Dicke Luft in der Küche

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Aus der Reihe: Mord und Nachschlag
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Alles, was Sie mit Hafer kochen können – Teil 1: Cranachan

Konnte es sein, dass er noch immer das gleiche Gewicht auf die Waage brachte? MacDonald betrachtete seinen Regisseur inmitten des Trubels im Ocean Terminal skeptisch. Er aß ständig und sehr engagiert, legte aber niemals zu. Welch Ärgernis für einen barocken Menschen wie ihn, der gern einige Pfunde purzeln sehen wollte. Warum nur verhalf ihm die doppelte geistige Anstrengung als Food Journalist und Detektiv nicht dazu?

»Mister MacDonald, können wir weiter? Wir sind erst im Erdgeschoss.«

»Oh, tatsächlich?«

Wie immer hatte Robertson es eilig, denn für die BBC mit ihren drakonischen Sparmaßnahmen war Zeit Geld. Zu leiden hatte darunter das gesamte Team. Das waren außer MacDonald zwei Kameraleute und nur noch zwei Träger von ehemals vier. Bei dieser Sendung musste er deshalb zum ersten Mal auf seinen allseits beliebten großen Sekretär verzichten. Der neue Schreibtisch war offensichtlich in der Kinderabteilung eines schwedischen Möbeldiscounters erstanden worden. Nach endlosen Diskussionen mit Robertson hatte MacDonald sich vordergründig in sein Schicksal gefügt. Doch aufgegeben hatte er beileibe nicht. »Hopp, hopp«, rief der Regisseur. Wollte er sie zu einem Dauerlauf animieren? Zu MacDonalds Glück schlurften die Packer träge durch die Mall. Sie schleppten nicht nur das Mobiliar, sondern auch noch dicke Rucksäcke, wie bei einem ausgedehnten Camping-Ausflug. Man konnte sich der Blicke aller Passanten im Ocean Terminal sicher sein. MacDonald hatte den Regisseur unauffällig in die Shopping Mall gelotst, weil er nebenher ein bisschen an seinem Fall zu arbeiten gedachte. Mrs Sinclair hatte erwähnt, dass sie den Major hin und wieder hier mit seiner Enkelin getroffen hatte. Robertson meckerte zwar ein wenig wegen der Drehgenehmigung, aber angesichts der kostenlosen Parkplätze in der Tiefgarage war die Sache schnell entschieden.

»Mister MacDonald, ich will nicht hetzen, aber so langsam müssen wir uns sputen.«

Neuerdings meinten viele Menschen, ihn in irgendeiner Form drängen zu müssen, Alberto, sein Kater, Karen, und nun auch noch der Regisseur. Er machte einen Schmollmund.

Robertson, der seine Pappenheimer gut kannte, spürte, dass er zu weit gegangen war. »Wie ich Sie kenne, sind Sie wieder exzellent vorbereitet, Mister MacDonald?«

»Sie haben den Hamper in meiner Rechten bemerkt?«

»Aber ja.«

»Er beherbergt eine kleine Kühltasche. Und diese wiederum unseren Cranachan.«

»Sie wollen den Auftakt unserer Serie mit einem Dessert machen?«

»Warum denn nicht?«

»Endet ein Menü normalerweise nicht mit dem Nachtisch?«

»Das kommt auf die individuellen Präferenzen an. Ich habe zum Beispiel einen Freund in den Staaten, der immer mit dem Dessert beginnt.«

»In den USA?«

»Exakt. Dort hat man auch die Mode mit den Baseball-Kappen aufgebracht, so wie Sie eine tragen. Was spielt es im Übrigen für eine Rolle, womit ich beginne? Die BBC kann doch die Sendetermine für die einzelnen Gerichte selbst auswählen. Strahlen sie diese Sendung einfach am Ende aus.«

Angus Thinnson MacDonald war ein Superstar des Fernsehens und Robertson wollte es sich keinesfalls mit ihm verscherzen. »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, antwortete er lächelnd.

»Wo drehen wir?«, fragte MacDonald rhetorisch, denn er wusste sehr wohl noch, was er angeregt hatte.

