Buch lesen: «Muster für morgen»
Frank Westermann
Muster für morgen
Band 4 der Serie »Andere Welten«
FUEGO
RÜCKBLICK:
[Inhaltliche Zusammenfassung von »Kontrolle«, »Inseln der Macht« und »Sternentage«]
Speedy wächst in einer Welt auf, die der unseren vergleichbar ist, d.h. sie ist geprägt von einem Gesellschaftssystem, das auf Machtausübung, Unterdrückung, Ausbeutung, Hierarchie und Konkurrenz beruht. Nach einem weiteren Weltkrieg sind weite Teile der Erde in Wüste verwandelt und übriggeblieben sind die beiden Machtblöcke Neu-Ing (Speedys Heimat) und die Südlichen Inseln. Speedy hat große Schwierigkeiten, sich in dieser perfekt organisierten Welt zurechtzufinden, in der es kaum Anzeichen von Widerstand zu geben scheint.
Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: ein mysteriöser Beobachter taucht auf und warnt Speedy und seine Freunde vor einem drohenden neuen Krieg. Gleichzeitig schlägt der Versuch der militanten Gangs fehl, einen Großangriff auf die Regierung zu unternehmen. Noch einmal greift der Beobachter ein und bringt alle Betroffenen vor dem anrückenden Militär in eine andere Realitätsebene in Sicherheit.
Mit dieser Erde II lernt Speedy eine ganz andere Welt kennen. Hier gibt es kein einheitliches Gesellschaftssystem, sondern eine Menge von Stammesverbänden, die teils in Städten, teils auf dem Land und teils als Nomaden und Wanderer leben. Beim Durchstreifen dieser Welt gerät Speedy – allein oder mit Freunden – von der Anarcho-Stadt über einen Nomadentreck, die Gefangenschaft in der Geld-Stadt und dem Machtbereich einer sektenähnlichen Zwangsgemeinschaft schließlich in ein Dorf, in dem eine junge Frau namens Traumschwester lebt, die ihm eine Menge neuer Einsichten vermittelt. Er wohnt hier eine Zeit lang mit Menschen zusammen, die versuchen, herrschaftsfrei unter Ausnutzung mystischer Elemente im Einklang mit der Natur zu leben. Aber auch dort findet er den Ansatzpunkt zum eigenen Handeln noch nicht.
Im zweiten Buch wird Speedy auf zunächst unerklärliche Weise in seine Heimatrealität zurückversetzt. Er landet dabei allerdings in einem Gefängnis im Machtbereich der Südlichen Inseln. Eine halb-legal arbeitende politische Gruppe befreit ihn und drei andere Gefangene aus dem Gefängnis Bergotos und Speedy versucht, sich in seiner neuen Umgebung einzugewöhnen. Er kommt in einer Wohngemeinschaft unter, spielt in einer Band mit und arbeitet politisch in der Gruppe, die ihn befreit hat. Der Kampf richtet sich auf den Südlichen Inseln in erster Linie gegen eine Militärdiktatur und die sie stützenden Monopolunternehmen.
Trotz einiger Erfolge im militanten Widerstand gerät das Handeln der Gruppe bald in eine Phase der Stagnation, deren Ursache einerseits persönliche Differenzen und Machtstrukturen innerhalb der Gruppe und andererseits die Zersplitterung des linken Widerstandes überhaupt und seine fehlende Massenbasis sind.
Unterdessen trifft Speedy eine Freundin aus Neu-Ing wieder, deren Erzählungen seine Kenntnisse in Bezug auf die verschiedenen Realitäten total verwirren. Außerdem erfährt er von ihr, dass sein Freund Lucky in Bergotos einsitzt. Nachdem die Gruppe auseinandergebrochen ist und die Machthaber im System jetzt ganz offen brutale Unterdrückungsmethoden einleiten, gelingt es Speedy noch, mit zwei Helfern Lucky zu befreien.
