Buch lesen: «Darwin schlägt Kant»
Frank Urbaniok
Darwin schlägt Kant
Über die Schwächen der menschlichen Vernunft und ihre fatalen Folgen
Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch
© 2020 Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich
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Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-280-05722-3
eISBN 978-3-280-09091-6
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
Inhalt
Einleitung
Teil 1: Begrenzungen und Schwachstellen menschlichen Denkens und Handelns
1Erkenntnistheoretische Grenzen der menschlichen Vernunft
1.1Grünes Blatt und roter Ball, alles Täuschung oder was?
1.2Kant und seine synthetischen Urteile a priori
1.3Trotz aller Bedenken: Denken lohnt sich!
1.4Zusammenfassung erkenntnistheoretischer Grenzen
2Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft
2.1Schläger und Ball
2.2Rückschaufehler
2.3Halo-Effekt
2.4What you see is all there is (WYSIATI-Regel)
2.5Priming
2.6Ankereffekte
2.7Wiederholungen
2.8Kausalitätsillusion
2.9Physiognomischer Kurzschluss
2.10Überschätzung geringer Häufigkeiten
2.11Der schwarze Schwan und stumme Zeugen
2.12Generalisierung: Der unterschätzte Denkfehler
2.13Vermeidung kognitiver Dissonanz
2.14Hereinspaziert: A little something for everybody
2.15Radikaler Konstruktivismus und Grenzen der Kommunikation
2.16Kommunikation wird überschätzt
3Individuelle Persönlichkeitsprofile
3.1Die Kaltblütig manipulative Persönlichkeit (KmP)
3.2Instabiler Realitätsbezug
3.3Basale Wahrnehmungsmuster
4Vernunft und Evolution
4.1Instinktverhalten: Stereotyp, aber oft effektiv
4.2Investition in Vernunft: Ein evolutionäres Projekt mit Chancen und Risiken
4.3Kooperation versus egoistische Abgrenzung
4.4Individuelle Zuspitzungen der basalen Evolutionsprinzipien der menschlichen Natur
4.5Abgrenzung schafft Identität
4.6Das Verhältnis Mensch – Tier: Ein Beispiel für die Aktivierung und Deaktivierung des Kooperationspotenzials
5Das RSG-Modell
5.1Registrieren
5.2Subjektivieren
5.3Generalisieren
5.4Ordnungen
5.5Die menschliche Natur zeigt sich in allen Bereichen, die mit Menschen zu tun haben
6Naturwissenschaft: Der Königsweg?
6.1Kahnemans Taxiproblem
6.2Methodische Probleme statistischer Modelle am Beispiel des Taxiproblems
6.3Methode oder Versuchspersonen: Wer liegt hier falsch?
6.4Irrtümer der Wissenschaft: Einige Beispiele
6.5Das erkenntnisleitende Interesse
6.6Das Hamsterrad dreht sich immer und überall
6.7Skandal um Rosi
7Pragmatisch-phänomenologische Betrachtungsweise
7.1Beispiel für theoriegeleitete Fehlentwicklungen: Der Fluch der Psychosomatik
7.2Die Problematik impliziter Theorien
7.3Pragmatisch-phänomenologisches Erkenntnismodell und klassische Phänomenologie
7.4Empirismus versus Rationalismus
7.5Die Konzeption des pragmatisch-phänomenologischen Erkenntnismodells
7.6Die Bewertungskriterien der pragmatisch-phänomenologischen Methode
7.7Das Falsifikationsprinzip
7.8Falsifikationsprinzip und die Evidenzkriterien der pragmatisch-phänomenologischen Methode
7.9Relative Determination: Ein oft verkanntes, aber universelles Prinzip
7.10Der Fall der Berliner Mauer: Ein Beispiel für relative Determination
7.11Prognosen über die Zukunft: Ein Ding der Unmöglichkeit?
8Evolution: Wie Lüge und Krieg in die Welt kamen
8.1Das schmutzige Instrumentarium: Lügen, Täuschung, Manipulation, Stehlen und Gewalt
8.2Nachteile des schmutzigen Instrumentariums
8.3Der Mensch: Vom evolutionären Ladenhüter zum Erfolgsmodell
8.4Das rätselhafte Schicksal der Neandertaler
8.5Geschwistermord, die wahre Erbsünde?