»Vielleicht direkt vor der Terrasse? Der Blick auf den Firth of Forth ist von dort prächtig.«

»Sehr gerne. Eine vortreffliche Idee.«

Inzwischen waren sie in der obersten Etage angelangt und die Packer bekamen Robertsons aufgestauten Ärger zu spüren. »Wird’s bald, die Herren! Dort hinten vor dem großen Fenster den Tisch für unseren Mister MacDonald aufbauen, zack, zack.« Die beiden Männer fürs Grobe schoben sich zu der riesigen Panoramascheibe. Wie aus dem Nichts tauchten zwei Gentlemen in dunklen Anzügen auf und schlängelten sich zwischen den Tischen der Restaurants durch. Ein Kobrapaar im Angriff. Zahlreiche Gäste duckten sich, weil sie einen Terrorangriff befürchteten. Die Propagandamaschinen der westlichen Regierungen haben in den vergangenen Jahren ganze Arbeit geleistet, dachte MacDonald. Bewegte man nur ein Rädchen im Getriebe des Alltags etwas langsamer, geriet alles ins Wanken. Wenn jetzt noch jemand zu laut hustete, würde das Überfallkommando der Polizei anrücken. Robertson verblüffte alle Anwesenden. Er stellte sich mit dem Rücken zur Glaswand und hob die Hände in die Luft wie ein erfahrener Krisenmanager. »Meine Damen und Herren, es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir sind von der BBC.« Den beiden Sicherheitsleuten des Einkaufszentrums hielt er kühn die Drehgenehmigung unter die Nase. MacDonald grinste. Da hatte der allzeit gut vorbereitete Regisseur in der Eile tatsächlich vergessen, sich beim Management im Erdgeschoss anzumelden! MacDonald schritt durch die Menge, die ihn fasziniert betrachtete. Es war nie verkehrt, sich in Harris Tweed zu kleiden.

»Los, das muss alles viel schneller gehen«, wetterte der Regisseur.

»Sie sollten die armen Menschen nicht zu sehr hetzen.«

Robertson atmete tief durch. »Sind sie bereit?«

»Freilich.« MacDonald betrachtete den mikroskopisch kleinen Sekretär skeptisch. Gewohnheitsmäßig strich er sich mit der Hand über die Vorderseite des Jacketts, machte den Rücken noch etwas gerader und sprudelte seinen Text heraus: »Cranachan, Damen und Herren, ist ein Dessert, mit dem man in früheren Zeiten besondere Ereignisse würdigte wie etwa eine erfolgreich eingefahrene Ernte. Es nimmt nicht Wunder, dass dieser Nachschlag aus den kräftigsten Zutaten besteht. Als da wären: dicker Joghurt, Sahne, Heidehonig, schottischer Whisky, Himbeeren und natürlich Hafer, der Star unserer neuen Reihe.«

Bereits eine Stunde später hatte Mister Robertson die Szene zu seiner Zufriedenheit gefilmt. Sie standen im Erdgeschoss und unterhielten sich. Der Regisseur konnte sein Glück kaum fassen und bedankte sich überschwänglich. MacDonald tätschelte ihm väterlich die Schulter. »Ist schon gut. Es war mir wieder einmal ein Vergnügen.«

»Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen, Mister MacDonald?«

»Zu freundlich. Doch bin ich in meinem eigenen Automobil angereist und, die Gelegenheit beim Schopf packend, möchte ich noch ein wenig durch die Mall schlendern.«

»Wir sehen uns beim nächsten Dreh?«

»Sicher. Ich wünsche Ihnen eine schöne Heimfahrt, mein Guter.«

Wenn man ihn gefragt hätte, was genau er im Ocean Terminal zu finden hoffte, wäre er eine präzise Antwort schuldig geblieben. Mrs Sinclair hatte gesagt, dass der Major seine Enkeltochter hin und wieder hier verwöhnt hatte. Nun, Angus, er wird aber kaum mit der Kleinen hier hereinspazieren, nur weil du zugegen bist, belehrte er sich. Unvermittelt fühlte er sich geschwächt. Warum nicht aus der Not eine Tugend machen und im Virginia Grill eine Kleinigkeit genießen, Angus! Mit seinem Hamper in der Hand eilte er wieder zur Rolltreppe. Er nahm einen Platz am Fenster ein, bestellte sich einen saftigen, hausgemachten Cheeseburger mit Pommes Frittes und ein Gläschen Weißwein, weil der bekanntermaßen wenig Kalorien hatte. Auf der Meerenge schob sich ein überlanges Schiff vorbei. Der Himmel war tiefblau und ein bisschen schien sogar die Sonne. Bislang also ein rundherum fabelhafter Tag in Edinburgh. Nach dem Essen nahm er noch einen doppelten Espresso. Wie Karen ihm berichtet hatte, war die zweite Säule im Programm der Abspecker die Bewegung. Er wedelte mit beiden Armen nach der Rechnung, legte ein großzügiges Trinkgeld auf den Tisch und schlenderte zur Treppe, als er ein bekanntes Gesicht sah. »Major!« Der Gentleman ging weiter und klopfte sich dabei immer wieder die Faust auf den Magen, wie im Ritual eines Indianerstammes. »Major Lockhart, hier oben. Sehen Sie mich?« Offensichtlich tat er das nicht. Oder er stellte sich taub. Bis MacDonald mit dem Hamper in der Hand unten angelangte, hatte er das Gebäude bereits verlassen. Was mehr als ärgerlich war, denn zu gern hätte er gewusst, was Lockhart hier zu tun hatte.

