Behemoth

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Aus der Reihe: eva taschenbuch
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Die Führerverordnung vom 29. März 1935 legt den Umfang der Finanzkontrolle des Reichsschatzmeisters fest. Danach bilden die Partei und ihre Gliederungen eine Finanzeinheit unter Aufsicht des Schatzmeisters, der in Erfüllung seiner Aufgaben auch jede beliebige staatliche Behörde um Rechtshilfe anrufen kann. Der Reichsschatzmeister hat den finanziellen Oberbefehl über das Vermögen der Partei sowie ihrer Gliederungen und zugleich die Aufsicht über die Gelder aller der NSDAP angeschlossenen Verbände. Faktisch setzt er die Beträge fest, die jeder einzelne angeschlossene Verband aus den Reihen seiner Mitglieder aufbringen muß. Die Finanzkontrolle der Partei beschränkt sich nicht auf Parteiorganisationen, sondern erstreckt sich auch auf außerparteiliche Aktivitäten wie z. B. die Sammlungen des Winterhilfswerkes (Verordnungen vom 1. Dezember 1936 und 24. März 1937), obwohl die meisten Beiträge von Nicht-Mitgliedern gezahlt werden. Von der Finanzaufsicht des Reichsschatzmeisters ausgenommen dagegen sind der Reichsarbeitsdienst und das NS-Fliegerkorps (Verordnungen vom 17. April 1939). Dieser allgemeine Trend zur Ausnahme ist auch für die SS zu beobachten: diejenigen NS-Formationen, die im wesentlichen als Glieder der staatlichen Zwangsgewalt fungieren, werden schrittweise von der Parteikontrolle befreit.

Grundlage der Parteifinanzen sind die Beiträge der Parteimitglieder, wobei die alten Parteigenossen (die der NSDAP vor dem 1. April 1933 beitraten) einen Einheitssatz bezahlen, während für die neuen Mitglieder eine Staffelung der Beiträge nach der Höhe des Einkommens vorgenommen wurde. Hinzu kommen Bearbeitungsgebühren (Aufnahmegebühren, Zustellungsgebühren usw.), Lizenzgebühren für die Herstellung von Parteiuniformen, -abzeichen und dergleichen, durch besondere Sammlungen aufgebrachte Gelder (Gesetz vom 5. November 1934), Lotterien (Verordnung vom 6. März 1937) und staatliche Subventionen. Wie aus der Mitgliederzahl geschlossen werden kann, handelt es sich um riesige Beträge (Ende 1934 hatte die NSDAP rund 2 400 000 Mitglieder; diese Zahl blieb bis zum 1. Mai 1937 ungefähr konstant und stieg dann stark an). Seit dem 10. Mai 1939, als die Beitrittsbedingungen entschärft wurden, ist der Mitgliederzuwachs noch größer geworden. Nach Hitlers Vorstellung liegt das ideale Zahlenverhältnis von Parteimitgliedern zur übrigen Bevölkerung bei etwa 10 Prozent. Die Bestimmungen vom 11. August 1937 sehen die Rekrutierung neuer Mitglieder aus der Hitlerjugend vor, sofern sie diesem Verband für vier Jahre ohne Unterbrechung angehört und das 18. Lebensjahr erreicht haben. Ihre Aufnahme findet auf dem alljährlichen Parteitag der NSDAP statt. Die Partei hat nicht nur einen gewaltigen Spitzenapparat, sondern auch 760 Kreisleiter, 21 354 Ortsgruppenleiter, 70 000 Zellenleiter und 400 000 Blockleiter.56 Als Ergebnis stehen Staat und Partei Seite an Seite. Rechtlich kontrolliert keiner von beiden den anderen, jeder ist in seinem eigenen Bereich souverän – eine verfassungsmäßig in sich widersprüchliche Situation.

III. Der charismatische Führer im Führerstaat

1. Die verfassungsmäßige Funktion des Führers

Der gängigen nationalsozialistischen Ideologie zufolge ist der Führer, Adolf Hitler, das verbindende Glied zwischen Staat, Partei und Volk. In der deutschen Etymologie hat der Begriff »Führer«, wie ein nationalsozialistischer Philosoph zugeben mußte, einen recht prosaischen Hintergrund.1 In der Armee, dem hierarchischen Modell, das die nationalsozialistischen Theoretiker so gerne beschwören, gibt es keine »Führer« (außer in den untersten Rängen). Dafür gibt es aber eine ganze Menge von »Führern« in ausgesprochen unheroischen Berufen: der Straßenbahnfahrer, der Lokomotivfahrer und der Schiffslotse hießen gewöhnlich »Führer«, wenngleich sie sich heute nicht mehr so nennen dürfen.