8.6Das schmutzige Instrumentarium: Garant für Erfolg
8.7Die Mafia: Das schmutzige Instrumentarium als Strukturprinzip
8.8Das archaische Spannungsfeld der menschlichen Natur: Weit sind wir noch nicht gekommen
9Werte
9.1Humanistische Werte
9.2Nietzsche und die Aufklärung
9.3Nietzsche und die Kritik an klassischen Wertvorstellungen
9.4Der Wille zur Macht
9.5Max Stirner
9.6Die Rehabilitation von Mitleid und Liebe etc
9.7Werte als handlungsleitende Orientierungspunkte
10Geschichtliche Entwicklungen und Gesellschaftsmodelle
10.1Diskontinuität kultureller Entwicklungen
10.2Karl Popper und der Kampf für die offene Gesellschaft
10.3Popper contra Hegel
10.4Frankfurter Schule
10.5Frankfurter Schule und Aufklärung
10.6Negri und Hardt: Das Empire
10.7Aufklärung gescheitert?
10.8Eine makabre Rangliste
10.9Gemeinsamkeiten der drei größten Massenmörder aller Zeiten
10.10Menschlichster aller Menschen, Sonne der Menschheit!
10.11Mao Tse-tung: Ungebrochene Verehrung eines großen Führers
10.12Sind wir dem Mittelalter näher, als wir denken?
11Gedanken, Gefühle, Glaube und Überzeugungen
11.1Vorstellungen und andere Informationskonglomerate
11.2Der Glaube versetzt Berge
11.3Die Wechselwirkung von Glaube und Evidenz
Teil 2: Gesellschaftliche Schwach- und Baustellen
12Ordnungen und Organisationen
12.1Beschleunigung in der Postmoderne
12.2Einkaufsliste
12.3Regeln, Prinzipien, Konzepte, Systeme, Organisationen
12.4Neuer Wind in der Musikschule
12.5Ungebremstes Verwaltungswachstum: Folge der inhärenten Logik und übergeordneter Wachstumstreiber
12.6Die 80-20- und die ⅓-⅔-Regel, oder: Regeln und individuelle Kompetenz
12.7Standards und Papiere: Die Verschleierung fehlender persönlicher Kompetenzen
12.8Gruppenkategorien und Gruppenidentitäten
12.9Gute und schlechte Gründe für Gruppenkategorien
12.10Absolute Prinzipien enden in Absurdität
12.11Im Würgegriff des juristischen Prinzips
12.12Der Fall Metzler
12.13Asylrecht
12.14Flucht- und Migrationsursachen
12.15Algorithmen und künstliche Intelligenz
12.16Pferd oder Gießkanne, das ist hier die Frage
12.17Werner Heisenbergs Pollenallergie
12.18Das Würfelgericht
12.19Die Verfeinerung des Würfelgerichts und andere Systembrecher
13Ökonomie
13.1Die unsichtbare Hand
13.2Animal Spirits
13.3Ökonomische Ungleichheit und die Idealisierung des Unternehmertums
13.4Ehrliche Handwerker und egoistische Trader
13.5Machiavelli: Eine tief verankerte kulturhistorische Tradition
13.6Profitorientierung und Wachstumsprimat
13.7Mafiamethoden in der Ökonomie am Beispiel der Tabakindustrie
13.8Jeffrey Wigand: Ein hart bekämpfter Whistleblower
13.9Mafiamethoden in der Ökonomie: Die Spitze des Eisbergs
13.10Aber die Wahrheit kommt am Ende doch ans Licht – oder doch nicht?
