Die Weiße Rose

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Eine ungewöhnliche

Familie in einer

bewegten Zeit

Hans Scholl wurde 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs geboren; seine jüngste Schwester Sophie 1921, als die Folgen der Niederlage für das deutsche Volk immer stärker spürbar wurden. Sie gehörten jenen unglücklichen Jahrgängen an, deren Leben gleich von zwei Weltkriegen überschattet wurde. Die „Urkatastrophe“ des Zwanzigsten Jahrhunderts stand auch am Beginn ihres Lebens.

Fast die Hälfte aller deutschen Männer zwischen 15 und 60 Jahren waren im Ersten Weltkrieg Soldaten oder dienstverpflichtet. Einer von ihnen war der 1891 geborene Robert Scholl. Er entstammte einer Bauernfamilie und hatte nach der Mittleren Reife die Verwaltungsfachschule in Stuttgart besucht. Als der Krieg 1914 ausbrach, hatte ihn der nationale Taumel, der weite Teile des Bürgertums erfasst hatte, nicht angesteckt. Er war ein Kriegsgegner in einer militaristischen Zeit.

Als er gleich zu Beginn des Krieges eingezogen wurde und zum Infanteristen ausgebildet werden sollte, verweigerte er den Dienst an der Waffe. Pazifisten konnten im Kaiserreich zu Sanitätssoldaten ausgebildet werden. Robert Scholl musste allerdings wegen zivilen Ungehorsams einen im Sinne der Zeit wenig ruhmreichen Strafdienst in einem Ludwigsburger Lazarett ableisten.

1915 lernte er Magdalena Müller kennen, die dort als Krankenschwester arbeitete. Magdalena Müller war 1881 geboren. Die tiefgläubige evangelische Christin trat 1904 den Diakonissen bei und wurde 1909, nach ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin, in Schwäbisch Hall eingesegnet. In der Folgezeit arbeitete sie als „Schwester Lina“9 in der Gemeindekrankenpflege, bis auch sie Verwundete pflegen musste.

Im Oktober 1916 trat Magdalena Müller aus der Diakonissengemeinschaft aus. Einen Monat später heiratete sie Robert Scholl.

Es war eine in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliche Verbindung. Auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist es unüblich, dass eine Frau auf ihre Berufung verzichtet und einen 10 Jahre jüngeren Mann heiratet. Vor allem aber heiratete Magdalena Müller einen Mann, der sich gegen den militaristischen Zeitgeist stellte. Der Widerwille gegen das Unrecht des Krieges, der auch seine Kinder auszeichnen sollte, war bereits in der Persönlichkeit des jungen Robert Scholl angelegt.

Als der Krieg der europäischen Großmächte um die Vorherrschaft auf dem alten Kontinent im August 1914 begann, war das Deutsche Reich auf lange Kämpfe, vor allem aber auf die langandauernde englische Seeblockade, nicht vorbereitet. Der deutsche Generalstab hatte gehofft, durch zwei kurze, siegreiche Feldzüge zuerst Frankreich niederzuwerfen und dann, mit Hilfe Österreich-Ungarns, Russland in die Knie zu zwingen. Dem rohstoffarmen Deutschland fehlten die natürlichen Ressourcen, um einen langen Krieg durchzustehen.

Die prekäre Lage wurde durch die Kriegserklärung Englands verschärft, das an der Seite seines Entente-Partners Frankreich in den Krieg eintrat, weil deutsche Truppen völkerrechtswidrig und ohne Kriegserklärung in das neutrale Belgien eingefallen waren. Um eine Partisanenbewegung im Keim zu ersticken, gingen deutsche Truppen im Vormarschgebiet massiv gegen die Zivilbevölkerung vor. Die weltberühmte Bibliothek der Universität von Löwen wurde von der deutschen Artillerie in Brand geschossen.

Der deutsche Angriff kam sehr bald zum Erliegen, und beide Seiten gruben sich in Schützengräben ein. Der Stellungskrieg begann. In den folgenden vier Jahren versuchten beide Seiten, durch „Materialschlachten“, die Hunderttausende Menschenleben forderten, eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu erzwingen. Doch keiner Seite gelang der schlagende Durchbruch.

Erst als die Briten verstärkt die ersten Panzer einsetzten, vor allem aber, als 1917 die USA auf Seiten der Entente-Mächte in den Krieg eintraten, begann sich für die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, das Blatt zu wenden.

