in seinen Einzelstaaten eine verantwortliche parlamentarische Regierung zu errichten. Angesichts dieses Widerstrebens blieb ihnen nichts anderes übrig, als gegen den Sozialismus als einer organisierten politischen und ökonomischen Bewegung einen Kampf auf Leben und Tod zu führen.

Die gewählten Kampfmethoden nahmen drei Hauptformen an: 1. Die Reorganisation der preußischen Bürokratie zu einer Hochburg des Semi-Absolutismus, 2. die Stärkung des Heeres als eines Bollwerks monarchischer Macht und 3. das Zusammenschweißen der besitzenden Klassen. Das Fehlen jeglicher liberalen Züge in diesem Programm ist bezeichnend. Die Liberalen waren in Deutschland 1812, 1848 und erneut im Verfassungskonflikt von 1862 geschlagen worden. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hatte der Liberalismus längst aufgehört, eine bedeutende kämpferische politische Doktrin oder Bewegung zu sein; er hatte seinen Frieden mit dem Reich geschlossen. Zudem betrachteten die Verfechter des Absolutismus aus theoretischen Gründen den Liberalismus nicht als ein brauchbares Instrument gegen den Sozialismus. Nehmen wir nur die Lehre von den unveräußerlichen Rechten – was war sie anderes als ein Mittel für den politischen Aufstieg und die Stärkung der arbeitenden Klassen? Rudolph Sohm, der große konservative Rechtshistoriker, drückte die herrschende Überzeugung folgendermaßen aus:

»Aus den Kreisen des dritten Standes selbst sind die Gedanken hervorgegangen, welche nun … die Massen des vierten Standes aufreizen gegen den dritten. Was in den Büchern der Gebildeten und Gelehrten geschrieben ist, das und nichts anderes ist es, was man jetzt auf den Gassen predigt … Die unsere Gesellschaft beherrschende Bildung, sie ist es, welche sich selbst den Untergang predigt. Wie die Bildung des achtzehnten Jahrhunderts, so trägt die Bildung der Gegenwart die Revolution unter ihrem Herzen. Wenn sie gebären wird, so wird das Kind, welches sie mit ihrem Blut genährt hat, seine eigene Mutter umbringen.«2

Die Reorganisation der Bürokratie wurde von Robert von Puttkamer unternommen, dem preußischen Innenminister von 1881 bis 1888. Entgegen der allgemeinen Auffassung war die frühere Bürokratie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts weit davon entfernt, konservativ zu sein; sie machte gemeinsame Sache mit den Verfechtern des aufsteigenden Industriekapitalismus gegen die feudalen Privilegien. Die Umwandlung der Bürokratie setzte ein, als der Adel selbst am kapitalistischen Unternehmertum ausgedehnt zu partizipieren begann. In einer gründlichen Säuberung entließ Puttkamer die »unzuverlässigen« Elemente (und dazu gehörten sogar Liberale). Das Beamtentum wurde zu einer geschlossenen Kaste; die Kampagne, ihm einen durch und durch konservativen Geist einzuhauchen, war genau so erfolgreich wie in der Armee. Der König konnte schließlich per Erlaß fordern, daß die »Beamten, welche mit der Ausführung meiner Regierungsakte betraut sind und deshalb ihres Dienstes nach dem Disziplinargesetz enthoben werden können«, bei Wahlen seine Kandidaten zu unterstützen hatten.3

 

Puttkamer brachte noch eine weitere Waffe in den Kampf gegen den Sozialismus ein. Erfüllt von der Überzeugung, daß »Preußen doch der ganz besondere Liebling des lieben Gottes ist«,4 machte er die Religion zu einem Teil des bürokratischen Lebensstils.5 Bürokratie und Religion, oder vielmehr die weltliche und die geistliche Bürokratie zusammen, wurden die vorzüglichsten Agenturen gegen den Sozialismus. Die ideologische Begleitung war die unaufhörliche Verteufelung des Materialismus und die Verherrlichung des philosophischen Idealismus. So kleidete Heinrich von Treitschke, der herausragende deutsche Historiker dieser Zeit, seine Lobeshymnen auf die Macht, den Staat und die großen Männer in die gleiche Sprache des modernen Idealismus, wie sie in jeder Universität, jeder Schule, von jeder Kanzel immer wieder zu hören war. Zwischen der Konservativen Partei, der Protestantischen Kirche und dem preußischen Beamtentum wurde ein fester Bund geschlossen.