Das Führerprinzip bezeichnet vor allem anderen eine von oben nach unten und niemals umgekehrt aufgebaute Organisationsform. Es herrscht in allen sozialen und politischen Organisationen außer der Justiz, die, wie nationalsozialistische Juristen gerne sagen, immer noch nach »germanischen« Grundsätzen entscheidet, obwohl schwer einzusehen ist, warum diese angeblich germanische demokratische Praxis beim Richterstuhl beginnen und enden soll. Das Führerprinzip ist auch bei Industrieunternehmen, Konzernen oder Kartellen nicht verwirklicht.2 Um die nationalsozialistische Ideologie zu begreifen, ist das Verständnis der Führerfunktion unerläßlich.

Führung ist angeblich etwas völlig anderes als Herrschaft: der deutschen Ideologie zufolge macht gerade das Wesen der Führung den Unterschied des Regimes zur absolutistischen Herrschaft aus. Ähnlich wird Deutschlands Regiment in Europa nicht als Herrschaft bezeichnet. Vielmehr bestehe die »Neue Ordnung« in der »Führung« durch Deutschland und Italien. »Der Anspruch Deutschlands und Italiens heißt nicht mehr Herrschaft, sondern Führung«, heißt es in einem Leitartikel der Frankfurter Zeitung vom 5. Januar 1941.3

Adolf Hitler ist der oberste Führer. Er vereinigt in sich die Funktionen des obersten Gesetzgebers, des obersten Regierenden und des obersten Richters; er ist der Führer der Partei, der Wehrmacht und des Volkes. In seiner Person ist die Macht des Staates, des Volkes und der Bewegung vereint.4 Ursprünglich war der Führer nur Reichskanzler, rücksichtloser zwar und – kraft des Ermächtigungsgesetzes von 1933 – mächtiger als je einer seiner Vorgänger, aber dennoch nur ein Akteur unter vielen; seine Verordnungen bedurften der Gegenzeichnung durch seine Minister, und häufig konnte er nur über den Reichspräsidenten von Hindenburg tätig werden. Nach Hindenburgs Tod wurde das Amt des Präsidenten mit dem des Kanzlers (damals Führer und Reichskanzler, dann, seit Juli 1939, einfach Führer) vereinigt, und der Staat wurde einer einzigen Person überantwortet. Dieser Mann ist Führer auf Lebenszeit5, wenngleich niemand weiß, wovon sich seine Verfassungsrechte herleiten. Er ist von allen anderen Institutionen unabhängig, so daß er den nach Artikel 42 der Verfassung erforderlichen Verfassungseid nicht zu leisten brauchte (und auch nicht leistete). Er kann nicht durch Volksbegehren abgesetzt werden, wie das der Artikel 43 vorsieht. Er verwaltet die drei Ämter des Präsidenten, Kanzlers und Parteiführers nicht, sondern benutzt sie lediglich dazu, seine Macht zu demonstrieren. Die Reichsregierung ist keine Regierung; die 15 Minister sind nur dem Führer verantwortlich. Sie sind einzig und allein Verwaltungschefs, die von ihm nach Belieben ernannt und entlassen werden können. Kabinettssitzungen brauchen daher nicht einberufen zu werden und finden tatsächlich auch nur sehr selten statt, so daß der Führer als alleiniger Gesetzgeber übrig bleibt. Regierungsgesetze, die auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes von 1933 erlassen werden, sind keine Gesetze durch die Regierung im Sinne von innerhalb des Kabinetts getroffenen Beschlüssen, sondern Gesetze des Führers. Die Minister brauchen nicht zu Rate gezogen werden. Dasselbe gilt für Plebiszite und vom Reichstag erlassene Gesetze. Recht ist, was der Führer will, die Gesetzgebung ist Ausfluß seiner Macht. Ähnlich verkörpert er die administrative Gewalt, die in seinem Namen ausgeübt wird. Er ist Oberbefehlshaber der Wehrmacht (Gesetz vom 21. Mai 1935) und – wie wir noch sehen werden6 – oberster und unfehlbarer Richter. Seine Macht ist gesetzlich und verfassungsmäßig unbeschränkt; sie entzieht sich jeder Beschreibung. Ein Begriff, der keine Begrenzung hat, kann rational nicht definiert werden.