Ihre Flucht endet im Keller eines Hauses, in dem außerirdische Wesen ein seltsames Spiel betreiben. Die Außerirdischen, die sich Kurzos nennen, erklären sich bereit, Speedy und Lucky, die keinen anderen Ausweg sehen, in ihrem Raumschiff mitzunehmen.
Das dritte Buch schildert die Weltraum-Odyssee von Speedy und Lucky.
Nachdem sie sich von den Kurzos auf spektakuläre Weise getrennt haben, wollen sie versuchen, die Erde wiederzufinden. Auf dem Flug zum Kunstplaneten Mindatar entpuppen sich die Übersetzungsgeräte, die sie von den Kurzos erhalten haben, als Technische Helfer, die sie bei der Reparatur ihres Raumbootes unterstützen. Auf Mindatar begegnen sie dem Tromaden Kortanor, der auf der Flucht vor der Polizei des Öko-Planeten zu ihnen an Bord kommt. Von dort aus fliegen sie nach Hymeran, einem sogenannten Nicht-Arbeiter-Planeten, wo sie hoffen, die Koordinaten der Erde zu bekommen. Sie lernen dort Menschen kennen, die ein Leben ohne Arbeit und Herrschaft führen, deren Gesellschaftssystem aber letzten Endes für sie undurchschaubar bleibt. Der Hinweis der ebenfalls auf Hymeran lebenden Vurx führt sie zum Planeten der roten Sonne, auf dem sich verschiedene Realitäten überschneiden. Mit Hilfe der Zauberin Sonnenfeuer, die auf unerklärliche Weise in Kontakt mit Traumschwester (s. Kontrolle) steht, können sie endlich den Rückflug zur Erde antreten. Sonnenfeuer begleitet sie dabei, obwohl ihre Heimat von Invasoren aus dem All angegriffen wird. Auf dem Rückflug geraten sie in die Nebelgrenze, die eine Zeitverschiebung um 8 Jahre bewirkt, und begegnen Sucherin, einer anderen Gestalt des Wesens, das sie früher als Beobachter kennengelernt hatten. Nunmehr zu fünft treffen sie wieder im heimatlichen Sonnensystem ein.
ERSTER TEIL
DIE SITUATION
Mit einem gewaltigen Ausrottungsfeldzug gegen jeden militanten Widerstand gelang es der neu etablierten Militärdiktatur der Südlichen Inseln, das Blatt noch einmal zu ihren Gunsten zu wenden. Tausende von Menschen fielen diesem Massaker zum Opfer, wurden hingerichtet, in Lager gesperrt, ins Gefängnis geworfen, gefoltert und verstümmelt. Hinterher herrschten das Schweigen der Toten und das Flüstern der Verfolgten auf den Straßen der Städte und Dörfer.
Speedy und Lucky waren der Vernichtungsmaschinerie wie bekannt im letzten Moment entkommen.
Die nächsten Jahre waren vom Bemühen der Machthaber geprägt, die Kontrolle über die Menschen wiederherzustellen.
Doch kaum war ihnen das hier ansatzweise gelungen, geriet das Regime der Regs in Neu-Ing ins Schwanken.
Hintergrund für die instabilen Zustände in beiden Metropolen bildete die ökonomische Lage. Besonders das Kapital in Neu-Ing war nicht mehr in der Lage, einem Großteil der Bevölkerung relativen Wohlstand zu garantieren bei gleicher oder sogar sinkender Arbeitsintensität und gestiegenen Lohnkosten. So wurde also versucht, alle Formen von Arbeit, die unter der Regie des Kapitals standen, stärker auszubeuten. Weiterhin sollten die Löhne niedrig gehalten und ein Teil der Menschen überhaupt aus dem Produktionsprozess herausgeschleudert werden. Diesen unproduktiven, überflüssigen Arbeitern und Arbeiterinnen wurde auch keine Wohlfahrt mehr ausgezahlt. Immer mehr Menschen fürchteten um ihre nackte Existenz.