»Wenn etwas bedauerlicher ist als die andauernde Mittellosigkeit der Armen, dann die böse Selbstsucht der Reichen.«

Isabella Bird, englische Reisende und Schriftstellerin, in »Notes on Old Edinburgh« (1869)

The Big Issue

»Und du bist sicher, dass es der Feldwebel war?«, fragte Alberto, während er aus dem Obergeschoss des Doppeldecker-Busses sah. Weil man in Morningside nur schwer einen Parkplatz fand, benutzten die beiden Detektive das öffentliche Transportmittel. MacDonald behagte das schmale Treppchen, das nach oben führte, überhaupt nicht.

»Major! Ja, sehr wahrscheinlich war er es.«

»Weshalb hat er sich die Faust in die Magengrube gerammt?«

»Darüber kann ich nur spekulieren. Vielleicht wollte er unbändigen Hunger in Schach halten.«

Alberto versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Kohldampf war etwas, was Angus nur zu gut kannte. Er hätte eine unendliche Litanei über die verschiedenen Stadien herbeten können.

»Vielleicht ist es ein Ritual seiner Vereinigung?«

»Er ist Presbyterianer und kein Sektenmitglied. Weißt du, Alberto, wir hätten auch unten sitzen bleiben können. Ohnehin müssen wir doch gleich wieder aussteigen.«

»Im Obergeschoss ist die Aussicht aber besser. Kann ich bitte das Foto noch mal sehen?«

MacDonald schnaubte wie ein Büffel an der Wasserstelle und fischte die Aufnahme zum dritten Mal aus dem Jackett. »Hier bitte. Behalte es doch bei dir.«

»Ich fühle mich geehrt durch dein großes Vertrauen. Komisch, dass der Soldat einfach davongerannt ist.«

»Eilen würde seine Bewegungsart treffender beschreiben. Ist er doch nicht mehr der Jüngste.«

 

»Vielleicht hört er schlecht und hatte sein Hörgerät zu Hause vergessen. Andiamo! Pronto!«

»My goodness! Was ist denn nun schon wieder?«

»Wir sind gerade an der Zielperson vorbeigefahren. Los, erhebe dich!« Er sprang über MacDonalds Knie und spurtete nach unten.

»Ein Benehmen ist das! Wir befinden uns doch nicht auf dem Sportplatz!«

»Angus, kommst du jetzt endlich?«, rief sein Freund von unten.

»Ich bin ja schon unterwegs. Reg dich nur nicht auf.« Elegant schraubte MacDonald sich über die schmale Treppe ins Erdgeschoss, bedankte sich freundlich beim Fahrer und trat leicht verschwitzt auf den Bürgersteig.

Alberto zappelte wie ein Fisch an der Leine. »Da bist du ja endlich. Allora, wie gehen wir vor?«

»Lass mich mal überlegen … wie wäre es, wenn wir ihn befragen?«

»Molte bene. Ich werde ihn in ein harmloses Gespräch verwickeln. Wenn du ihn mit deinem teuren Jackett ansprichst, sucht er das Weite. Einem Mann des Volkes wie mir wird er nicht widerstehen können.«

»Ich könnte mein Jackett ja auch ablegen. Aber bitte, geh nur.«

Während Alberto vorsichtig die stark befahrene Morningside Road überquerte, setzte MacDonald sich auf eine vertrauenswürdige Bank bei der Haltestelle. Sangster war etwa Mitte Dreißig, trug einen orangefarbenen Hut und eine gelbe Hose. Leicht zu übersehen war er allenfalls auf einem Jahrmarkt. In harschem Kontrast zu seinem Outfit gab er sich sehr zugeknöpft und machte ein böses Gesicht. Alberto kaufte ihm ein Exemplar des »Big Issue« ab und kehrte zurück, einen hupenden Autofahrer mit der Faust zurechtweisend. MacDonald schritt davon, damit Sangster nicht merkte, dass sie zusammengehörten. »Wie ist es gelaufen, du Mann des Volkes?«