Am Tag von Hindenburgs Tod mußten alle Angehörigen der Reichswehr den folgenden Eid leisten: »Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.«7 Kabinettsmitglieder mußten folgendermaßen schwören: »Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, meine Kraft für das Wohl des deutschen Volkes einsetzen, die Gesetze wahren, die mir obliegenden Pflichten gewissenhaft erfüllen und meine Geschäfte unparteiisch und gerecht gegen jedermann führen, so wahr mir Gott helfe.« (Gesetz vom 16. Oktober 1934.) Die Eidesformel für die Beamten lautet so: »Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.« (§ 4 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937.) Diese Eidesformeln zeigen, daß die oberste Führung keine durch Gesetze und Präzedenzfälle geregelte Einrichtung oder ein Amt mit delegierter Autorität, sondern die Machtvollkommenheit einer einzigen Person, Adolf Hitlers, ist.8 Die Rechtfertigung dieses Prinzips ist charismatisch: sie beruht auf der Annahme, daß der Führer mit Eigenschaften ausgestattet sei, die gewöhnliche Sterbliche nicht besitzen. Übermenschliche Eigenschaften strahlen von ihm aus und durchdringen Staat, Partei und Volk. Es erübrigt sich, die götzendienerischen Äußerungen von Parteimitgliedern, Ministern, Reichswehroffizieren, Universitätsprofessoren oder zahlreichen protestantischen Pfarrern hier zu zitieren.

Max Weber9 hat auf die allgemeine Erscheinung charismatischer Herrschaft hingewiesen und sie von allen rationalen und traditionalen Herrschaftstheorien klar abgegrenzt. Seine Entdeckung war in der Tat die Wiederentdeckung eines Phänomens, das so alt wie das politische Leben selbst ist. Charismatische Herrschaft ist lange Zeit vernachlässigt und lächerlich gemacht worden, hat aber offenbar weit zurückreichende Wurzeln und wird, wenn die geeigneten psychologischen und sozialen Bedingungen erst einmal vorhanden sind, zu einer machtvollen Antriebskraft. Die charismatische Macht des Führers ist kein bloßes Trugbild – niemand kann bezweifeln, daß Millionen an sie glauben. Wir schlagen an dieser Stelle vor, drei Aspekte des Problems zu untersuchen: den Ursprung der charismatischen Führung; die psychologische Verfassung derjenigen, die an sie glauben; endlich ihre gesellschaftliche Funktion. Um eine Antwort zu erhalten, werden wir die Geschichte befragen müssen.

 

2. Luther und Calvin

Das politische Denken des Mittelalters wurde von den irrationalistischen Philosophien des Absolutismus abgelöst, die sich eine ganze Weile hielten, bis sie ihrerseits vom modernen Rationalismus verdrängt wurden. Sowohl die lutherische als auch die calvinistische Reformation boten irrationale Rechtfertigungstheorien unbeschränkter souveräner Gewalt dar und gehörten durchaus nicht, wie gemeinhin angenommen wird, zu den Bewegungen, die das Zeitalter des Liberalismus, der natürlichen Rechte, der Gleichheit und des Rationalismus einleiteten. In der Epoche der Religionskriege und Volkserhebungen hatte die aufsteigende Mittelklasse Ruhe und Frieden bitter nötig; Handelsherren und Industrielle verlangten nach Gleichstellung mit dem Klerus und dem Adel. Als Folge davon wurde eine zentrale weltliche Obrigkeit errichtet, deren souveräne Gewalt als die einer Institution gerechtfertigt wurde, der die Menschen nicht nur äußerlichen Gehorsam, sondern aufrichtige innerliche Ergebenheit schuldeten. Die charismatische Rechtfertigung der bestehenden Obrigkeit fand so am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft ihren Platz; heute, in den Wehen ihrer schwersten und tiefsten Krise, ist die europäische Gesellschaft zu ihren frühesten theoretischen Anschauungen zurückgekehrt.