Durch ihre ökonomische Abhängigkeit von Neu-Ing gerieten die Inseln ebenfalls in den Sog dieser Krise (der gewonnene Krieg hatte den Militärs nur eine kurze Atempause gebracht und die Verschuldung und technologische Abhängigkeit nicht beseitigt). Die gezwungenermaßen auf Export ausgerichtete Wirtschaft der Inseln brachte neuen Druck und Verarmung für die Kleinbauern und Slum-Bevölkerung.
Ein weiteres schwerwiegendes Problem, das die Situation für Staat und Kapital aufs Äußerste verschärfte, war das der fehlenden Rohstoffe. Die Gegend um Neu-Ing war praktisch ausgeblutet. Es gab dort kaum noch Kohle, Öl, Uran oder Erze.
Und die Inseln bestanden zu 80% aus Ackerland, das die Nahrungsmittelherstellung für beide Staaten abdecken sollte. Außerdem stieg die Bevölkerungszahl ständig, und es gab keine Ausweichplätze. Die Städte hatten sich in die Höhen und Tiefen gebohrt, trotzdem platzten sie aus allen Nähten. Besonders Neu-Ing sah aus wie ein riesiges stählernes Monstrum, das vergeblich versuchte, seine Metallfühler in andere Gebiete auszustrecken.
Denn ein Großteil der Erde war nach wie vor radioaktiv verseucht und die restlichen Gebiete waren auf jeden Fall für Menschen unbewohnbar.
Man hatte jahrelang versucht, alles Mögliche künstlich herzustellen – mit einigermaßen Erfolg. Aber auch dafür wurden Rohstoffe benötigt. Nur aus Sand und taubem Gestein war nichts zu gewinnen. Das meiste Land war unfruchtbar und eine einzige Wüste.
In Neu-Ing hatten die Regs eine Zeit lang automatische Geräte und Maschinen entwickeln lassen, die selbsttätig in diesen Landstrichen nach Bodenschätzen suchen und sie auch abbauen sollten. Doch das Problem der Radioaktivität war nie gelöst worden. Die Maschinen selbst und das, was sie mitbrachten, waren so verseucht, dass die Materialien nicht weiterverarbeitet werden konnten. Die Automaten und Roboter gaben die Strahlung an Entlademaschinen und Transportfahrzeuge ab und der Aufwand für eine Entseuchung des ankommenden Materials und die nötigen Sicherheitsvorkehrungen waren zu immens, als dass sie sich lohnten. Außerdem ereigneten sich immer wieder tödliche Strahlungsunfälle, die nicht vertuscht werden konnten, so dass die Regs sich schließlich gezwungen sahen, die Experimente einzustellen.
Es gab einige Gebiete auf der Erde, die nicht vom radioaktiven Fallout betroffen waren und auch das Bombardement überstanden hatten. Doch das waren meist unzugängliche Stellen, in denen es den Herrschenden nie gelang Fuß zu fassen. Es lebten dort angeblich Kreaturen, die sich sehr von den normalen Menschen unterscheiden sollten, und jeden Ansatz einer Kolonisation von vornherein zunichte machten. Beide Staaten hatten versucht, sie zu bekämpfen, aber lang anhaltende Guerillakriege waren nicht die Stärke der jeweiligen Machthaber, und so war außer ein paar stark befestigten Stützpunkten nichts übrig geblieben.
Das war die Lage aus der Sicht der Regs und Militärs, die verzweifelt bemüht waren, die Profite des Kapitals zu sichern und ihre Kontrolle über die Menschen zu behalten.
Diese Maßnahmen führten allerdings zu einem immer größer werdenden Unruhepotential in Neu-Ing, wo sich zum vielleicht ersten Mal für viele Leute die Situation ergab, dass nicht einmal mehr ihre Grundbedürfnisse befriedigt werden konnten. Was nutzten Sensi-Kinos und Tri-Video-Wänd, wenn die Menschen nicht mal mehr einen elenden Brocken Syntho-Grütze kaufen konnten?