Im Frühjahr 1918 versuchte das Deutsche Reich mit einer Großoffensive seine letzte Karte zu spielen. Als auch dieser letzte Versuch misslang, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Entente-Mächte die deutsche Frontlinie durchbrechen und alliierte Truppen ihren Fuß auf deutschen Boden setzen würden.

Nur an der Ostfront sah die Lage für Deutschland besser aus. Es war den deutschen Truppen gelungen, russische Einheiten, die nach Ostpreußen eingedrungen waren, bei Tannenberg vernichtend zu schlagen. Im Verlauf des Krieges gab es in Russland immer wieder Hungerrevolten gegen das korrupte zaristische Regime, dem es nicht gelang, eine ausreichende Lebensmittelversorgung für das russische Volk sicherzustellen.

Mit deutscher Unterstützung kam es schließlich 1917 zur Oktoberrevolution, in der Lenins Bolschewiki die Macht eroberten. Um im nun ausbrechenden Bürgerkrieg nicht auch noch gegen die Deutschen kämpfen zu müssen, schloss Lenin im März 1918 den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit dem Kaiserreich. Sowjetrussland musste in seinem Westen große Gebiete an Deutschland abtreten.

Dieser Sieg täuschte weite Teile der deutschen Öffentlichkeit darüber hinweg, dass die militärische Lage aussichtslos war. Gegen die Übermacht der USA, Großbritanniens und Frankreichs konnte das durch die Seeblockade ausgehungerte, durch die Materialschlachten substantiell und moralisch ausgeblutete Kaiserreich nicht länger bestehen.

Trotz seiner pazifistischen Einstellung wurde der Verwaltungsfachmann Robert Scholl 1917 zum Bürgermeister von Ingersheim an der Jagst bestellt. Er bekleidete dieses Amt bis Dezember 1919. Zusammen mit seiner Frau, die sich vornehmlich für soziale Belange einsetzte, versuchte er den kleinen Ort zu modernisieren. Mit seinem liberalen Geist und seinen allzu fortschrittlichen Ideen machte er sich dort aber wenig Freunde. Es wurde ihm vorgeworfen, dass er Schwierigkeiten habe, auf seine Mitbürger zuzugehen, mit ihnen auf Dorffesten zu feiern und dass er seine Repräsentationspflichten10 vernachlässigte. Deshalb waren die Ingersheimer froh, als ihm das besser bezahlte Amt als Bürgermeister in Forchtenberg angeboten wurde, das er am 1. Januar 1920 antrat.

In Ingersheim kamen die ersten beiden Kinder des Ehepaares zur Welt, Inge (geboren 1917) und Hans (1918). Sie wurden in eine Zeit des Umbruchs geboren.

1918 hatte die Oberste Heeresleitung, ein Duumvirat aus Feldmarschall Paul von Hindenburg und dem Ersten Generalquartiermeister Erich Ludendorff, neben dem Oberbefehl auch faktisch die Macht im Kaiserreich übernommen. Am 29. September 1918 sahen sie keinen Ausweg mehr. In einer Denkschrift gestanden sie dem Kaiser die Niederlage ein. Die deutsche Front würde nur noch wenige Tage halten. Sie forderten sofortige Waffenstillstandsverhandlungen, denn sonst würde der Feind in das Reichsgebiet einmarschieren. Um die Verhandlungsposition Deutschlands zu verbessern, sollte man auf die Forderung der Alliierten nach Demokratie eingehen und eine parlamentarische Reichsregierung einsetzen.

Am 3. Oktober 1918 wurde der auch von den Alliierten geschätzte Chef des Deutschen Roten Kreuzes, Prinz Max von Baden, von Kaiser Wilhelm II zum Reichskanzler ernannt. Er stand einer Regierung vor, die von der SPD, dem Zentrum und den Liberalen, also der bisherigen Opposition, getragen wurde. Ende Oktober 1918 wurde die parlamentarische Regierungsform im Reich eingeführt. Gleichzeitig meuterten die Matrosen der Hochseeflotte. Die Hochseeflotte, die „schimmernde Wehr“ des Reiches, war der ganze Stolz von Adel und Bürgertum. Mit ihrer Hilfe wollte Deutschland seinen „Platz an der Sonne“ erobern. Sie wurde im Weltkrieg nur sehr vorsichtig eingesetzt, weil sie, trotz eines gewaltigen Flottenbauprogramms, der Royal Navy hoffnungslos unterlegen war. Die Seeblockade der Briten konnte sie nicht brechen.