Die Puritaner der frühen Tudor-Ära bedienten sich aller Arten von Rechtfertigung der königlichen Autorität – der Heiligen Schrift, des göttlichen Naturrechts, der Staatsräson. Sie wiesen in feierlicher Mahnung auf das schreckliche Schicksal der revolutionären und chiliastischen Bewegungen des Kontinents, wie den Bauernaufständen oder den Bewegungen der Taboriten und Anabaptisten. Die Apologeten König Heinrichs VIII. beschworen die Lehren Luthers und Calvins, um Gehorsamspflicht gegenüber der Person des Königs zu begründen. Ihre Argumentation war überwiegend antirational, ja sogar charismatisch. »Der König«, schrieb Tyndale, »unterliegt in dieser Welt keinem Gesetz, kann nach seinem Belieben recht oder unrecht tun und ist nur Gott allein verantwortlich.«10 Heinrich VIII. ist der »Sonne der Menschheit« gleich – man »wagt nur einen Blick von der Seite auf den strahlenden Glanz der hellen Sonne (des Königs) zu werfen, der man nirgendwo unverwandt standzuhalten vermag.«11 Gehorsam gegenüber dem König war eine bürgerliche und, mehr noch, eine religiöse Pflicht. Ihm mußte gehorcht werden, weil er mit übermenschlichen Eigenschaften begabt war. Er war der Führer. Es ist leicht einsehbar, daß diese Lehren ihrem Wesen nach opportunistisch waren, dazu bestimmt, den Erfordernissen von Englands innen- und außenpolitischer Lage zu genügen. Es bedurfte einer zentralen und unanfechtbaren Autorität, die dem Zugriff der Katholischen Kirche entzogen und fähig war, einem Angriff von außen zu widerstehen – eine Autorität, die sich die autonomen lokalen, feudalen und kirchlichen Herrschaftsbereiche unterordnen und sie wenn nötig sogar vernichten würde. All das machte es unmöglich, sich auf eine Theorie des Gesellschaftsvertrages mit ihren revolutionären Implikationen zu stützen. Die lutherischen und calvinistischen politischen Lehren lieferten eine Lösung des Problems.

Luther forderte zwar individuelle Freiheit, doch unterschied sich seine Idee der Freiheit grundlegend von der unsrigen. Luthers Freiheitsbegriff, wie er ihn in seiner wichtigen Abhandlung »Von der Freiheit eines Christenmenschen« darlegte, vereint in sich tatsächlich unsere Vorstellung und ihr genaues Gegenteil. Luther sagt dort: »Eyn Christenmensch ist eyn freyer herr, über alle ding, und niemandt unterthan. Eyn Christenmensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yederman unterthan.« Die Antinomie könnte kaum mit deutlicheren Worten ausgedrückt werden. Beide Postulate, Freiheit und Untertänigkeit, sollen gleich gültig und allgemein sein.

Der Begriff der »inwendigen Freiheit« löst den Widerspruch. Freiheit und Knechtschaft gehören in zwei verschiedene Sphären; Freiheit in die innere, Knechtschaft in die äußere Welt. Die erste Aussage Luthers betrifft den inneren Menschen und seine Freiheit; die zweite den äußeren Menschen, der gehorchen muß. Eine solche Dichotomie zwischen innerem und äußerem Leben – jedes für sich von anderen Gesetzen geregelt – war der griechischen und mittelalterlichen Philosophie fremd. Alle klassischen griechischen Denker vertraten die Auffassung, daß innere Freiheit ohne äußere Freiheit nicht möglich sei, und die Denker des Mittelalters sahen im Menschen ein vernunftbegabtes Wesen, dessen Geist und Taten nach natürlichem Recht geordnet sind. Luther trennte das innere vom äußeren Reich und verneinte den Wert der »Werke«, das heißt der äußeren Einflüsse. »So ists offenbar, das keyn eusserlich ding mag yhn frey, noch frum machen, wie es mag ymmer genennet werden«, und kein äußeres Verhältnis reicht »bis an die Seelen, sie zu befreyen oder fangen, frum oder böße zu machen.« Der Arme ist genau so frei wie der Reiche, der unterjochte Bauer ist ebenso frei wie der König, der Gefangene so frei wie sein Wärter. Die Unterdrückten sind bereits im Besitz der Freiheit; warum also sollten sie nach ihr streben? Gewiß, die Welt, so wie sie ist, entspricht nicht dem christlichen Ideal. Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Liebe herrschen nicht auf dieser Welt, und Luther hielt diese ursprünglich nicht für die Verkörperung christlicher Prinzipien. Er nahm die Welt und die souveräne Macht des Staates lediglich als bedauerliche Tatsachen hin. Doch diese resignierte Hinnahme wich bald einer ausdrücklichen Rechtfertigung. »Es will dißer artickel (gemeint ist die Forderung der Bauern nach Aufhebung der Leibeigenschaft, 1525) alle Menschen gleich machen, und aus dem geystlichen reich Christs eyn welltlich eusserlich reich machen, wilchs unmuglich ist. Denn welltlich reich kan nicht stehen, wo nicht ungleicheyt ist ynn personen, das ettliche frey, ettliche gefangen, ettliche herrn, ettliche unterthan etc. Wie S. Paulus sagt … das ynn Christo herr und knecht eyn ding sey.«12 Das war Luthers Antwort auf die Forderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft.