Die Unruhen weiteten sich schnell aus. Es kam zu vereinzelten Streiks und Demonstrationen – undenkbare Ereignisse in früheren Tagen -, Oppositionsparteien bildeten sich und breit angelegte Basisinitiativen entstanden.
Und gerade in diesem Moment kam den Regs noch einmal der Zufall zu Hilfe. Die historische Rolle dabei fiel dem Piloten eines Forschungshubschraubers zu ...
Dieser hatte eigentlich die Aufgabe, einige Messinstrumente einer vollautomatischen Station in der Arktis auszuwechseln. Wegen der schlechten Wetterlage war er gezwungen, einen Umweg zu machen und dann beugte er sich in seiner dicken Schutzmontur ungläubig vor. Er wollte seinen Augen nicht trauen, denn das, was er da in dem wirbelnden Schnee sah, war gewiss keine weitere Forschungsstation.
Der Pilot entdeckte das Raumschiff der Renen!
Bekanntlich hatten die Renen einige Reparaturen an ihrem Schiff auszuführen und waren deshalb nicht sofort nach ihrem Spiel mit den Kurzos von der Erde gestartet. Und bei den Renen dauerte es ja immer eine ganze Zeit, bis sie solche Schäden behoben hatten aufgrund ihrer – für uns – umständlichen Kommunikationsstruktur.
Der Helikopterpilot flog niedriger und stellte fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. Was das war, das dort unten in Eis und Schnee steckte, konnte er sich allerdings nicht denken. Er ahnte nur dessen wichtige Bedeutung. Er verständigte sofort seine Befehlsstelle und freute sich auf eine Beförderung, da er dem militärischen Stab angehörte.
Er wurde nicht nur befördert, sondern bekam obendrein eine Prämie eine Menge Orden und eine luxuriöse Wohnung. Er konnte von da an eine ruhige Kugel beim Militär schieben.
Die Regs konnten natürlich ebenfalls noch nicht ahnen, was der Zufall ihnen da beschert hatte, aber vorsichtshalber schickten sie erst mal ein ganzes Geschwader Kampfhubschrauber in das betreffende Gebiet. Die Soldaten verhielten sich angesichts des rätselhaften Objekts sehr vorsichtig und es setzte ein hektischer Funkverkehr ein. Schließlich wurde die Existenz eines außerirdischen Raumflugkörpers als eine Theorie in Betracht gezogen.
Da von dem Objekt keine merkliche Bedrohung ausging, landete ein Teil der Helikopter. Schwerbewaffnete Eliteeinheiten setzten sich in Marsch und drangen schließlich in das Renen-Schiff ein.
Im Innern bewahrheitete sich dann die Theorie.
Angesichts der völlig fremdartigen Lebensformen und der exotischen Umgebung drehte der Befehlshaber des Landekommandos durch und erteilte sofort Feuerbefehl. Zwei Drittel der Renen wurden getötet, bevor von höherer Stelle einsichtig gemacht werden konnte, dass diese anscheinend harmlosen Außerirdischen ihnen lebend mehr von Wert sein konnten.
Die Renen selbst hatten bis zu ihrem Tod keine Erklärung für das Verhalten der Menschen ihnen gegenüber. Sie kannten zwar in geringem Maß gewaltsame Auseinandersetzungen, aber Überfälle, Folterungen, Verhöre und der Einsatz von modernen Waffen überhaupt waren ihnen unbekannt. Ihre Gedanken-Kommunikation erübrigte Übersetzungsgeräte und so folgten sie verständnislos den Soldaten zu ihren Hubschraubern.
Sie wurden nach Neu-Ing transportiert und sofort in Hochsicherheitstrakten untergebracht.
