Buch lesen: «Initiation»
Frank Krause
Initiation
Der andere Weg
GloryWorld-Medien
1. Auflage 2021
© 2021 Frank Krause
© 2021 GloryWorld-Medien, Xanten, Germany, www.gloryworld.de
Alle Rechte vorbehalten
Bibelzitate sind, falls nicht anders gekennzeichnet, der Elberfelder Bibel, Revidierte Fassung von 1985, entnommen. In Klammern gesetzte Ergänzungen stammen vom Autor. Weitere Bibelübersetzung: Lutherbibel, Revidierte Fassung von 2017 (LUT).
Das Buch folgt den Regeln der Deutschen Rechtschreibreform. Die Bibelzitate wurden diesen Rechtschreibregeln angepasst.
Anmerkung zu Zitaten: Die vom Autor benutzten Zitate dienen ausschließlich der Erläuterung, Bereicherung und Untermauerung des eigenen Textes. Sie sollen zum Nachdenken anregen, inspirieren, Gedankengänge zusammenfassen und, je nachdem, den Text auflockern und den Leser zum Schmunzeln bringen. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass er weder alle Werke der von ihm zitierten Autoren kennt noch zwingend deren Weltanschauungen oder sonstigen Ansichten teilt.
Lektorat: Brigitte Krause
Satz: Manfred Mayer
Umschlaggestaltung: Markus Amolsch
Foto: carolyn-v-537271-unsplash.jpg
ISBN (epub): 978-3-95578-491-1
ISBN (Druck): 978-3-95578-391-4
Inhalt
Einführung
1 Identitäten
2 Auf dem Berg
3 In Christus
4 Wirklichkeit
5 Der Ruf
6 Katharsis
7 Alles neu!
8 Wie ein schlaffer Bogen
9 Die erfüllte Zeit
10 Ecce homo!
11 Heldenreise
12 Der wunderbare Weg
Nachwort
Über den Autor
Einführung
Sowohl erniedrigt zu sein, weiß ich,
als auch Überfluss zu haben, weiß ich;
in jedes und in alles bin ich eingeweiht,
sowohl satt zu sein als auch zu hungern,
sowohl Überfluss zu haben als auch Mangel zu leiden.
Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt.
Philipper 4,12-13
Christus ist den ganzen Weg gegangen: von ganz oben nach ganz unten – bis ans Kreuz und hinab in die Hölle – und wieder zurück bis über alle Himmel (Phil 2,5-11). Auf diesen Weg nimmt er uns mit und offenbart uns seine Herrlichkeit, die davon gekennzeichnet ist, dass sie nicht das eine gegen das andere ausspielt, sondern „alles vermag“. An der Seite des Auferstandenen erfahren wir die Tiefe und die Höhe, Erniedrigung und Erhöhung, die ganze Spanne zwischen Tal und Berg, Licht und Finsternis, Leben und Tod. Und an seiner Hand verlieren wir die Angst davor, diesen Weg zu gehen und wagen den Aufbruch …
Der Apostel Paulus war in der Lage, diesen menschlich gesehen ganz unmöglichen Weg mit Jesus zu gehen. Er sagt: „Ich bin eingeweiht – in jedes und alles.“ Was für eine Aussage! Das griechische Wort an dieser Stelle meint die Einweihung in ein Mysterium.
Die Fußnote der Elberfelder Übersetzung merkt dazu an: „Der Ausdruck wurde bei den Griechen im Blick auf die religiösen Mysterienkulte gebraucht, die nur Eingeweihten zugänglich waren.“ Mehr zu diesem Begriff siehe in der Fußnote1 unten. Sie ist etwas umfangreicher, weil es ein komplexes Thema ist, das spirituelle Menschen, Religionen und Kulturen zu allen Zeiten interessiert und ihre Bewegungen maßgeblich motiviert und begründet hat.