Nach Luther gibt es zwei Arten von Gerechtigkeit, eine innere und eine äußere. Wahre innere Gerechtigkeit erfüllt sich nur in innerer Freiheit, äußere Gerechtigkeit aber dadurch, daß man seine Pflichten an seinem gegebenen Platz erfüllt. Ein Angriff auf einen Herrscher ist ein Angriff auf sein Amt. »Uffs erst ist der unterschied fur zu nemen, das ein ander ding ist ampt und person odder werck und thetter. Denn es kan wol ein ampt odder werck gut und recht sein an yhm selber, das doch boese und unrecht ist, wenn die person odder thetter nicht gut odder recht ist odder treibts nicht recht.«13 Das Amt als solches hat absolute Autorität. Es ist vom Amtsträger getrennt, was den abstrakten Charakter menschlicher Beziehungen andeutet.14 Die Beziehungen zwischen Herr und Knecht, König und Untertan werden abstrakt und anonym. Die Institution der Leibeigenschaft ist ewig und unwandelbar. Selbst wenn er heidnischen Türken in die Hände fiele, dürfe ein Christ seinem neuen Herrn nicht davonlaufen: »Denn du raubst und stiehlst damit deinem Herrn deinen Leib, welchen er gekauft hat oder sonst zu sich gebracht, daß er hinfort nicht dein, sondern sein Gut ist, wie ein Vieh oder andere seine Habe.«15 Alle Macht über Menschen und Dinge stiftenden Verhältnisse, ob private oder öffentliche, sind damit geheiligt. »Darumb auch ungehorsam grosser sund ist dan totschlag, unkeuscheit, Stelen, betriegen ...« »Widderumb geburt der gehorsam den unterthenigen, das sie alle yhren fleysz und auffsehen dahyn keren, zuthun und lassen, was yhr uber hern von yhm begeren, sich davon nit lassen reyssen noch treyben, es thu ein ander was er thu.«16

Die äußere Welt braucht nicht nur keine Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Liebe; sie muß nicht einmal harmonisch sein. Die Obrigkeiten verlangen nicht Liebe, sondern Gehorsam, und sie messen nicht Barmherzigkeit, sondern unerbittliche Strafen zu. »Der esel will schlege haben, und der pofel will mit gewalt regirt seyn, das wuste Gott wol, darumb gab er der oberkeyt nicht eynen fuchsschwantz sondern eyn schwerd ynn die hand.«17 »Drumb sol hie zuschmeyssen, wurgen und stechen heymlich odder offentlich, wer da kan, und gedencken, das nicht gifftigers, schedlichers, teuffelischers seyn kan, denn eyn auffrurischer mensch, gleich als wenn man eynen tollen hund todschlahen mus.«18

Luthers politische Theorie, soweit er eine besaß, enthielt sehr wenig, aber dieses Wenige könnte als charismatische Rechtfertigung der Macht bezeichnet werden. Trotz der Unbarmherzigkeit ihres Leitsatzes entwikkelte die Luthersche Lehre, da sie innere Freiheit einräumte, eine harmonische innere Welt, die der Schlechtigkeit und Verderbtheit der äußeren Welt entgegengesetzt werden konnte. Insofern enthielt sie die revolutionäre Saat, die in den Lehren der Taboriten und Anabaptisten aufging. Zudem begründete und stützte Luther mit der Trennung von Amt und Amtsinhaber sowie durch die Entpersönlichung der menschlichen Beziehungen die Lehren von einer rationalen Bürokratie.