Die Verantwortlichen erkannten bald, dass die bis jetzt überlebenden Renen harmlose Geschöpfe waren, und bald spotteten Politiker, Offiziere, Ärzte und Spezialwissenschaftler (ein moderner Ausdruck für Folterspezialisten) über die dämlichen leuchtenden Röhren.
Viel konnte aus ihnen nicht herausgequetscht werden, nur eine Menge sichtbar gemachter Gedankenbilder, die aber ohne Zusammenhänge zu kennen kaum verwertbar waren. Da waren die schriftlichen Aufzeichnungen und Computerprogramme des Raumschiffs schon besser geeignet.
Und so machte es den Folterern auch nichts mehr aus, als die Renen eines nach dem anderen starben, weil sie aus ihrer Gruppenstruktur gerissen auf Dauer nicht überleben konnten. Ein einziger blieb aus unerfindlichen Gründen am Leben, wenn es auch mehr einem Dahinsiechen glich.
Der Bevölkerung wurde das Märchen von einem aggressiven, außerirdischen Angreifer aufgetischt, dessen 5. Kolonne die heldenhaften Soldaten von Neu-Ing nach hartem Kampf besiegen konnten.
Aber die Sensation klang schnell ab und die Regs und ihre Helfershelfer bemühten sich, so schnell wie möglich das von ihnen erpresste Wissen für sich nutzbar zu machen. Mit der Außerirdischen Gefahr wurde auch der Aufbau einer Raumflotte gerechtfertigt, die nach den Plänen der Renen entstand.
Die neue Technologie verschaffte Neu-Ing einen weiteren Vorsprung vor dem Konkurrenten Südliche Inseln. Mit ihrer Hilfe konnte das Volk noch besser kontrolliert und im Zaum gehalten werden und vor allem wurden die Raumschiffe dazu benutzt, bestimmte Gebiete auf Mars und Mond, die reich an den so dringend benötigten Rohstoffen waren, von Menschen ausbeuten zu lassen. Für diese unmenschliche Arbeit unter miesesten Bedingungen wurden hauptsächlich politische Gefangene, sonstige Verbrecher und andere unliebsame Personen benutzt. Außerdem wurden Freiwillige angeheuert, denen bei ihrer Rückkehr ein Haufen Geld winkte, aber die meisten starben an Unfällen und Einsamkeit auf den trostlosen Planeten. So wurden die Regs auf elegante Weise einen Haufen Nichtstuer, Terroristen, Sozialrentner und Arbeitslose los. Die Freiwilligen unter ihnen erhofften sich einen Ausweg aus dem elenden Leben in den heruntergekommenen Vorstädten, dienten aber nur als Arbeitssklaven der Großkonzerne, die sich hier einen profitträchtigen Sektor zu erschließen versprachen.
So kamen die Herrschenden zu den dringend erforderlichen Bodenschätzen, die Wirtschaft nahm nochmal einen kolossalen Aufschwung, die Konzerne verdienten sich dumm und dämlich und die neue Technik wurde zur weiteren Einschläferung der Menschen verwandt.
Doch es stellte sich diesmal heraus, dass es sich nur um ein kurzes Aufbäumen gehandelt hatte. Nach ein paar Jahren war der Boom vorbei, und die Menschen stellten fest, dass sich an ihrer beschissenen Situation dadurch nichts geändert hatte. Die Kontrollmechanismen der Machthaber in Neu-Ing und auf den Südlichen Inseln gerieten erneut ins Wanken. Schneller als vor ein paar Jahren kam es zu teilweise militanten Gegenbewegungen.
Es begann mit einem Streik der Arbeitssklaven auf dem Mond, nächtlichen Plünderungen in den Großstädten und einer breiten Bewegung gegen die Macht der Maschinen.
Viele Leute begannen zu merken, dass sie ein hohles Leben führten, das die Reichen auf ihre Kosten noch reicher machte und sie zu statistischen Zahlen degradierte.