Der zweite Schritt war die Umwandlung der Armee in ein handfestes Werkzeug der Reaktion. Seit Friedrich II. von Preußen war das Offizierskorps stets überwiegend aus dem Hochadel rekrutiert worden, dem man natürliche Führungsqualitäten zuschrieb. Friedrich II. zog sogar ausländische Adlige preußischen Bürgerlichen vor, die er ebenso wie die Männer, die in seinen Armeen dienten, als »Kanaillen« und Vieh betrachtete.6 Die Napoleonischen Kriege vernichteten diese Armee und bewiesen, daß die einzig und allein durch brutale Disziplin zusammengehaltenen Truppen den revolutionären Heeren Frankreichs weit unterlegen waren. Unter Gneisenau und Scharnhorst wurde die deutsche Armee dann reorganisiert und sogar in begrenztem Umfang demokratisiert, doch hielt diese Entwicklung nicht lange an. 1860, als Manteuffel seine große Säuberung beendet hatte, waren weniger als 1000 von 2900 Linieninfanterieoffizieren Nicht-Adlige. Sämtliche Offiziersränge in der Gardekavallerie sowie 95 Prozent in der übrigen Kavallerie und den besseren Infanterieregimentern waren mit Adligen besetzt.7

Genau so wichtig war es, die Armee an die bürgerliche Gesellschaft anzupassen und mit ihr auszusöhnen. Mit dem Niedergang des Liberalismus innerhalb des Bürgertums und der wachsenden Bedrohung durch die sozialistische Bewegung gab die Bourgeoisie in den 80er Jahren ihre frühere Opposition gegen das Heereserweiterungsprogramm auf. Es entwickelte sich ein Bündnis zwischen den zwei ehemaligen Feinden; die Gestalt des »feudalen Bourgeois« erschien auf der Bühne. Institutioneller Nährboden dieses neuen Typs war der Reserveoffizier, der weitgehend aus der unteren Mittelschicht rekrutiert wurde, um das ungeheure Personalproblem zu lösen, das durch die Vergrößerung der Armee auf eine Kriegsstärke von 1 200 000 Mann im Jahre 1888 und auf 2 000 000 Mann (3,4% der Gesamtbevölkerung) im Jahre 1902 entstanden war. Der neue »feudale Bourgeois«8 besaß den ganzen Dünkel des alten adligen Feudalherrn, aber wenig von seinen Tugenden und seiner Bindung an Treueverhältnisse und die Kultur. Er repräsentierte eine Koalition von Armee, Bürokratie, Großgrund- und Fabrikbesitzern zum Zwecke der gemeinsamen Ausbeutung des Staates.