Zur vollen Entfaltung gelangte die charismatische Lehre durch Calvin.19 Seine Schriften bilden die politische Theorie der Bourgeoisie seiner Zeit, der es hauptsächlich um die Errichtung eines starken staatlichen Zwangsapparates ging. Die Calvinische Lehre vollzieht einen eindeutigen Bruch mit dem mittelalterlichen Denken in allen seinen Formen, theologischen, philosophischen, politischen und sozialen. Während Luther der Schlechtigkeit der Welt wenigstens die Gerechtigkeit der evangelischen Ordnung gegenüberstellte, wobei letztere den Keim potentieller Auflehnung und Revolution in sich barg, brachte Calvin das weltliche Reich mit dem geistlichen in Übereinstimmung, indem er dem Staat sein neues Glaubensbekenntnis aufzwang. Dieses neue Credo war nicht das der Bergpredigt, sondern das der Zehn Gebote, und die Theologie war nicht scholastisch, sondern positivistisch. Nach Calvin ist der Mensch nicht ein rationales, mit dem Licht der Vernunft begabtes Wesen; er ist unfähig, sein Leben nach rationalen Maximen zu begreifen und zu führen. Seine Vernunft ist verderbt, »von zahllosen Irrtümern eingewickelt und geblendet«.20 Seine »Intelligenz und Vernunft sind verderbt durch den Fall«, und die »Integrität seines Verstehens«21 ist zerstört worden, so daß es ihm unmöglich ist, die Wahrheit zu erkennen. Er vermag sie nur in einem sehr begrenzten Bereich zu finden. Dieser »begrenzte Bereich« stiftet einen inneren Zusammenhang zwischen dem Calvinismus und der empirizistischen, experimentellen Haltung der darauffolgenden Periode. Calvin räumt eine gewisse Fähigkeit, »irdische Dinge« zu erkennen, ein: »Unter ›irdischen‹ Dingen verstehe ich dabei das, was mit Gott, seinem Reiche, der wahren Gerechtigkeit und der Seligkeit des kommenden Lebens nichts zu tun hat, sondern … zum gegenwärtigen Leben gehört.«22 Wahrheit kann niemals durch ein rationales Vorgehen gewonnen werden. Der Mensch muß sich auf »das weltliche Regiment, die Haushaltskunst, alles Handwerk und die freien Künste«23 beschränken. Philosophie und politische Lehren können niemals die letzte Wahrheit erreichen; in unserer Zeit würde man sagen, daß sie sich einzig und allein damit befassen, die richtigen Mittel für geoffenbarte Zwecke zu finden. Calvins Positivismus tritt noch deutlicher durch die Tatsache zutage, daß er als gültige methodologische Prinzipien lediglich Induktion und Generalisierung von Alltagserfahrungen anerkennt.24 Aus solchen wissenschaftlichen Verfahren folgen niemals Gewißheit und Allgemeingültigkeit.

Und doch hat jeder Mensch den Keim der Vernunft in sich; das unterscheidet ihn von den Tieren. Nach dem Fall wäre die Menschheit verloren gewesen, hätte nicht Gott uns einen geringen Rest von Vernunft belassen, den wir als »Gottes allgemeine Gnade« bezeichnen können.25 Wie kann nun diese reifen und wachsen? Nicht durch die menschliche Verstandestätigkeit – so viel ist gewiß – sondern einzig und allein durch die besondere Gnadenwahl Gottes. Die allgemeine Gnade, welche potentiell alle Menschen gleich umfaßt, wird nur dadurch gegenwärtig, daß Gott Menschen für besondere Positionen erwählt. Calvin führt uns hier zu unserer Geburt zurück, um uns zu zeigen, daß die Vernunft, die wir besitzen, ein Geschenk Gottes und nicht ein natürlicher Besitz sei. »Wenn der Säugling den Schoß seiner Mutter verläßt, welchen Verstand hat er dann? … Ein Kind ist geringer als das ärmste Tier … Wie kommt es, daß wir den Geist des Verstandes besitzen, wenn wir mündig werden? Es muß so sein, daß Gott ihn uns gibt.«26 Die Gnadenwahl ist nicht eine Belohnung für ein frommes Leben oder für gute Werke; sie kann sogar einem Heiden zuteil werden.27 Wenn auch Gottes Wege unerforschlich sind, folgen sie doch nicht einem zufälligem Kurs – alles ist unergründlich vorherbestimmt, von Gott gewollt.