Das war die Situation, in die Speedy und Lucky – neun Jahre nach ihrer Flucht mit den Kurzos – Kortanor, Sonnenfeuer und Sucherin hineinplatzten.
When a man is running from his boss
Who holds a gun that fires cost.
And people die from being old
And left alone because they’re cold.
And bombs are dropped on fighting cats
And children’s dreams all run with rats.
If you complain you disappear
Just like the lesbians and queers.
...
You stop dancing.
The Who - »Helpless Dancer«
1.
DER KAMPF GEGEN DIE ARBEIT
Als Omar Tagusch seine verschlafenen Augen gewaltsam aufriss, blinkte ihm wie immer der Spruch: »Der Kampf gegen die Arbeit dauert so lange, bis wir sie abgeschafft haben«, entgegen. Er hatte ihn damals mit Leuchtstoff an die dem Bett gegenüberliegende Wand gesprüht.
Er grinste flüchtig und lehnte sich noch einmal zurück.
Er hatte es heute nicht sehr eilig mit dem Aufstehen. Die Parole markierte seinen endgültigen Abschied vom Berufsleben und den Beginn seines Kampfes gegen alles, was ihm von außen aufgezwungen worden war.
Damals hatte er noch ein — wie er dachte – sicheres Einkommen als Ingenieur in einer der großen Gleiterfabriken bezogen. Der Titel Ingenieur besagte dabei allerdings nichts weiter, als dass er privilegiert war, in dieser Mammutfabrik an den Mikro-Elektronik-Anlagen zu arbeiten und nicht in einem der kleinen Zulieferbetriebe, die grundsätzlich nur jämmerlich unterbezahlte Teilzeitkräfte einstellten.
Seine Ausbildung für diesen Job hatte darüber hinaus einen weiteren Vorteil gebracht: er war in der Lage gewesen, einigen Behauptungen der Propaganda der Bewegung gegen die Arbeit nachzugehen. Da er nicht viel beschäftigt war, außer dass er ab und zu ein paar automatisch laufende Fertigungsprogramme wechseln musste, die Anzahl, technische Eigenschaften, Form und Farbe des Gleiter-Ausstoßes betrafen, hatte er genug Zeit, sich die Programme genauer anzusehen.
So kriegte er unter anderem raus, dass die Gleiter wirklich auf schnellen Verschleiß gebaut waren. Einzelne Teile, in wechselnder Abfolge natürlich, wurden absichtlich so mies konstruiert oder zusammengesetzt, dass ganze Segmente der betreffenden Fahrzeuge über kurz oder lang einfach ausfallen mussten. Diese nachhaltigen Störungen waren meist nur dadurch zu beseitigen, dass ein neuer Gleiter gekauft wurde oder zumindest ein teurer neuer Antriebsblock. Das Zeitalter, in dem die Leute selbst etwas durch einfachen Austausch eines defekten Teils reparieren konnten, war längst vorbei. Die Funktionselemente waren mikroskopisch klein geworden und hingen alle so miteinander zusammen, dass nicht das eine ohne das andere ersetzt werden konnte. Ein zugegeben raffiniertes System.
Nach derartigen Entdeckungen hatte Omar es für richtig gehalten, sich etwas mehr mit den Absichten und Zielen der Arbeitsunwilligen auseinanderzusetzen, und dabei wurde ihm erst so richtig klar, unter welchen Illusionen er bisher gelebt hatte.
Er hatte seine und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung immer als gegeben, natürlich hingenommen und hatte sich auch nie etwas anderes als ein normales Berufs- und Familienleben vorstellen können. Mit der Familie hatte es zwar nicht so geklappt, aber seine Arbeit hatte er nie infrage gestellt, geschweige denn die Tatsache, dass überhaupt gearbeitet werden musste.