»Prego?«

»Ich glaube, du hast mich ganz gut verstanden.«

»Er hat nur Allgemeinplätze vom Stapel gelassen. Ein komischer Kerl!«

»So was aber auch. Dürfen ich und mein Jackett es nun probieren?«

»Das mit dem Jackett gefällt dir jetzt, nicht wahr?«

»Nur ein bisschen. Wohin gehst du, Alberto?«

»Einen Espresso trinken. Da vorne ist ein Café.«

»Die schießen wie Pilze aus dem Boden.«

»Seit wann hast du etwas gegen Kaffee?«

»Habe ich doch gar nicht. Aber versuch mal, in Edinburgh eine gute Tasse Tee zu bekommen. Fast schon ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Holst du mich ab, wenn du fertig bist?«

»Es wird mir ein Vergnügen sein.« MacDonald wunderte sich nicht, dass Alberto keinen Draht zu Sangster gefunden hatte. Seine Ansichten zu Obdachlosen, und das war der junge Mann für ihn, waren zu ausgeprägt. Seit er ein junges, bedürftiges Paar zwei Wochen gratis bei sich hatte wohnen lassen und zum Dank bestohlen wurde, scherte er sehr unterschiedliche Menschen über einen grobzackigen Kamm. Dabei hatten sich nur gewöhnliche Diebe bei ihm einquartiert. Sangster entfernte sich und MacDonald stöhnte. Dass die Menschen es immer so eilig hatten. Um aufzuschließen, musste er sämtliche Kraftreserven mobilisieren. »Hallo, der Herr, ist es gestattet?«, rief er keuchend. Der Lümmel rannte einfach weiter! Erst der Major und nun er. Doch dieses Mal würde er sich nicht abhängen lassen. »The Big Issue«, sagte MacDonald laut. Ein Passant drehte sich neugierig um. In dem teuren Jackett, schien er stumm zu fragen. Ja, warum denn nicht! Die Leute hatten solche Vorurteile! Endlich drehte Sangster sich um. »Haben Sie eben ›Big Issue‹ gerufen?«

»Das habe ich in der Tat, junger Mann. Ich möchte gerne eines Ihrer Magazine erwerben.«

»Ich habe Sie noch nie hier gesehen.«

»Muss man erst mit Ihnen bekannt sein, um das Heft kaufen zu dürfen? Das scheint mir sehr förmlich zu sein.«

Sangster lachte und entblößte dabei eine unvollständige Zahnreihe. »Nein, natürlich nicht. Es ist nur so, dass ich meine Kunden alle kenne.«

»Dann betrachten Sie mich bitte als hoffnungsvollen Neuzugang. Einmal Ihr Magazin bitte.«

»Sehr gerne. Wohnen Sie hier im Viertel? Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.«

»Nein, ich gehe nur gerne in Morningside einkaufen.« Scheibenkleister! Das hätte er nicht sagen sollen! Gab es doch zu viele noble Geschäfte hier.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, erwiderte Sangster, so als ob er Gedanken lesen könnte »Ich erinnere mich noch daran, wie es war, hier einzukaufen und vermisse es nicht. Menschen wie Sie begegnen mir täglich.«

»Menschen wie ich?«

»Vornehme Gentlemen mit prall gefüllter Brieftasche. Für gewöhnlich kaufen die aber nicht den ›Big Issue‹. Also, was kann ich für Sie tun?«

MacDonald blinzelte unwillkürlich. »Sie sind ein sehr direkter Mensch.«

»Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, wenn ich das als Kompliment auffasse. Nun?«

»Ich bin auf der Suche nach Ann Lockhart.«

»Daher weht der Wind also. Hat der alte Herr sie geschickt?«

»Nur indirekt. Ich helfe einer guten Freundin, die den Major kennt.«

»Damit unterstützen Sie ihn aber, nicht wahr?«

»Was wäre daran so furchtbar?«

»Ich kann ihn nicht ausstehen. Von Anfang an gab er mir keine Chance. Der hat es gerade nötig, kein Verständnis zu zeigen, wo sich doch seine zweite Frau lange wegen einer Depression in Behandlung befand.«

»Mangels Kenntnis würde ich mich dazu gerne eines Kommentars enthalten. Haben Sie in der letzten Zeit Mrs Lockhart senior aufgesucht?«

»Woher wissen Sie das?«

»Es war nur so eine Vermutung.«

»Hören Sie, ich mache mir ebenfalls Sorgen um Ann und Catriona. Aber ich weiß nicht, wo sie sich aufhalten, auch wenn dieser Feldwebel das denkt. Mrs Lockhart habe ich nur besucht, weil ich gehofft habe, Ann bei ihr zu treffen.«