13.11Schulden
14Medien und Information in der Postmoderne
14.1Eine Flut von Informationen
14.2Angriff auf die Pressefreiheit
14.3Die weiche Zensur
14.4Der Umgang mit populistischen Parteien am Beispiel der deutschen AfD
14.5Migrations- und Flüchtlingspolitik: Das gute und das schlechte Narrativ
14.6Im Wahlkampf gilt: Ausländische Regelbrecher verlassen das Land
14.7Abschiebungen von ausländischen Straftätern: Ein schwieriges Geschäft
14.8Abschiebungen: Theorie und Praxis
14.9Ausländerkriminalität: Das etablierte Gegen-Argumentarium
14.10Faktoren, die das Phänomen der Ausländerkriminalität verschleiern
14.11Die Analyse der Polizeilichen Kriminalstatistik von Jochen Renz
14.12Weitere Zahlen zur Ausländerkriminalität
14.13Die Bundeszentrale für Aufklärung und die Erziehung zum mündigen Bürger
14.14Die Angst vor aussagekräftigen Zahlen
14.15Schlussbetrachtung zum Thema »Ausländerkriminalität«
14.16Der Fall Edathy
14.17Der Fall Herman
14.18Öffentliche Entschuldigungsrituale
14.19Einzelfälle als Beurteilungsgrundlage
14.20Seltene Ereignisse können keine häufigen Ursachen haben
14.21Thesenjournalismus und Fake News
15Werbung, Propaganda und Politik
15.1Die Werbeindustrie
15.2Werbung in der Politik
15.3Das Informations- und Diskussionsvakuum westlicher Demokratien
15.4Populismus
15.5Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Populisten und Extremisten
15.6Massenpsychologie nach Gustave Le Bon
15.7Prinzipien der nationalsozialistischen Propaganda
15.8Goebbels in Berlin
15.9Goebbels gegen Bernhard Weiß: Beispiel einer gezielten Hetzjagd
15.10Unterschiede und Schnittmengen innerhalb des politischen Spektrums
15.11Extremismus, Populismus und die demokratische Mitte: Ein Differenzierungsschema
15.12Agitatorische Propagandamethoden versus aufklärerische Ideale
15.13Die Schweizerische Volkspartei (SVP)
15.14Populistische Stilmittel
15.15Ein ungleicher Kampf: Smarte Bogenschützen gegen schwerfällige Ritter
15.16Der Bus des Schreckens
15.17Verdienste der SVP
15.18Der Horror-Clown im Weißen Haus
15.19Profil und Markenkern demokratischer Parteien
15.20Stärken und Schwächen politischer Grundausrichtungen
15.21Die Sozial-Liberale-Ökologische-Kriminalität-und Überregulierung bekämpfende Partei (SLÖKÜBP)
16Zum Schluss: Ein vorsichtig optimistischer Ausblick
Quellenverzeichnis
Personenregister
Einleitung
Die Legende der Sieger
Der Mensch ist eindeutig das dominierende Lebewesen auf unserem Planeten. Wie hat er es auf diesen Spitzenplatz geschafft? Nicht ein besonders kräftiges Gebiss, eine außerordentliche Schnelligkeit, ein tödliches Gift oder überbordende Körperkraft sind sein Erfolgsgeheimnis. Die schärfste Waffe ist sein Verstand. Durch ihn ist er allen anderen Lebewesen haushoch überlegen. Er ist das Beste, was die Evolution in vielen Millionen Jahren hervorgebracht hat. Der Mensch ist ihr ultimatives Erfolgsmodell. So weit die Legende der vermeintlichen Sieger. Sie ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Das fängt schon damit an, den heute lebenden Menschen als »den Menschen« zu bezeichnen. Fakt ist: Es gab einige Menschenarten. Aber nur eine von ihnen überlebte. Alle anderen starben aus. Die Art, die überlebte, gab sich selbst einen schmeichelhaften Namen: Homo sapiens – der weise Mensch. Für die ausgestorbenen Verwandten reichte es, den Ort zu nennen, an dem man ihre Knochen fand. Sie mussten sich mit schmucklosen Namen wie Neandertaler oder Australopithecus begnügen.
Bescheidenheit war noch nie eine Stärke des weisen Menschen. Das sieht man auch daran, dass er sich gerne als Krone der Schöpfung und als ein Wesen begreift, das von Gott auserwählt und mit unendlicher Liebe beschenkt wird. Kein Wunder, dass die Evolutionstheorie des Naturforschers Charles Darwin lange Zeit erbittert bekämpft wurde. Auch heute noch ist sie wütenden Protesten ausgesetzt. Fakt ist auch: Für die Evolution sind 100 000 Jahre ein klein wenig mehr als nichts. Ob der Homo sapiens tatsächlich ein dauerhaftes Erfolgsmodell darstellt, ist eine offene Frage. Solche Fragen beantwortet die Evolution in Zeiträumen von mehreren Millionen Jahren. Und aus dieser Perspektive betrachtet haben wir bei einem Marathonlauf gerade mal den Startbereich verlassen.
Der Homo sapiens hat Stärken und Schwächen. Vieles, was in dieser Welt schiefläuft, hat mit seinen Schwächen zu tun. Man muss sich nur umschauen und findet sie in alltäglichen Kleinigkeiten genauso wie in Gesellschaft, Politik oder Wissenschaft. Es ist gut zu wissen, wie die Evolution den Homo sapiens konstruiert und geprägt hat. Denn das hilft zu verstehen, warum die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist, warum wir Kriege führen, Regeln bis zur Absurdität ausbauen, Populisten mögen, uns gerne selbst belügen und vieles mehr. In diesem Sinne erwartet die Leserinnen und Leser ein großes Themenspektrum. Damit verfolge ich vor allem ein Ziel: Das Buch soll zum kritischen Nachdenken anregen und dazu, sich eine eigene Meinung zu bilden. Denn unabhängige und mündige Bürger, die sich an humanistischen Idealen orientieren, sind der wichtigste Faktor in dem Versuch, die Welt besser zu machen, als sie derzeit ist.