Sicher, die ganzen üblen Arbeitsbedingungen, der Stress, diese unbefriedigte Leere, alles das hatte er am eigenen Leib gespürt und bei seinen Kollegen und Kolleginnen mitgekriegt, aber er hatte es vorgezogen, diese Schattenseiten einfach zu ignorieren. Sie gehörten halt dazu und er wollte nicht weiter darüber nachdenken.
Genauso wenig wie über die rasch steigenden Arbeitslosenzahlen und Menschen, die keinerlei soziale Absicherung mehr besaßen außer einem Teller Syntho-Suppe am Tag, für den sie auch noch dankbar sein sollten. Er bewegte sich ja auch nicht in den Stadtteilen, in denen die Ausgestoßenen der Gesellschaft dahinvegetierten, wenn sie nicht vorher in Gefängnisse, Heime oder andere Anstalten eingewiesen worden waren.
Er bekam in den Nachrichten nur etwas mit von Terroristen, verbrecherischen Jugendbanden und demokratischen Parteien. Nichts über ganze Horden plündernder Bürger, die nachts durch die Straßen zogen und in verzweifelter Wut versuchten, ihren Hunger zu stillen. Nichts über das Anwachsen der Brutalität auf staatlicher Seite, dem Einsatz von Robotern mit Schusswaffen, den Toten, die inzwischen an der Tagesordnung waren. Und nur sehr wenig von dem massiven sozialen Protest, der in Verweigerung von Miet- und anderen Zahlungen, Demonstrationen, Kaufhausdiebstählen, Hausbesetzungen und Sabotageaktionen bis hin zu Brand- und Bombenanschlägen militanter Gruppen auf Fabriken, Cop-Stationen und Banken bestand. Die kommerziellen Medien verbreiteten höchstens Meldungen über Meutereien in Gefängnissen und Bomben in Kaufhäusern, was natürlich alles von Terroristen angezettelt war, denen Menschenleben egal waren.
Natürlich berichteten die Medien nur in regierungsfreundlicher Weise, aber verschweigen konnten sie auf die Dauer nicht alles. Von welcher Seite die Gewalt ausging, wurde für Omar noch einmal ganz deutlich, als eine Menge Indizien darauf hinwiesen, dass gerade die Bombenanschläge in Kaufhäusern Provokationen der Geheimdienste waren, um den terroristischen Banden die Toten in die Schuhe zu schieben.
Früher hatte es Omar vorgezogen, seine Augen geschlossen zu halten und die verlogene Staatspropaganda für bare Münze zu nehmen, bis das Misstrauen so lange in ihm genagt hatte, dass er sich für die Bewegung gegen die Arbeit zu interessieren begann. Er schaltete jetzt auch immer öfter von den diversen Tri-Di-Programmen, die hauptsächlich als Werbeträger dienten, ins Studio 34 um. Dort liefen auch kritische Programme, die sich mit den Oppositionsparteien und der Bewegung beschäftigten.
Seine Traumwelt brach immer mehr zusammen, er begann krank zu feiern und vernachlässigte seine gesellschaftlichen Kontakte. Die bestanden nämlich hauptsächlich aus sinnlosen Sauftouren mit Kollegen, gemeinsamen Spielpalast-Besuchen und Fernsehabenden. Auch die Schaukampf-Wettbewerbe waren ihm jetzt zuwider und um die Bordelle machte er immer öfter einen Bogen.
Er kam dann mit einer der Oppositionsparteien in Berührung und unterhielt sich zum ersten Mal mit Leuten persönlich, die etwas an dem System auszusetzen hatten. Plötzlich fand er auch am Arbeitsplatz einige Leute, von denen er früher nur abfällig gedacht hatte, dass sie immer was zu meckern hatten.
Es dauerte nur kurze Zeit, bis er merkte, dass auch die Opposition auf das demokratische System vertraute und lediglich einige Missstände abbauen wollte, aber zu keinen grundsätzlichen Veränderungen bereit war.
So lag es nur nahe, dass er sich irgendwann der Bewegung anschloss und begann, in ihrem Sinne tätig zu sein.