Jetzt, am Ende des Krieges, gab es Pläne des Flottenoberkommandos, die Großkampfschiffe zu einem letzten „Todesritt“ auslaufen zu lassen, um sich den Briten zu stellen. In einer großen Seeschlacht wollten die Marineoffiziere den ehrenhafte Untergang suchen.

Als diese Pläne zu den Matrosen durchsickerten, kam es zum Aufstand. Die Matrosen setzten ihre Offiziere ab und bildeten Matrosenräte, die das Kommando übernahmen.

Die Reichsregierung versuchte, den Matrosenaufstand niederzuschlagen und die Meuterer hart zu bestrafen. Daraufhin brach in Kiel ein weiterer Matrosenaufstand aus, um das zu verhindern. Der Kieler Matrosenaufstand ließ sich nicht mehr so leicht eindämmen. In der ersten Novemberwoche 1918 breitete sich die Aufstandsbewegung wie ein Lauffeuer aus. Im ganzen Reich bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. Sie entmachteten die Offiziere und übernahmen die Regierung in verschiedenen deutschen Städten. So kam es am 7. November 1918 auch zur Revolution in München. Das bayrische Königshaus wurde gestürzt und eine neue Revolutionsregierung unter dem USPD-Politiker Kurt Eisler proklamierte den Freistaat Bayern. Die revolutionären Ereignisse im Reich erzwangen die Abdankung Kaiser Wilhelms II am 9. November 1918. Er flüchtete in die neutralen Niederlande, um einer Anklage als Kriegsverbrecher zu entgehen.

Prinz Max v. Baden betraute den SPD-Politiker Friedrich Ebert mit der Bildung einer neuen Reichsregierung. Am gleichen Tag rief Philipp Scheidemann die Republik aus. Der 9. November sollte zum Schicksalstag der Deutschen werden wie schon 1848 (Erschießung von Robert Blum) und später 1923 (Hitler-Putsch), 1938 (Reichspogromnacht) und 1989 (Fall der Mauer in Berlin).

Am 10. November 1918 übernahm der Rat der Volksbeauftragten aus SPD und USP die Reichsregierung. Generalstabschef Wilhelm Groener erklärte sich zur Zusammenarbeit mit der neuen Regierung bereit. Um die staatliche Ordnung wieder herzustellen, benötigten die Sozialdemokraten die alten Militäreliten. Es kam zu einem kurzzeitigen Bund zwischen diesen gesellschaftlichen Kräften, die sich kurz vorher noch bekämpft hatten. Der linke Schriftsteller Theodor Plevier brachte diesen Umstand auf die Formel: „Der Kaiser ging, die Generäle blieben.“

 

Die sozialdemokratisch geführte Regierung, nicht das Militär, musste um Waffenstillstand bitten. Die alten Eliten des Kaiserreiches wollten mit der von ihnen verursachten Niederlage nichts mehr zu tun haben.

Am 11. November 1918 unterzeichnete der Zentrums-Politiker Matthias Erzberger in einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne den Waffenstillstandsvertrag. Einen Monat später besetzten belgische und britische Truppen den Raum Köln/Aachen.

Die deutschen Truppen verließen in den folgenden Wochen die Schützengräben und marschierten in militärischer Ordnung in die Heimat zurück. Es sah für große Teile des deutschen Volkes so aus, als sei Deutschland „im Felde unbesiegt“ geblieben. Erst der angebliche „Dolchstoß“ von Linken und Demokaten in den Rücken des Heeres habe die Niederlage und den Untergang des Kaiserreiches gebracht. Dass der Krieg verloren war, wollten vor allem die alten Eliten nicht einsehen. Sie schufen die Dolchstoß-Legende, um von ihrer Schuld am Untergang des Bismarckreiches abzulenken. Die entstehende Weimarer Republik sah sich von Anfang an einer starken Phalanx von Demokratiefeinden gegenüber. Für die staats- und gesellschaftstragenden Schichten des Kaiserreiches war die Demokratie eine ungeliebte Frucht der Niederlage. Für die alten Militäreliten war klar, dass ein erneuter „Dolchstoß“, an den sie inzwischen selbst zu glauben begannen, in einem kommenden Krieg unter allen Umständen verhindert werden musste. Dieser Gedanke fiel später bei den Nationalsozialisten auf fruchtbaren Boden.