 

Woran aber können die Menschen erkennen, ob ihre Mitmenschen mit Gottes Gnade begabt sind? Die Antwort heißt: an ihrem Erfolg. Der Herrscher, der Magistrat, der erfolgreiche Geschäftsmann, politische Führer, Rechtsgelehrte, Arzt, Vorarbeiter, Sklavenhalter – sie alle verdanken ihre Stellung der göttlichen Gnade. Deshalb schuldet man ihnen Gehorsam. Das Charisma fließt allen jenen zu, die Macht haben, in jedem Bereich des Lebens, jedem Beruf und Stand.

Die politische und gesellschaftliche Theorie folgt logisch aus den theologischen Prämissen, wobei das Ganze die radikalste Abkehr von der scholastischen Auffassung darstellt. Es kann keine Maxime, kein Naturrecht geben, das irgendjemanden bindet. Wenn das Gewissen der Menschen verderbt ist, dann ist es auch das Naturrecht, und Gottes Gerechtigkeit kann nicht in ihm erkannt werden. »Wäre er (der Mensch) im Zustand der natürlichen Unversehrtheit geblieben, so wie Gott ihn schuf … dann würde jeder das Gesetz in seinem Herzen tragen, so daß es keinen Zwang gäbe … Jeder würde seine Regeln kennen und … dem Guten und Rechten folgen.«28 Aber Gewissen und Naturrecht können uns nicht lehren, wie wir uns zu verhalten haben. Das Naturrecht ist nicht das gestaltende Prinzip des Staates, der weder eine natürliche Einrichtung noch das Produkt menschlicher Bedürfnisse ist. Der Staat ist eine Zwangsinstitution, die zur Natur des Menschen in Widerspruch steht.29 Er ist von Gott geschaffen und Teil seines Planes, uns von unserer Verderbtheit zu erretten. »Da die natürliche Ordnung verderbt ist, ist es nötig, daß Gott … uns zeigt ..., daß wir zur Freiheit nicht fähig sind, daß wir in einem Zustand der Unterwerfung gehalten werden müssen.«30 So bricht Calvin mit der Aristotelischen und Thomistischen Tradition und wirft sich in die Arme des politischen Augustinianismus, indem er »das göttliche Recht der bestehenden Ordnung«31 errichtet.

Die Heiligkeit erstreckt sich nicht nur auf den Staat als solchen (wie Luther behauptete), sondern auf alle Personen in der Hierarchie des Staates, die an der Ausübung seiner Macht teilhaben. Zwischen dem Träger der Souveränität und seinen ausführenden Organen wird keine Unterscheidung getroffen. Wir schulden unseren Oberen unbedingten Gehorsam nicht nur als Pflicht vor den Menschen, sondern vor Gott, und über den Gehorsam hinaus schulden wir Demut und Ehrerbietung. Wer nicht gehorcht, zieht sich nicht nur die Strenge des irdischen Gesetzes, sondern den Zorn Gottes zu. Gehorsam und Ehrerbietung gegenüber der Obrigkeit sind nicht aus Zwang, sondern aus freiem Willen gefordert. Der mittelalterliche Begriff des Herrschaftsvertrages wird implizit und explizit zurückgewiesen. Nach Calvin ist es aufrührerisch, einen König nach seinen Verpflichtungen oder Diensten gegenüber dem Volk zu beurteilen, denn der König ist niemandem außer Gott verpflichtet. Calvin spricht zuweilen von einer »gegenseitigen Verpflichtung« von König und Volk, aber er versteht darunter niemals einen Vertrag; die Pflichten, die Gott dem Herrscher und dem Volk auferlegt, sind niemals gegenseitige.

Jegliche institutionelle Beschränkung der Macht des Herrschers ist selbstverständlich mit einer solchen Auffassung unvereinbar. Das heißt nicht, daß Calvin sich für Tyrannei und Despotismus einsetzte oder sie verteidigte – im Gegenteil ermahnte er die Herrscher, sich gegen Selbstgefälligkeit zu wappnen und ihre Pflichten in einem wohltätigen Geiste zu erfüllen. Andernfalls werde sie der Zorn Gottes treffen.32