Seine Nachlässigkeit auf der Arbeit nahm zu, er vertrat offensiv seine Meinung und versuchte sich in Programm-Sabotage. Irgendwann stellte die Unternehmensleitung Vermutungen in dieser Richtung an, und als es ihr zu viel wurde, feuerten sie ihn.
Nun saß er auf der Straße und das mit 42 Jahren ohne Aussicht auf einen neuen Job, ohne Anspruch auf irgendwelche Versorgungsleistungen. Sie hatten ihm zwar direkt nichts nachweisen können, sonst wäre es auch noch schlimmer für ihn ausgegangen, aber offizielle Gründe, um Leute ohne weitere Ansprüche rausschmeißen zu können, gab es immer. Und es gab genug Menschen, die noch scharf auf so eine Arbeit waren. Seine Daten wurden automatisch nach diesem Vorfall in die zentralen Rechneranlagen der Unternehmensverbände weitergeleitet, so dass er auch in keinem anderen Betrieb unterkommen würde.
Die seit einigen Monaten staatlich anerkannten Gewerkschaften zuckten in seinem Fall mit den Schultern. Schließlich war er kein zahlendes Mitglied, und selbst wenn er es gewesen wäre, hätte sich ihre Hilfe in staatlichen Grenzen gehalten. Und die endeten schon weit vor mutmaßlichen Saboteuren.
Nach seiner Entlassung war er ziemlich orientierungslos durch die Gegend gelaufen, er kannte eben immer noch wenig Leute außerhalb der Arbeit. Er zehrte dabei von dem Geld, das er gespart und durch den Verkauf seiner Wohnung und einem Großteil seiner Möbel bekommen hatte.
Er wohnte mal hier mal da, bis er sich entschloss, fest in einer der Gruppen der Bewegung mitzumachen. Von da aus kam er dann zu einem Zimmer in einem der besetzten Häuser im miesesten Industrieviertel von Neu-Ing. So lernte er zum ersten Mal Menschen kennen, deren Freundschaft untereinander nicht auf Geld, Macht und Abhängigkeiten beruhte, sondern auf gegenseitiger, freiwilliger Unterstützung. Sie waren durch Vorstellungen, Ideen, politische Ziele und alltäglicher Praxis miteinander verbunden.
Sein restliches Geld wurde hier gut gebraucht, und statt im Konsumrausch die tägliche Langeweile zu überdecken, lernte er hier notwendige Überlebenstechniken: Schwarzarbeit, Lebensmittel stehlen und Papiere fälschen, gehörten schon bald zur Routine.
Seine Fähigkeiten als Ingenieur, die er in seinem Beruf nie gebraucht hatte, konnte er hier praktisch anwenden: bei Instandsetzungsarbeiten, Computerausnutzung oder im Austausch gegen etwas Gemüse von einer Gruppe Ökos, die in der Nähe in verbissener Arbeit versuchten, auf dem misshandelten Boden in Gewächshäusern etwas anzubauen.
Obwohl er ahnte, dass es in nicht allzu ferner Zeit zu harten Entscheidungskämpfen mit der Staatsgewalt, die die herrschende Ökonomie schützte, kommen würde, fühlte er sich hier wohler und zufriedener als in seinem ganzen hohlen Leben zuvor. Es gab zwar jede Menge Auseinandersetzungen, Depressionsphasen und Ängste, aber jetzt wusste er wenigstens, wofür er lebte.
Omar Tagusch sah nach draußen: ein trüber regnerischer Tag, der Smog lag tief und vermischte sich mit den grauschwarzen Wolken. Es sah fast immer so aus und war gerade richtig für das, was sie heute vorhatten. Sie sollten einen Haufen Ersatzteile hinter dem Gelände einer Elektronikfirma in Empfang nehmen, und das ging bei diesem nebligen Wetter weitaus besser als bei strahlendem Sonnenschein.