Wir mögen uns wundern, wieso Paulus ausgerechnet diese Sprache verwendet. Ist das denn nicht esoterisch und okkult? Muss man nicht alles, was mit Mystik und Mysterien zu tun hat, entschieden meiden? Wir sind doch heute aufgeklärte Christen! Was sollen wir mit Weihen und Geheimnissen?
Nun, Paulus verstand und verkündete das Evangelium ganz anders als wir heute. Eine persönliche Erscheinung des auferstandenen Jesus hatte ihn seinerzeit auf dem Weg nach Damaskus vom Pferd geworfen und bekehrt. Seine umfassende theologische Kenntnis erhielt er nicht von Menschen, sondern „durch Offenbarung von Jesus Christus“ und erklärt sie als „nicht von menschlicher Art“ (Gal 1,11-12). Um sie zu verstehen, reicht menschliche Weisheit mitnichten aus. Man muss dafür den Geist Gottes empfangen und Christi Sinn haben (vgl. 1 Kor 2,12.16), sonst kann man von den göttlichen Geheimnissen nichts begreifen oder aber versteht alles falsch.
Das Evangelium verkündete Paulus in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit der Glaube der Hörer nicht auf menschlicher Weisheit, sondern auf Gottes Kraft beruht. „Denn das Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in Kraft“ (1 Kor 2,4; 4,20).
Zeichen und Wunder, Visionen und Führungen, Engel und Himmelserfahrungen, dies und vieles mehr war für Paulus der ganz normale Ausdruck des Evangeliums. Für ihn entzog es sich menschlicher Handhabe oder Kontrolle und erwies sich als so mächtig und herrlich, dass er es „mit Furcht und Zittern“ verkündete. Er wusste, dass es in der Lage war, einen Menschen zu erschüttern, zu verwandeln und seine Welt komplett auf den Kopf zu stellen; er selbst hatte es erlebt.
Und wie steht es mit uns? Was von alledem haben wir erlebt und worin besteht das Evangelium heute für uns? Darin, dass uns die Sünden vergeben werden und wir in den Himmel kommen – wenn wir brav sind und zur Kirche gehen?
Wie hat sich uns das Mysterium der Weisheit und Herrlichkeit Gottes erschlossen – das Geheimnis, wie wir über das rein intellektuelle Erfassen der in Philipper 4,12-13 genannten Informationen hinaus in die Erfahrung der Kraft eintreten, „mit der wir alles vermögen“?
Offenbar hat die christliche Gemeinde den Weg der Einweihung in die Geheimnisse Gottes vergessen und beschäftigt sich mit anderen Dingen. Viele davon können wir im Neuen Testament erst gar nicht finden.
In diesem Buch über den anderen Weg gehen wir den göttlichen und menschlichen, himmlischen und irdischen Geheimnissen nach sowie der Frage, wie wir damit in Berührung kommen und was uns dazu befähigt, all das, wovon etwa Paulus spricht, selbst zu erleben und damit zu Zeugen des echten bzw. originalen Evangeliums zu werden, das in seinem Anfang so überaus wirkungsvoll war.
Hierzu werden wir einen weiteren Begriff erörtern, der heutzutage für viele Christen ebenso anrüchig und mittelalterlich klingt wie das Wort Mysterium. Hinter ihm verbergen sich Zugänge und Qualitäten, die uns fremd geworden sind und in der modernen Gemeinde kaum mehr eine Rolle spielen. Es handelt sich um den Begriff „Initiation“.
Initiation ist der authentische Weg ins Mysterium.
Der bekannte Religionswissenschaftler Mircea Eliade stellt fest, dass der Begriff der Initiation in den westlichen Gesellschaften unserer Tage praktisch nicht mehr vorhanden ist. Er spielte jedoch in den traditionsgebundenen Kulturen, die sich im Westen bis zum Mittelalter und in der übrigen Welt bis zum ersten Weltkrieg erhalten haben, eine ganz entscheidende Rolle. „Die Originalität des modernen Menschen, das Neue in Bezug auf die traditionsgebundenen Gesellschaften, besteht gerade darin, dass er sich einzig und allein als historisches Wesen betrachten will und in einem radikal entsakralisierten Kosmos zu leben wünscht.“2
Das gottlose Weltbild, welches sich gerne den Nimbus der Aufklärung, des Fortschritts und der Wissenschaftlichkeit gibt, lässt einen verirrten und verlorenen Menschen zurück, der keinen Zugang mehr findet zu einer verantwortlichen, integren Menschlichkeit, zu einer transzendenten Anbindung und spirituellen Verwirklichung, die über „Essen und Trinken“ (Konsum) bzw. „das Geschäft“ (Kommerz) hinausgeht und ihn motiviert, tugendhaft zu sein.