»Haben Sie sie gesehen?«

»Nein, es war wie verhext, denn sie kreuzte früher wirklich oft dort auf.«

»Wissen Sie das von Mrs Lockhart senior?«

»Die Frage können Sie nicht ernst meinen! Bei der Frau hat man großes Glück, wenn sie hin und wieder einen halbwegs wachen Moment hat. Nein, die neugierige Nachbarin erzählte es mir.«

»Die Dame, die Mrs Lockhart unter die Arme greift?«

»Ich kenne Sie nur als hyperneugierige Zaunsteherin.«

»Wann sind Sie und Ann sich zum letzten Mal begegnet?«

»Vor ein paar Monaten. Es war eigenartig. Sie bat mich um Vergebung. So als ob sie ein sehr strenges Zehn-Punkte-Programm zu absolvieren hätte.«

»Um Vergebung für Ihre gescheiterte Beziehung?«

»Wenn Sie es so nennen wollen. Sie meinte, dass alles ihre Schuld sei, denn sie sei erst jetzt zu einem vollständigen Menschen geworden. Ich sehe das überhaupt nicht so. Wenn mich seinerzeit der Glaube nicht verlassen hätte und ich nicht so viel getrunken …«

»Wie wirkte Ann auf Sie, Mister Sangster?«

»Gute Frage. Gehemmt, würde ich sagen.«

»Und das war sie sonst nicht?«

»Auf keinen Fall. Zurückhaltend, ja, aber auf keinen Fall gehemmt.«

»Wissen Sie, wo Ann zuletzt wohnte?«

»Fragen Sie das lieber den famosen Major.«

»Leichter gesagt als getan. Bei unserem letzten Gespräch rannte er einfach davon.« Von der zweiten Begegnung wollte er Sangster nichts erzählen.

»Ich glaube, sie wohnte bei einer Freundin, in einer städtischen Wohnung.«

»Verfügen Sie über die Adresse?«

»Es ist in Craigmillar.«

»Oh.«

»Vorurteile haben Sie wohl keine?«

»Nein, nur eine schlechte Erinnerung. Als ich mir vor ein paar Jahren vor Ort die Schlossruine ansehen wollte, ruinierte mir ein Rowdy mein Jackett. Der Bursche hat mir mutwillig eine halbe Dose Irn Bru auf den Ärmel gekippt. Womit ich natürlich keinesfalls sagen möchte, dass alle Bewohner des Viertels sich so schrecklich aufführen.«

»Es gibt Schlimmeres.«

»Junger Mann, mit dieser Formulierung lässt sich noch das traurigste Unglück relativieren, persönliches Leid, Kriege, ein Atomunglück und vieles mehr.«

»Finden Sie? Und doch hilft mit dieser Leitsatz jeden Tag.«

»Verkaufen Sie das Magazin so oft?«

»Nein, nur sechs Tage die Woche.«

»Wer darf es veräußern?«

»Menschen, die keine Wohnung haben oder kurz davor stehen, sie zu verlieren. Arbeitslose und Personen, die finanziell sehr schlecht dastehen.“

»Ich bewundere Sie. Jeden Tag bei Wind und Wetter hier auszuharren, ist eine große Leistung. Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«

»Kommt ganz drauf an.«

»Wie sind Sie vom Alkohol losgekommen?«

»Das ist sehr persönlich.«

»Ich erzähle es nicht weiter.«

»Spezielles Entwöhnungsprogramm.«

»Von einer Kirche?«

»Nein, es war eine private Einrichtung. Und in meiner Gruppe waren nicht nur Alkoholiker, sondern auch Menschen mit Essstörungen.«

»Ach?«

»Jemand, der magersüchtig ist, leidet, wie der Begriff schon suggeriert, ebenfalls an einer Sucht. Sie stellen eine Menge Fragen.«

»Verzeihung. Bei mir ist es eine Berufskrankheit. Ich bin Journalist.«

»Und worüber schreiben Sie?«

»Essen und Trinken.«

»Natürlich, jetzt weiß ich auch, woher ich Sie kenne. Ich habe Ihr Buch über ›Kochen mit Scotch‹ in einer Buchhandlung gesehen. Da war auch so ein Pappaufsteller von Ihnen in Lebensgröße dabei.«

»Schön, dass Sie mich erkannt haben. Darf ich Ihnen meine Karte reichen?«

»Wozu sollte das gut sein?«, fragte Sangster gedehnt.

»Vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein.«

Alberto hatte mittlerweile zwei doppelte Espressi getrunken. »Wo warst du denn so lange? Mir ist langweilig.«

»Aus diesem Grund empfiehlt es sich, immer ein Buch oder eine Zeitung bei sich zu haben.«

»Du weißt doch, dass ich nicht gerne lese.«

»Ich hatte es tatsächlich vergessen. Gute Nachrichten: Wir kennen nun den Aufenthaltsort von Ann Lockhart.«

»Er hat also mit dir mehr geredet? Hätte ich nicht gedacht.«

»Durchaus. Ein junger Mann, der schwere Zeiten hinter sich hat.«

»Was soll das heißen?«

»Der Herr hatte in der Vergangenheit Alkoholprobleme.«

»Du glaubst, das stimmt?«

»Warum sollte er so etwas erfinden? Sehr schmeichelhaft ist es ja nicht eben.«

»Mir kam er jedenfalls gleich verdächtig vor.«

MacDonald hatte eher den Eindruck, dass Alberto verstimmt war, weil Mister Sangster nicht mit ihm reden wollte.

»Ich denke, dass der Bursche immer noch an der Flasche hängt. Hast du nicht bemerkt, wie er sich dauernd so fahrig umgesehen hat?«

»Nein, um der Wahrheit die Ehre zu tun. Bei mir war er sehr entspannt. Du errätst nie, wo Ann zuletzt wohnte.«

»Ich will auch gar nicht raten. Wir machen doch keine Quizshow.«

»Craigmillar.«

»Ohne mich!«

»Du willst mich alleine ermitteln lassen?«

»Bei den Typen, die dort leben, bleibt mir gar nichts anderes übrig. Zieh dir dieses Mal lieber alte Klamotten an. Wenn du den alten Offizier befragen möchtest, bin ich sofort mit von der Partie. Aber in dieses Höllenviertel begleite ich dich nicht. Außerdem muss ich jetzt einkaufen. Wir brauchen Toast, Orangensaft und Bohnen.«

»Wir?«, fragte MacDonald gedankenverloren.

»Ich und meine Frau Maria. Wir führen ein Guest House. Du erinnerst dich?«

»Geh du nur. Ich genehmige mir derweil noch ein Stück Kuchen.«

»Bist du nicht auf Diät?«

»Nur ein kleines Stück! Immerhin kämpfe ich an zwei Fronten, als Journalist und Detektiv.« Und bezüglich der Exkursion nach Craigmillar ist auch das letzte Wort noch nicht gesprochen, dachte er, während Alberto bereits in den Bus sprang.

Als MacDonald das Café verließ, war Paul Sangster verschwunden. Der Doppeldecker schaukelte ihn nach Hause, wo er ein bekanntes Auto ausmachte. Karen stieg aus, sah sich nach allen Seiten um und kam in ihrem wiegenden Gang auf ihn zu. »Schön, Sie zu sehen«, sagte er. »Gibt es heute keine maladen Menschen?«

»Bestimmt jede Menge, aber ich habe mir spontan einen Tag freigenommen. Verraten Sie mich bitte nicht.«

»Niemals.« Er sah sie liebevoll an. Wie stets war sie in ihren individuellen Stil gehüllt. Nicht der neuesten Mode folgend, sondern hochwertige, zeitlose Kleidung tragend. »Darf ich Sie ins Haus bitten?« Um ein Haar hätte er ihr wieder einen Hausschlüssel angeboten. Doch die Erinnerung an die herbe Abfuhr, die er sich das letzte Mal eingehandelt hatte, hielt ihn davon ab. Im Grunde hatte sie vollkommen recht. Ihre Bekanntschaft hatte längst nicht das Stadium erreicht, in dem man sich Zutritt zu des anderen Haus ermöglichte. »Ich mache uns Tee.«

 

»Wie ich sehe, haben Sie den Bus genommen, Angus?«

»Aber ja, die Umwelt wird so stark durch Abgase belastet. Da möchte man sein Scherflein zu ihrem Schutz beitragen.« Karen war eine überzeugte Umweltschützerin.

»Und die Bewegung tut Ihnen doch auch gut, oder?«

»Durchaus. Mit genügend Zeit hätte ich mich sogar gänzlich auf Schusters Rappen begeben.« Obwohl Karen wie Alberto gerne in der gemütlichen Küche saß, bat er sie ins Wohnzimmer. Nicht ohne Grund, lagen doch dort seine Bücher über die Atkins-Diät. Heute würde sein Tag der vielen Pluspunkte werden. Er kehrte mit einem großen Tablett aus der Küche zurück und fand sie beim Blättern in den Bänden. Volltreffer, Angus, dachte er.