Auch nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandvertrages gingen die revolutionären Wirren weiter. Nachdem am 1. Januar 1919 die KPD gegründet wurde, kam es zu Straßenkämpfen in Berlin („Spartakus-Aufstand“). Noch bis in den Mai sollten immer wieder Unruhen im Reichsgebiet auflammen. Radikallinke Gruppen versuchten in mehreren Städten Räteregierungen nach sowjetischem Vorbild zu etablieren. Diese Versuche wurden mit der Einwilligung der Regierung von den neu aufgestellten nationalistischen Freikorps niedergeworfen.

Im Januar 1919 wurde eine Nationalversammlung gewählt. Es kam eine Dreiviertelmehrheit für die parlamentarische Demokratie zustande. Eine Koalition aus SPD, Zentrum und der liberalen DDP unter Philipp Scheidemann übernahm die Regierung. Friedrich Ebert (SPD) wurde zum Reichspräsidenten gewählt. Die Parteien, die im Kaiserreich die Opposition gebildet hatten, bildeten die „Weimarer Koalition“ und regierten nun das Land.

Das Frauenwahlrecht, der Acht-Stunden-Tag und Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wurden eingeführt und damit zum Teil jahrzehntelange Forderungen der politischen Linken erfüllt. Den gewaltsamen Wirren bei ihrer Entstehung zum Trotz, bot die neue deutsche Republik eine Chance für die soziale Weiterentwicklung der Gesellschaft.

Auch Robert Scholl stellte sich in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts. In Forchtenberg trat er 1920 sein Amt als Bürgermeister an. Seine älteste Tochter, Inge Scholl, schreibt über diese Zeit:

„Das beschauliche Städtchen im Kochertal, in dem wir unsere Kindertage verbrachten, schien von der großen Welt vergessen. Die einzige Verbindung mit dieser Welt war eine gelbe Postkutsche, die die Bewohner in langer, rumpelnder Fahrt zur Bahnstation brachte.“11

In dieser Weltabgeschiedenheit bekam das Ehepaar Scholl vier weitere Kinder: Elisabeth (geb. 1920), Sophie (geb. 1921), Werner (geb. 1922) und Thilda, die 1925 geboren wurde, aber bereits im folgenden Jahr starb. Trotz dieses Schicksalsschlages erlebten sie eine schöne Kindheit. Inge Scholl schreibt darüber:

„Uns aber erschien die Welt dieses Städtchens nicht klein, sondern weit und groß und herrlich. Wir hatten auch bald begriffen, dass sie am Horizont, wo die Sonne auf- und unterging, noch lange nicht zu Ende war.“12

Das Verhältnis der Geschwister war sehr eng, auch weil die Kinder mit einem geringen zeitlichen Abstand voneinander geboren waren. Elisabeth Scholl meint dazu:

„Von klein auf waren wir eine Freundesgruppe, wir waren nicht auf andere angewiesen.“13

Diese enge Bindung sollten die Geschwister ein Leben lang beibehalten, ja sie ging sogar noch über den Tod hinaus. Neben dem geringen Altersunterschied mag auch die besondere Stellung der Scholl-Kinder dazu beigetragen haben. Als die Kinder des Bürgermeisters waren sie privilegiert in der engen Welt der kleinen Stadt. Und noch einen Unterschied gab es zu den anderen Kindern des Städtchens: Robert Scholl legte sehr großen Wert auf Bildung. Im Haushalt der Scholls wurde musiziert, die Kinder wurden spielerisch an die Kunst und an die Literatur herangeführt. Die Künste wurden ein fester Bestandteil ihres Lebens.

In der Familie wurde ein offener Umgangston gepflegt. Susanne Zeller-Hirzel, eine Freundin und spätere Mitkämpferin Sophie Scholls, schildert Robert Scholl so:

„[Er] war ein hochgewachsener, temperamentvoller Herr, der ungeniert seine Meinung sagte. Gerechtigkeit und Anstand waren für ihn höchste Werte.“14

Magdalena Scholl hielt sich eher zurück. Ihrem Wesen nach bescheiden und fromm war sie „der stille, gute Geist der Familie“.15 Das Streben nach Gerechtigkeit und Anstand haben später Hans und Sophie zum Handeln gegen den Nationalsozialismus veranlasst. Dabei half ihnen der Wahlspruch ihres Vaters. Er stammt von Goethe: „Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten“.