Der Mensch ist im Spiegel unserer aktuellen, versachlichten Weltanschauung nicht mehr eine göttliche Schöpfung, sondern eine evolutionäre Zufälligkeit und „Humanressource“. Er ist auch keinem Gott, keiner „höheren“ Berufung und Bestimmung gegenüber rechenschaftspflichtig, sondern selbstbezogen, also selber Gott. Welche Grotesken dabei herauskommen, ist augenfällig und bestürzend. Die Welt verfällt und kann nur noch mit Unmengen an nicht gedecktem Geld und ebensolchen Unmengen an Waffen zusammengehalten werden. Dabei feiert sie sich in blinder Hybris als Hort von Menschenrechten und Demokratie, während sie die Erde in atemberaubendem Ausmaß und Tempo ausbeutet und zerstört!
Ja, das Ende ist absehbar nahe herbeigekommen, und wir tun gut daran, uns auf die ewigen Prinzipien zu besinnen, die uns in echte Menschen verwandeln, wenn wir nur wirklich mit ihnen in Berührung kommen.
Nachdem ich nun bereits eine ganze Reihe von Büchern geschrieben habe, in denen es immer um die Frage nach dem echten Jesus, dem wahren Menschen und der authentischen Gemeinde geht, die Christus mit seinen Freunden bildet – in der Kraft des Heiligen Geistes –, fasst sich in dem vorliegenden Band vieles davon zusammen und es wird zum Ausgangspunkt einer neuen Ebene und Dynamik von geistlicher Entwicklung. Das ist das Anliegen von INITIATION. Denn wir gehen von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, und jede Herrlichkeit wird der Ausgangspunkt bzw. die Basis für eine weitere Stufe von Herrlichkeit. Aus diesem Grund finden sich manche Gedanken und Beispiele, Zitate und Visionen wieder, die bereits in anderen Büchern ihren Niederschlag fanden. Wiederholung kann in diesem Fall nicht schaden.
Ich versuche, viele Enden zu packen und Linien aufzugreifen, die im Einzelnen behandelt wurden, aber nun zusammengeflochten werden zu einem Strang bzw. zu einem Gewebe, das aus vielen Fäden einen Stoff bildet.
Der Kurs
Weil das Thema einerseits komplex und andererseits ungewohnt ist, habe ich zum Buch einen Begleit-KURS entwickelt, der die Kerninhalte jedes Kapitels aufgreift und für den „Schüler“ praktisch aufschließt. Fragen, Texte und inspirierende Beispiele unterstützen den Leser auf seinem persönlichen Initiations-Weg.
Wer das Buch einfach nur durchliest, wird am Ende von der Fülle der Impulse wahrscheinlich überfordert und sogar verwirrt sein. Ich empfehle darum, nach einem ersten Durchlesen wieder vorne anzufangen, den Kurs danebenzulegen und der Anleitung folgend mit Ruhe und Aufmerksamkeit, Offenheit und Gebet an jeden einzelnen Punkt heranzugehen und ihm die Zeit zu geben, die seine Entfaltung eben braucht.