Im Frankreich des 19. Jahrhunderts wurde die Armee in das Bürgertum eingegliedert; in Deutschland dagegen wurde die Gesellschaft in die Armee eingegliedert.9 Die strukturellen und psychologischen Mechanismen, die für die Armee typisch waren, schlichen sich immer mehr in das zivile Leben ein, bis sie es schließlich fest im Griff hatten.10 Der Reserveoffizier war die Schlüsselfigur in diesem Prozeß. Rekrutiert aus der »gebildeten« und privilegierten Schicht der Gesellschaft, trat er an die Stelle des weniger privilegierten, aber liberaleren Landwehroffiziers. (Reaktionäre hatten der Landwehr immer mißtraut und in ihren Offizieren »den wichtigsten Hebel für eine Emanzipation des Mittelstandes« gesehen.)11 Im Jahre 1913, als der Nachwuchs an Reserveoffizieren aus den privilegierten Schichten sich für die geplante Vergrößerung der Armee als zu gering erwies, stellte das preußische Heeresministerium lieber still seine Erweiterungspläne zurück, als daß es einer »Demokratisierung« des Offizierskorps die Tore geöffnet hätte.12 Ein Rechtsanwalt verlor sein Reserveoffizierpatent, weil er einen Liberalen in einer cause célèbre verteidigte; ebenso erging es einem Bürgermeister, der den Pächter eines städtischen Grundstückes nicht daran gehindert hatte, eine sozialistische Versammlung abzuhalten.13 Was die Sozialisten angeht, so war es klar, daß ihnen die nötigen ›moralischen Qualitäten‹ eines Offiziers abgingen.

Der dritte Schritt war die Aussöhnung zwischen Agrar- und Industriekapital. Die große Krise von 1870 hatte die Landwirtschaft hart getroffen. Zusätzliche Schwierigkeiten entstanden durch die Einfuhr amerikanischen Getreides, die steigenden Preise für Industriegüter14 und die gesamte Handelspolitik des Reichskanzlers Caprivi, die von dem Bestreben beherrscht wurde, die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse niedrig zu halten. In eine verzweifelte Lage getrieben, organisierten die Agrarier 1893 den Bund der Landwirte und begannen einen Kampf für Getreide-Schutzzölle,15 der beim Industriekapital Empörung auslöste.

Ein Handel von historischer Bedeutung setzte dem Konflikt ein Ende.16 Die industriellen Gruppen drängten auf ein großes Flottenprogramm; die Agrarier, die dem zuvor entweder ablehnend oder gleichgültig gegenübergestanden hatten, gaben durch ihr Hauptsprachrohr, die preußische Konservative Partei, ihre Einwilligung, für die Flottenvorlage zu stimmen, wenn die Industriellen als Gegenleistung ihre Forderung nach Schutzzöllen unterstützten. Die Politik der Verschmelzung aller entscheidenden kapitalistischen Kräfte wurde schließlich unter der Führung von Johannes von Miquel vollendet, der zunächst 1884 als Führer der Nationalliberalen und später als preußischer Finanzminister von 1890 bis 1901 die rechtsgerichtete Mehrheit seiner Partei hinter Bismarcks Politik brachte und seine berühmte Sammlungspolitik einleitete, die Zusammenfassung aller »vaterländischen Kräfte« gegen die Sozialdemokratie. Ihren höchsten Ausdruck fand die Sammlungspolitik in der direkten Verknüpfung der Getreidezölle mit dem Flottenbau im Jahre 1900. Die Nationalliberalen, das katholische Zentrum und die Konservative Partei hatten zu einer gemeinsamen materiellen Basis gefunden.

Das Ende des Ersten Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegszeit zeigten bald, daß das Bündnis der Reaktion auf zu zerbrechlichem Boden stand. Es gab keine allgemein anerkannte Ideologie, die es zusammengehalten hätte (ebensowenig existierte eine loyale Opposition in Gestalt einer kämpferischen liberalen Bewegung). Es ist eine auffällige Tatsache, daß das Deutsche Kaiserreich die einzige Großmacht ohne jedwede anerkannte Staatstheorie war. Wo lag zum Beispiel der Sitz der Souveränität? Der Reichstag war keine parlamentarische Institution. Er konnte weder die Ernennung noch die Entlassung von Kabinettsmitgliedern erzwingen. Politischen Einfluß konnte er, insbesondere nach Bismarcks Entlassung, nur indirekt ausüben; nie mehr als dies. Die verfassungsmäßige Position des preußischen Landtages war noch schlechter; mit Hilfe seiner eigens dafür erdachten »Theorie der Verfassungslücke« war Bismarck sogar in der Lage gewesen, seine Budgets ohne parlamentarische Bewilligung zu verabschieden.