Der große Irrtum
Beginnen wir mit der menschlichen Vernunft. Sie unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Sie ist eingebettet in die allgemeine menschliche Psychologie (= menschliche Natur) und hat ein gigantisches Potenzial. Aber, Vorsicht. Die Vernunft hat auch viele Schwachstellen, die den meisten Menschen unbekannt sind. Räumen wir gleich mit einem Irrtum auf, der seit Jahrtausenden gepflegt wird. Ja, die menschliche Vernunft ist ein faszinierendes Instrument dafür, uns selbst und die Welt um uns herum zu erkennen und einzuordnen. Aus dieser Tatsache wird ein unreflektierter Kurzschluss abgeleitet. Weil man mit der Vernunft die Wirklichkeit erkennen kann, sei das genau auch der Zweck unserer Vernunft. In der christlichen Tradition klingt das so: Gott habe den Menschen die Vernunft gegeben, um Gott und Gottes Schöpfung erkennen zu können. Denn nur mit diesem Geschenk sei es möglich, die Existenz und die Größe Gottes zu erkennen, sich für die richtige Religion zu entscheiden und die Welt sowie die eigene Existenz zu verstehen. Aber auch ohne diesen religiösen Bezug hat man immer angenommen, der Mensch besitze seine Vernunft, damit er die Welt und sich selbst richtig erkennen und einordnen könne. Das ist falsch. Vor allem aber ist dieses Missverständnis über den Zweck der Vernunft eine schlechte Voraussetzung, die Vernunft »vernünftig« anzuwenden. Denn es macht die Vernunft noch viel fehleranfälliger, als sie es ohnehin schon ist. Ich will den Gedanken anhand eines Beispiels verdeutlichen. Dabei versetzen wir uns in die Zeit der Urzeitmenschen.
Stellen wir uns vor, unsere Vorfahren hörten in der Nacht ein Rascheln im Busch. Der eine Urmensch geht stets davon aus, das Rascheln stamme von einem Löwen. Er macht sich blitzschnell aus dem Staub. Der andere wartet auf weitere Informationen, um eine bessere Beurteilungsgrundlage zu haben. Der erste ist ein wahrhaft einfältiger Geist. Bei jedem Rascheln sieht er vor seinem geistigen Auge einen hungrigen Löwen und nimmt schnurstracks die Beine in die Hand. Er lebt in einer eigenen Vorstellungsblase, die wenig mit der Realität zu tun hat. Die Welt erfasst er nur rudimentär. Anders sein Kollege. Der ist neugierig und will seinen Verstand nutzen. Mittlerweile hat er das Phänomen des Raschelns gut verstanden. Er weiß, dass es meistens der Wind ist, der geräuschvoll die Blätter bewegt. Er hat beobachtet, dass auch eine Vielzahl kleiner und großer Tiere solche Geräusche verursachen kann. Nur selten steckt tatsächlich ein Löwe dahinter. Mithilfe seines Verstandes und seiner Beobachtungsgabe hat er ein differenziertes Bild der Wirklichkeit entwickelt, das ihm viele faszinierende Details offenbart. Er kennt die Welt sehr viel besser als sein Artgenosse, der die Präsenz von Löwen in grotesker Weise überschätzt. Aber er hat leider einmal zu lange überlegt und gewartet. Da nutzte es ihm auch nichts, dass er in mehr als 99 Prozent der Fälle mit seinen Beurteilungen über die vielfältigen Ursachen des Raschelns goldrichtig lag. Die eine tragische Fehleinschätzung war eine zu viel. Sie ereignete sich unglücklicherweise zu einem Zeitpunkt, in dem er noch keine Kinder gezeugt hatte. Da zeigt sich der evolutionäre Vorteil seines in seinen Wahrnehmungen und Urteilen total verpeilten Kollegen. Der wurde nie gefressen und zeugte zehn Kinder. Die Evolution hatte also gute Gründe – diese personifizierende Darstellung eines Prinzips sei aus Gründen der Anschaulichkeit erlaubt (vgl. Kap. 2.8) –, die Geschwindigkeit und Eindeutigkeit einer Urteilsbildung weit höher zu gewichten als deren Wahrheitsgehalt. Hier wird klar, worin der schlagende Vorteil dumpfer Automatismen und total verzerrter Beurteilungen liegt. Die Folgen dieser evolutionären Ausrichtung der Vernunft sind insbesondere in der modernen Informationsgesellschaft gar nicht hoch genug einzuschätzen.