»Die haben Sie aber nicht alle gelesen?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Sein Sieg schien sich in eine Niederlage verwandeln zu wollen. »Ich wollte mir einen Überblick verschaffen.«

»Sie planen einen Artikel zu diesem Thema?«

Nun war die Kunst der Improvisation gefragt. »Wer weiß. Doch unabhängig davon ist es seit langen Jahren meine Art, methodisch vorzugehen. Sie werden nicht bestreiten, dass Abnehmen harte Arbeit ist.«

»Ich weiß nicht …«

»Es erfordert den ganzen Mann und ein lebenslanges Reflektieren. Das waren ihre ureigenen Worte.«

»Schon, aber warum benötigen Sie Bücher über Philip?«

»Wer bitteschön?«

»Der Gatte von Queen Elisabeth. Hier liegen drei Werke über ihn. Zwei Biografien und ein Buch mit Zitaten.«

MacDonald vermied es, seine Frau Doktor anzusehen. »Der Mann interessiert mich einfach menschlich.«

»Aber er ist doch Engländer und kein Schotte.«

»Stimmt. Dennoch darf er sich Duke of Edinburgh nennen.«

»Das weiß ich. Aber …«

»Etwas Milch in Ihren Tee?«

»Nur ein paar Tropfen. Entschuldigen Sie bitte mein Insistieren. Ich dachte, Sie lesen die Bücher über den Prinzen, weil er ein überzeugter Atkins-Anhänger ist.«

»Wäre das so schlimm?«

»Nur wenn sie ihn als unbewussten Vorwand nehmen, um Ihre Diät zu verzögern.«

»Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Ich arbeite an einem neuen Fall. Dabei sind mir die Bücher von Nutzen.«

»Wem wollen Sie dieses Mal auf die Schliche kommen?«

»Es ist noch nicht so ganz klar. Aber könnten Sie mir bitte etwas über extreme Formen von Diäten sagen?«

Karen lachte. »Sie meinen, wie zum Beispiel die Atkins-Diät? Was Veganer und Fruktarier sind, wissen Sie sicher. Außerdem gibt es zum Beispiel noch die Rohköstler.«

»Bitte was?«

»Rohköstler.«

»Habe ich doch richtig gehört. Der menschliche Tiergarten ist unüberschaubar. Weitere kuriose Mitmenschen?«

»Da Sie mich nach Extremen in diesem Bereich fragen, fallen mir natürlich noch die Magersucht und die Fresssucht ein.«

»Ist das doch schauderhaft. Lassen Sie uns von schöneren Dingen sprechen. Wie geht es Ihren Eltern?«

»Meinen Eltern? Wie kommen Sie jetzt darauf?«

MacDonald sah das Treffen mit Riesenschritten eine weitere betrübliche Wendung nehmen. »Sie hatten kürzlich von ihnen gesprochen.«

»Ach so. Sie sind beide wohlauf.« Nun vermied Karen Augenkontakt.

»Sehen Sie sich hin und wieder?«

»Nicht so häufig wie wir gerne möchten. Wo ist denn Sir Robert heute?«

»Auf der Jagd.«

»Die armen Vögelchen.«

»Manchmal ist es auch das eine oder andere Rättchen, das ins Gras beißt.«

»Das traut er sich?«

»Er ist so tollkühn wie sein Herrchen. Geht es Ihnen auch bestimmt gut?«

»Aber ja.«

Noch ein Blick zur Seite!

»Ich muss jetzt leider aufbrechen, Angus.«

»So plötzlich? Ich fürchte, ich habe mit meiner Fragerei Ihre Geduld strapaziert.«

»Nein, überhaupt nicht. Auf Wiedersehen.«

MacDonald brachte Karen zur Tür und sah ihr ratlos hinterher.