In jenem Goethegedicht, das aus dem Singspiel Lila von 1777 stammt, heißt es unter anderem:

„Allen Gewalten

Zum Trutz sich erhalten

Nimmer sich beugen

Kräftig sich zeigen

Rufet die Arme

Der Götter herbei.“

Dieses Hohelied auf den persönlichen Mut, auf Unbeugsamkeit und Selbstbewusstsein half der Familie durch die Zeit der Verfolgung. Elisabeth Scholl berichtet, dass das Goethewort ihnen in den dunkelsten Stunden nationalsozialistischer Hetze Zuversicht schenken konnte. Hans Scholl schrieb den Wahlspruch der Familie unmittelbar vor seiner Hinrichtung an die Zellenwand.

Auch in Forchtenberg eckte Robert Scholl mit seinen damals neumodischen Ideen an. Aber immerhin gelang es ihm, „in zähe[m] Kampf gegen manchen Bauernschädel“16, durchzusetzen, dass der Ort einen Eisenbahnanschluss und eine Kanalisation bekam.

Als Forchtenberg in der Mitte der 1920-er Jahre an den Errungenschaften der Moderne teilhaben konnte, war es gelungen, die Republik zu stabilisieren. Es war die Zeit der „Goldenen Zwanziger“.

Vorausgegangen war eine Phase der Krisen. Bei den Friedensverhandlungen 1919 in Versailles wurde dem Deutschen Reich die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges gegeben. Die deutschen Unterhändler wurden durch ein Ultimatum der Siegermächte gezwungen, die harten Friedensbedingungen zu akzeptieren.

Das Deutsche Reich musste sein Kolonialreich und einige Gebiete wie Elsass-Lothringen abtreten, vor allem aber hohe Reparationen an Geld und Sachlieferungen leisten. Im Januar 1921 wurde festgelegt, dass es innerhalb von 42 Jahren 226 Milliarden Goldmark und 12% seiner Exporteinnahmen17 an die Siegermächte zu zahlen hatte. Außerdem wurde die Armee, der Stolz des Kaiserreiches, auf 100 000 Mann verkleinert. Die deutsche Armee sollte nicht mehr über moderne Waffen wie Flugzeuge, Panzer und U-Boote verfügen dürfen. Deutschland sollte niemals wieder einen Krieg beginnen können.

Die Haltung der Siegermächte zur Schuldfrage zeigte sich beispielsweise in der symbolischen Gestaltung der Soldatenfriedhöfe. Die alliierten Gefallenen bekamen weiße Kreuze und Grabsteine. Sie waren die unschuldigen Opfer des Krieges. Die deutschen Gefallenen sollten aber unter schwarzen Grabkreuzen ruhen. In den Augen der Sieger waren sie die Aggressoren, die für eine böse Sache gekämpft hatten.

Die harten Friedensbedingungen, vor allem aber die Kriegsschuldfrage, brachten weite Teile der Bevölkerung gegen die Republik auf. Die deutsche Kriegspropaganda hatte vier Jahre lang behauptet, dass das deutsche Volk seine einzigartige Kultur vor dem Neid der Feinde verteidigen musste. Die Deutschen hatten glauben sollen, dass das Reich einen gerechten Verteidigungskrieg führte.

Französische und belgische Truppen besetzten das Ruhrgebiet, um den Forderungen der Siegermächte Nachdruck zu verleihen. Die demokratischen Politiker riefen zum passiven Widerstand auf. Wegen des militärischen Drucks der Alliierten blieb ihnen bald nichts anderes übrig, als auf die Forderungen einzugehen. Sie wurden deshalb von der nationalen Opposition als „Erfüllungspolitiker“ diffamiert.

Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der den Versailler Vertrag unterschrieben hatte, wurde 1921 von Mitgliedern der rechtsradikalen „Organisation Consul“ ermordet. Der passive Widerstand der Bevölkerung im französisch besetzen Ruhrgebiet gegen die „Erfüllungspolitik“ zeigte dann aber auch bei den Siegermächten Wirkung. Bereits im April wurde auf Betreiben der Amerikaner die Reparationsschuld auf 132 Milliarden Goldmark gesenkt.