Historiker mit politischem Verstand machten viel Aufhebens von Calvins Äußerung, daß die Volksbehörden sich dem König widersetzen könnten, wenn sie verfassungsmäßig dazu ermächtigt sind: »Anders steht die Sache, wo Volksbehörden eingesetzt sind, um die Willkür der Könige zu mäßigen; von dieser Art waren z. B. … die Volkstribunen, die den römischen Konsuln … gegenübergestellt waren; diese Gewalt besitzen, wie die Dinge heute liegen, vielleicht auch die drei Stände in den einzelnen Königreichen, wenn sie ihre wichtigsten Versammlungen halten. Wo das also so ist, da verbiete ich diesen Männern nicht etwa, der wilden Ungebundenheit der Könige pflichtgemäß entgegenzutreten, nein, ich behaupte geradezu: wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen … verraten sie … die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie … durch Gottes Anordnung eingesetzt sind!«33 Dieser kurze Absatz, dem große Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, ist entweder als ein Relikt der mittelalterlichen Naturrechtslehre oder als Beginn der demokratischen Ideologie angesehen worden. Diese Interpretation ist vollkommen ungerechtfertigt und widerspricht dem Geist des gesamten Calvinschen Werkes. Sie ist aufgekommen, weil französische Hugenotten wie Francis Hotman und Du Plessis Mornay pseudorevolutionäre Königsmörderlehren auf der Grundlage der Calvinistischen Theorie propagierten. Die Schriften dieser Monarchomachen sollten jedoch nicht als Grundlage für eine solche Interpretation verwendet werden. Einmal war Calvin für ihre Lehren nicht direkt verantwortlich, zum anderen waren sie keine Revolutionäre in irgendeinem Sinne des Begriffs, sondern Opportunisten, die jedes juristische und theoretische Argument zur Bekämpfung des Königs und der Katholischen Liga benutzten. Calvins oben zitierte Äußerung ist konservativ: sie leugnet das Widerstandsrecht des Individuums und beschreibt die aktuelle Lage in Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern, in denen die Stände die königliche Macht beschnitten.34 Calvin besteht darauf, daß dort, wo solche Machtbefugnisse existieren, sie nicht aufgegeben werden dürfen, weil sie genau so Ausfluß der göttlichen Gnade seien wie die Macht des Königs.

Dasselbe Kapitel der »Institutio« spricht von einem anderen Mittel der Befreiung von drückender Last, und diese Passage ist für Calvins Theorie viel charakteristischer als seine Äußerung zu den Rechten der Stände. Ihr ist wenig Beachtung geschenkt worden. Gott, sagt Calvin dort, kann seinem Volk einen auserwählten Erretter senden. »Hier offenbart sich nun Gottes wunderbare Güte, Macht und Vorsehung. Denn bald erweckt er aus seinen Knechten öffentliche Erretter und rüstet sie mit seinem Auftrag aus, um eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das auf manch ungerechte Weise unterdrückte Volk aus seiner elenden Qual zu befreien.«35 Freilich soll das Volk nicht zu leichtgläubig sein, wenn ein solcher Erretter kommt. Hier wird der charismatische Führer angekündigt, der Mann, der im Namen der göttlichen Vorsehung bevollmächtigt ist, die Regierung zu stürzen und das Volk zu befreien.

3. Die wundertätigen Könige

An der Wiege des modernen Kapitalismus, der angeblich ein System der Rationalität, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit eingeführt hat, steht diese Gesellschaftslehre, die in jeder Hinsicht das Gegenteil des Rationalismus ist, wenn sie auch gewisse psychologische Bedürfnisse des Volkes befriedigt, die älter als der Kapitalismus sind. Anthropologen haben auf das Mana der Könige hingewiesen, jene magische Kraft, die von der Person des Herrschers ausstrahlt und zum Volke dringt. Den König zu berühren oder von ihm berührt zu werden, gibt dem Schwachen Stärke und läßt den Kranken gesunden. Der König ist der Heros, die Verkörperung des Stammes-Totem; er wehrt Dämonen, die das Volk, sein Eigentum und seine Gesundheit bedrohen. Solcherart war der Glaube von Naturvölkern. Ihre Ansichten waren nicht irrational; der Glaube an die magische Kraft des Herrschers hatte eine rationale Grundlage. Die Herrscher mußten Erfolg garantieren. Wenn Überschwemmungen drohten oder Epidemien und Kriege den Stamm dezimierten, mußte der König sein Volk retten und befreien. Hatte er keinen Erfolg, so wurde er entthront und getötet.36 Das königliche Charisma beruhte auf einem gegenseitigen Handel.