Was ist Aufklärung?
Die Aufklärung hat die Menschheit tiefgreifend verändert. Sie prägt bis heute unser Denken und ist Grundlage einer Fülle zivilisatorischer Errungenschaften. Die Aufklärung ist im Kern eine Haltung. Sie ist das Streben, die Welt, ihre Gesetzmäßigkeiten und auch uns selbst möglichst unvoreingenommen zu erforschen, dadurch Erkenntnisse zu gewinnen und so auf vielen Gebieten Fortschritte zu erzielen. Ein in der Menschheitsgeschichte beispielloser Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fortschritt lassen sich ebenso auf die Aufklärung zurückführen wie Menschenrechte und demokratische Staatsformen.
1784 hat der Philosoph Immanuel Kant seinen berühmten Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« geschrieben. »Aufklärung«, so lautet darin seine Antwort, »ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Und weiter: »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! [Wage es, weise zu sein!; F. U.] Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«
Für Kant sind »Faulheit und Feigheit« die Ursachen dafür, dass die meisten Menschen »zeitlebens unmündig« bleiben. Denn es sei bequem, nicht selbst zu denken, sondern anderen dieses »verdrießliche Geschäft« zu überlassen. Für die meisten Menschen sei es schwer, sich aus der »beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten«. Weil sie nicht daran gewöhnt seien, ohne Anleitung und Vorgaben eigenständig zu denken, würden sie beim freien Denken »auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun […]. Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wikkeln, und dennoch einen sicheren Gang zu thun.« [1]
Der Aufsatz ist ein flammendes Plädoyer für den freien Geist – oder, um einen heute gebräuchlicheren Begriff zu gebrauchen: den mündigen Bürger. Kant wendet sich gegen Denkverbote. In seinem Aufsatz betont er damit den emanzipatorischen Aspekt der Aufklärung. Man soll sich von Ideologien und gesellschaftlichen Dogmen befreien, die einem offenen Prozess des Erkennens und Verstehens im Wege stehen. Kant beschreibt damit einen wichtigen Faktor, durch den eigenständiges Denken und damit die Mündigkeit eines Menschen behindert werden können: Es handelt sich um einengende gesellschaftliche Bedingungen.
Wie viele andere Autoren seiner Zeit richtete Kant seine Kritik gegen die christliche Religion und ihre kirchlichen und gesellschaftlichen Repräsentanten. Sie gaben in der westlichen Welt über Jahrhunderte vor, wie die Welt, wie der Mensch, wie die Schöpfung beschaffen seien und welche Ordnung sich hieraus auf Erden ableiten müsse. Verständlicherweise sah die Kirche durch die Ideen der Aufklärung ihr Wissensmonopol und damit auch ihre irdische Macht bedroht. Kant nimmt aber auch die Bürger selber in die Pflicht. Denn er unterstellt, dass sie durch ihre Vernunft zwar grundsätzlich die Möglichkeit zur Selbstbefreiung in sich tragen, ihr Potenzial jedoch häufig aufgrund von Bequemlichkeit und mangelndem Mut nicht ausschöpfen.
Bevormundende Autoritäten sind zweifellos ein wichtiges und nach wie vor aktuelles Hemmnis für die Anliegen der Aufklärung. Denken wir an totalitäre Systeme, an Pressezensur, Verfolgung von politisch Andersdenkenden, an politischen oder religiösen Fanatismus. Sie sind aber längst nicht das einzige Hindernis für einen unvoreingenommenen Erkenntnisprozess.
Auch auf der persönlichen Ebene gibt es viele Hindernisse, die sich einem aufgeklärten Verständnis der Welt und einem darauf basierenden vernünftigen Handeln in den Weg stellen. Es sind Hindernisse, die damit zu tun haben, wie die menschliche Vernunft und die menschliche Psychologie konstruiert sind. Das wiederum hat mit der evolutionären Entwicklung des Menschen zu tun. Die von Kant genannten persönlichen Haltungen, Bequemlichkeit und fehlender Mut, sind hier nicht einmal die Spitze eines riesigen Eisbergs, der den meisten Menschen unbekannt ist. Von diesem Eisberg, seinen Konsequenzen, aber auch von möglichen Lösungsansätzen wird in diesem Buch die Rede sein.