Die gewaltigen Staatsschulden, die das Kaiserreich während des Ersten Weltkriegs aufgehäuft hatte, und die Reparationsleistungen bewirkten einen Währungsverfall. Im Juli 1922 kostete ein US-Dollar 402 (Papier-)Mark, im Oktober bereits 1648 Mark.

1923 war das Jahr der Hyperinflation. Am 12. Oktober kostete ein US-Dollar schließlich 4 Milliarden Mark. Die Vermögen und die Sparguthaben verfielen, Elend machte sich breit. Es kam zu Hungerunruhen und zu tumultartigen Szenen vor den Banken. Im Reich wurde der Notstand ausgerufen. Die immensen Kriegskosten wurden durch die Verarmung großer Teile der Bevölkerung bezahlt. Erst im November 1923 gelang es durch eine Währungsreform und durch die Einführung der Rentenmark, die Währung zu stabilisieren.

Von den Währungsturbulenzen und der politisch instabilen Lage versuchte eine rechte Splitterpartei zu profitieren, die ursprünglich aus München stammte, nun aber dabei war, sich in ganz Deutschland auszubreiten: die NSDAP.

1919 war der gescheiterte Kunstmaler und Weltkriegsgefreite Adolf Hitler der Deutschen Arbeiterpartei beigetreten, einer unbedeutenden politischen Vereinigung, die hauptsächlich aus Kleinbürgern und kleinen Geschäftsleuten bestand. Er fiel schon bald durch sein großes Redetalent auf, mit dem er seine Zuhörer fesseln und überzeugen konnte. Hitler nahm sogar Schauspielunterricht, um seine rednerischen Fähigkeiten zu optimieren. Bald schon verfügte er über ein Repertoire von einstudierten rhetorischen Posen, die er immer wirkungsvoller einzusetzen lernte und die sich bis heute ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt haben.

Schon wenige Monate nach Hitlers Eintritt wurde aus dieser Vereinigung politisierender Kleinbürger die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“. Am 24. Februar 1920 wurde die neue Partei während einer ersten Großveranstaltung im Münchener Hofbräuhaus aus der Taufe gehoben. Hitler verkündete das 25 Punkte umfassende Parteiprogramm. Das am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums angesiedelte nationalistische Programm fiel durch die Forderung nach einer Politik auf, die Arbeiter und Kleingewerbetreibende bevorzugte, und durch einen radikalen Antisemitismus.

Im Dezember 1920 erlaubten reiche Gönner der Partei, eine kleine Zeitung zu erwerben. Der Völkische Beobachter wurde zum offiziellen Parteiorgan der NSDAP und zu einer stetigen Einnahmequelle. Seit 1923 erschien das Blatt täglich.

Am 29. Juli 1921 eroberte Adolf Hitler nach einem Richtungsstreit die Macht in seiner Partei. Er wurde der 1. Vorsitzende der NSDAP. Unter seiner Führung wurden Bestrebungen innerhalb der Partei, die auf eine Verschmelzung von Nationalismus und Bolschewismus hinarbeiteten („Nationalbolschewismus“), und die einen nationalistisch-kommunistischen Staat wollten, an den Rand gedrängt. Hitler hatte erkannt, dass der Weg an die Macht nur durch ein Bündnis mit den konservativen Eliten möglich war, die man durch allzu weit gehende soziale Forderungen nicht verschrecken durfte. Kurze Zeit später gründete er die „Sturmabteilung“ (SA), eine Parteiarmee und Propagandatruppe, die den Schutz von Parteiveranstaltungen übernehmen sollte. Nach dem Vorbild der faschistischen „Schwarzhemden“ in Italien wurden die SA-Männer in einheitliche braune Hemden gekleidet, die ursprünglich für die kaiserlichen Kolonialtruppen gedacht waren. Mit den Restbeständen des verlorenen Kolonialreichs wurde die „braune Bewegung“ ausgestattet. Hitler selbst gefiel die neue braune Uniform übrigens nicht. Er fand die Farbe hässlich.18

 

Nach der SA-Gründung gelang es der NSDAP, auch außerhalb Bayerns Fuß zu fassen. Noch 1921 wurde in Zwickau die erste nicht-bayrische Ortsgruppe gegründet.

Während sich die politische Lage durch den Währungsverfall immer weiter zuspitzte, kam es beim „Deutschen Tag“ in Coburg im Oktober 1922 zu ersten Straßenkämpfen zwischen SA-Männern und KPD-Mitgliedern. Der Terror der braunen Kolonnen hatte begonnen.