Maria putzte die Zimmer, mit Ausnahme des Bodens, um den Alberto sich mit seinem panzergleichen Staubsauger kümmerte. Er konnte es kaum erwarten, bis sie im Raum der japanischen Gäste fertig war. Was sie wohl so lange trieb?, fragte er sich. Wenn er den kompletten Innendienst gehabt hätte, wäre alles doppelt so schnell gegangen. Nur zum Teil entsprach das der Wahrheit, denn Alberto inspizierte die persönlichen Dinge der Gäste und verbummelte dabei viel Zeit. Er bezeichnete seine Methode als vorbeugende Deeskalation. Maria hatte ihn einmal beim Spionieren ertappt und sehr ungehalten reagiert. Seitdem musste er extrem vorsichtig vorgehen, denn er hatte ihr hoch und heilig versprochen, die Schnüffelei, wie sie es nannte, zu unterlassen. Aber etwas an diesen Japanern war ihm ganz und gar nicht geheuer, auch wenn sie das nicht verstehen wollte. Um sich abzulenken, sah er nach der Post. Der Briefträger hatte drei Briefe durch die Klappe an der Tür geworfen, zwei davon enthielten Rechnungen. Verstimmt hob er die Schreiben auf. Ein Blick auf die hölzerne Gästetafel im Flur verschlechterte seine Miesepetrigkeit noch. Für jedes Zimmer gab es einen kleinen Schieber, der ihn über Anwesenheit oder Abwesenheit der Gäste informierte. Die Kategorien waren »im Zimmer« und »ausgegangen«. Es wunderte ihn überhaupt nicht, dass die Japaner ausgegangen waren, der Schieber sich aber noch frech in der Position »im Zimmer« befand. Manche Personen hatten einfach kein Benehmen. Mit dem kleinen Finger schob er die Regler in die korrekte Position. Wenn er sich nicht um alles kümmerte, würde im Guest House die Anarchie ausbrechen. Maria verließ den asiatischen Sektor. Er ging nach oben, schloss die Tür hinter sich und verbarrikadierte sie mit dem Staubsauger. Falls seine bessere Hälfte unerwartet zurückkehrte, konnte er sich darüber beschweren, dass sie ihn beim Saugen hinter der Tür störte. Zum ersten Mal an diesem Morgen war die Spur eines Lächelns auf seinem Gesicht auszumachen. Wenn er in seiner Jugend eine Wahl gehabt hätte, wäre er hauptberuflich Detektiv geworden. Das Zusammentragen winziger Mosaikteilchen zu einem sinnvollen Ganzen begeisterte ihn immer wieder aufs Neue. Im Zimmer roch es komisch. Verflixt, seine bessere Hälfte kehrte bereits zurück. Ragte aus der Tüte neben dem Schrank ein Dudelsack? Und was waren das für bunte Tabletten, die auf dem Nachttisch lagen? Er musste seine Untersuchung beenden. Immer wenn es spannend wurde!

»Alberto, bis du da drin?«

»Komme gleich.«

»Angus wartet unten.«

»Sisi.«

Sie führte MacDonald ins Wohnzimmer.

»Komme ich ungelegen?«, erkundigte er sich.

»Überhaupt nicht. Wir könnten längst fertig sein. Aber Alberto hat die Angewohnheit, in den Sachen der Gäste zu stöbern. Er nennt es vorbeugende Deeskalation.«

»Irgendwo habe ich das schon einmal gehört.«

»Bestimmt im Fernsehen.«

»Was ist das für ein Geräusch?«

»Alberto, der mit dem Staubsauger in der Hand gebückt nach unten joggt.«

Schlagartig ging die Tür auf. »Hallo Angus, ich war bereits in unserer Sache tätig.«

Aufgemerkt! Es reute ihn wohl, dass er ihm wegen Craigmillar einen Korb gegeben hatte. »Freut mich zu hören.«

»Giuseppe hat angerufen. Das Auto, dessen Nummer er notierte, ist auf einen Privatmann zugelassen, ein gewisser Sergeant Lightman.«

»Woher weißt du, dass er vom Militär ist? Das steht doch nicht in seinem Fahrzeugschein, oder?«

»No, aber er hat einen Adresseintrag im Internet. Ich weiß auch, wo er wohnt.«

»Sprich.«

»West End.«

»Keine arme Gegend.«

»Meinst du, er hat etwas mit dem General zu tun?«

»Mister Lockhart war Major.«

»Bei einer Geheimtruppe?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Wir haben keinen Schimmer, welcher Einheit er angehörte. Am besten, du befragst Anns Mitbewohnerin. Vielleicht bekommen wir etwas heraus, mit dem wir den Sergeant in die Mangel nehmen können.«

»Es bleibt also dabei, dass du dich nicht nach Craigmillar traust?« So, jetzt war es raus, dachte MacDonald.

Maria sah neugierig zu ihrem Gatten. Konnte es sein, dass Alberto sich vor etwas fürchtete? Das wäre ihr neu.

»Stimmt doch überhaupt nicht!«, protestierte er lauthals. »Natürlich bin ich dabei. Meinetwegen können wir sofort aufbrechen.«

»Prächtig. Komm, wir gehen zum Wagen. Ich fahre. Weißt du, Craigmillar ist nicht mehr das, was es einmal war.«

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