Hermann Esser, ein Schriftsteller, der die NSDAP mitbegründet hatte, rief zu dieser Zeit Hitler zu „Deutschlands Mussolini“ aus. Aus dem Vorsitzenden einer rechtsradikalen Splitterpartei wurde der „Führer“ der Deutschland erlösen sollte. Ebenso wie der Hitlergruß wurde auch dieser Titel von den italienischen Faschisten übernommen. „Führer“ ist die deutsche Übersetzung von „Duce“ dem Ehrentitel Mussolinis. Der englische Historiker Ian Kershaw sieht in diesem Ereignis die Geburtsstunde des Hitlermythos und den Beginn des NS-Führerkultes.

Doch noch wehrte sich die Demokratie. Schon im November wurde die NSDAP in Preußen verboten, Sachsen, Thüringen und Hamburg folgten. Die Regierungen dieser Länder hofften, den entstehenden deutschen Faschismus stoppen zu können. Denn in Italien hatten diese extremen Nationalisten durch Mussolinis „Marsch auf Rom“ gesiegt und alle Versuche, eine Demokratie in Italien aufzubauen, hinweggefegt.

In Bayern, das einen Rechtsruck erlebt hatte, blieb die Hitler-Partei weiter erlaubt. Im Januar 1923 fand der 1. Reichsparteitag in München statt. Die Partei hatte zu diesem Zeitpunkt 20 000 Mitglieder. Hitler baute seine Machtbasis in der NSDAP weiter aus. Aus seinen ergebensten Anhängern selektierte er den „Stoßtrupp Hitler“. Aus dieser Parteigliederung entstand später die SS.

Ende 1923 kam es zum Streit zwischen der rechtsgerichteten bayrischen Landesregierung und der Reichsregierung, die forderte, dass der Völkische Beobachter verboten werden sollte. Hitler musste befürchten, dass sein Sprachrohr, das mittlerweile im ganzen Reich gelesen wurde, mundtot gemacht werden sollte. Er plante deshalb wie Mussolini einen Marsch auf Berlin, um die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen.

Putschversuche gegen die Republik hatte es seit 1919 mehrere gegeben, der bisher letzte fand am 1. Oktober 1923 durch die „Schwarze Reichswehr“ in Küstrin statt. Alle Versuche scheiterten jedoch. Noch hielten die demokratischen Institutionen stand.

Hitler glaubte aber, dass ein von ihm geführter Putsch größere Erfolgschancen haben würde. Er war ihm gelungen, den ehemaligen Ersten Generalquartiermeister des Heeres, Erich Ludendorff, auf seine Seite zu ziehen. Ludendorff war nach dem Krieg nach Bayern gezogen und ein hoch geachteter Teil der völkischen Bewegung geworden. Mit seiner Hilfe wollte Hitler die politische Rechte einigen.

Um die Macht in Deutschland an sich zu reißen, plante er zuerst die bayrische Landesregierung zu beseitigen, um dann auf Berlin zu marschieren. Als Datum wählte er den 9. November 1923. Genau fünf Jahre vorher war die Republik ausgerufen worden, und der Kaiser war geflüchtet.

Am Vorabend hielt er eine Versammlung im Hofbräuhaus ab und erklärte die bayrische Regierung für abgesetzt. Es gelang seiner Parteitruppe, einige Regierungsmitglieder festzusetzen.

Die bayrische Regierung kapitulierte aber nicht. In einer Verzweiflungstat machte Hitler sich mit seinen Getreuen auf, um die Regierung doch noch zu stürzen. Die bayrische Polizei stoppte den Demonstrationszug vor der Münchener Feldherrenhalle. Polizeibeamte feuerten auf die Demonstranten, mehrere starben. Nur mit Glück entging Hitler einer Polizeikugel.

Hitler wurde der Prozess wegen Hochverrats gemacht. Er kam mit einem milden Urteil davon und wurde nur zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Sympathisanten in der bayrischen Justiz sorgten dafür, dass die Strafe nach 8 Monaten zur Bewährung ausgesetzt wurde. Hitler nutzte die freie Zeit und die komfortablen Haftbedingungen, um seine autobiografische Programmschrift „Mein Kampf“ zu verfassen. Während er im Gefängnis saß, löste sich die NSDAP in ihre Bestandteile auf. Ein gefährlicher Gegner der Demokratie schien besiegt zu sein.

1924 sollte eine Expertenkommission unter dem Amerikaner Charles G. Dawes erneut über die Höhe der Reparationen nach der Einführung der Rentenmark verhandeln. Im Oktober wurde schließlich die Dawes-Anleihe eingeführt. Sie ermöglichte die Einführung der Reichsmark als international konvertibler Währung.

Die Hyperinflation war damit endgültig vorüber. In der Folge strömte vor allem amerikanisches Kapital nach Deutschland. Die Wirtschaft erholte sich allmählich wieder und es begann eine kurze Zeit der ökonomischen und kulturellen Blüte. Berlin entwickelte sich zu einem Zentrum der Moderne. Der Glanz der Hauptstadt strahlte weit, vor allem in den zentral- und osteuropäischen Raum hinein. Künstler und Wissenschaftler strömten in die Spreemetropole. Das Kulturleben blühte auf und die Stadt erlebte einen Modernisierungsschub. Meilensteine der Filmgeschichte wie Fritz Langs „Metropolis“ entstanden in den Studios von Babelsberg. Im Großen Schauspielhaus mit seinen 3200 Plätzen revolutionierte Max Reinhard das Theater. Eine neue Kunstrichtung, die Neue Sachlichkeit, entstand. Das Bauhaus in Dessau setzte im Design neue Maßstäbe. Bedeutende und noch heute viel gelesene Schriftsteller wie Alfred Döblin, Erich Kästner, Hans Fallada lebten und arbeiteten in Berlin.

Aus Deutschland kam die fortschrittlichste Technik. Ende 1924 fand die erste Deutsche Funkausstellung in Berlin statt. Der Rundfunk wurde zum Massenmedium. 1925 gab es bereits eine Million Rundfunkteilnehmer. Bei der Deutschen Automobilausstellung wurden die ersten Fahrzeuge mit Dieselmotor vorgestellt. Insgesamt 13 Deutsche erhielten während der Weimarer Republik den Nobelpreis.

Die deutsche Republik präsentierte sich auch noch auf einem anderen Gebiet als High-Tech-Standort. Wagemutigen deutschen Fliegern gelang die schwierige Überquerung des Atlantiks von Ost nach West. Die Lufthansa wurde gegründet. Die neue Funktechnik ermöglichte es, Ferngespräche nach New York zu übertragen. Deutsche Zeppeline verbanden die Kontinente.

Und die technische Entwicklung lief rasend weiter. Zum Ende des Jahrzehnts gab es die ersten vollelektronischen Fernsehübertragungen und die ersten Tonfilme.

„Tempo“ war eines der Schlagworte der Zeit. Es ist kein Zufall, dass die Papiertaschentücher, die damals aufkamen, so genannt wurden. Auch die Wirtschaft veränderte sich. Unter dem Namen „Fordismus“ setzte sich die Fließbandproduktion immer stärker durch. Die neuen Produktionsmethoden ermöglichten niedrigere Preise für die Kunden. Kleidung aus den neuen Kunstfasern war auch für die ärmeren Bevölkerungsgruppen erschwinglich. In den Städten entstanden Großkaufhäuser, die „tausendfach unter einem Dach“ alle Güter des täglichen Bedarfs anboten, wie ein damals populärer Werbespruch lautete. Ein zunehmender Wohlstand ermöglichte erstmals Massenkonsum.

1927 verabschiedete die Weimarer Koalition zwei bedeutende Sozialgesetze. Erstmals wurde eine Arbeitslosenversicherung eingerichtet und der gesetzliche Mutterschutz eingeführt.

Auch in der Außenpolitik gelang es allmählich, Deutschland aus seiner Isolation herauszuholen. Durch die Entspannungspolitik von Gustav Stresemann und seines französischen Amtskollegen Aristide Briand gab es erste Versuche, die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ zu überwinden. 1926 wurde Deutschland Mitglied des Völkerbunds, der Vorläuferorganisation der UNO. Gleichzeitig wurde ein Freundschafts- und Neutralitätsvertrag mit der Sowjetunion ausgehandelt. Im Briand-Kellogg-Pakt sprachen sich die großen Nationen für die Ächtung des Krieges aus. Stresemann und Briand wurde der Friedensnobelpreis zugesprochen.