Es ist wie mit Samenkörnern, die bewässert und kultiviert werden wollen, um aufzugehen und sowohl ihre wahre Gestalt als auch ihr wahres Potential zu zeigen. Es wird sich bei dieser Kultivierung, welche die Absicht des Kurses darstellt, sicher sowohl eine Fülle an persönlicher Offenbarung als auch eine ganz individuelle Führung durch den Heiligen Geist einstellen, die dem Weg der Verwandlung, den es zu gehen gilt, Licht und Klarheit geben. Ohne göttlichen Beistand ist der Weg der INITIATION und des MYSTERIUMS (Geheimnisses) meines Erachtens nicht zu finden, geschweige denn gangbar. Es ist der „andere Weg“, der in der kopflastigen Wissensgesellschaft der Gegenwart verloren gegangen ist und nun neu erschlossen wird.
Im Anhang des Buches werden weitere Informationen zu dem Kurs gegeben. Er ist Teil der „Schule auf der Schwelle“, die sich mit Fragen der Verwandlung, Erleuchtung, Erweckung und den Entwicklungsstufen befasst, durch die wir in alledem wachsen und gedeihen. Gerade die Frage nach den Übergängen ist häufig unklar und blockiert jeden Fortschritt.
So wünsche ich meinen Lesern wunderbare Erkenntnisse und Entdeckungen – eine Offenbarung des ANDEREN WEGES, den es neu zu erkunden gilt.
1 Das Wort Mysterium (von griechisch μυστήριον mysterion, ursprünglich für kultische Feiern mit einem geheim bleibenden Kern, volkstümlich auch abgeleitet von myo, den Mund schließen) wird gewöhnlich mit Geheimnis übersetzt. Gemeint ist ein Sachverhalt, welcher sich der eindeutigen Aussagbarkeit und Erklärbarkeit prinzipiell entzieht – nicht einfach eine nur schwer mittelbare oder zufällig verschwiegene Information …
Als Mysterienkult oder Mysterienreligion wird ein Kult oder eine Religion bezeichnet, deren religiöse Lehren und Riten vor Außenstehenden geheim gehalten werden. Die Aufnahme in eine solche Kultgemeinschaft erfolgt gewöhnlich durch spezielle Initiationsriten. Das Wort Mysterium geht auf das griechische μυστήριον (mysterion, Geheimnis) und dieses wiederum auf μύειν (myein, „schließen“), zurück. Für Nichtinitiierte war der Mysterienkult „geschlossen“. Die initiierten Mitglieder wurden Mysten genannt …
Der griechische Gebrauch von mysterion für geheime Lehren findet auch Eingang in Texte des hellenistischen Judentums. Dass die Wege Gottes menschliches Verstehen übersteigen, wird des Öfteren in alttestamentlichen Texten ausgesagt. Eine spezifische Vorstellung von Geheimnissen, welche das Ende der Tage betreffen und die erst im Traum geoffenbart werden, findet sich im Buch Daniel …
Im Neuen Testament wird das Wort mysterion praktisch durchweg für sonst nicht zugängliche Offenbarung verwendet, besonders im Zusammenhang der Christologie, bei Paulus und im Epheserbrief vor allem bezogen auf den errettenden Kreuzestod Jesu Christi, daneben auch bezogen auf prophetische Überlieferung. Im synoptischen Corpus erscheint der Begriff nur einmal, mit Bezug auf das Gottesreich, welches Nichtchristen unverständlich bleibe. Im 1. Brief an Timotheus wird bereits von einem „Geheimnis des Glaubens“ gesprochen.
Christliche Theologen aus Alexandrien knüpfen an die Terminologie der Mysterienreligionen an und bezeichnen auch Inhalte christlichen Glaubens als Mysterien; ansonsten wird vor allem das Christusgeschehen so bezeichnet … Martin Luther wählte als Übersetzung des biblischen Begriffs μυστήριον das deutsche Wort „Geheimnis“ …
Der Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto führte in seinem 1917 erschienenen Hauptwerk Das Heilige die komplementären Begriffe Mysterium fascinosum (die Erfahrung religiösen Entzückens) und Mysterium tremendum (das Göttliche als Ursache und Gegenstand ehrfürchtigen Erschauerns) ein, um die – seiner Auffassung nach – grundlegenden Ausprägungen der Erfahrungen von Menschen mit dem Heiligen zu charakterisieren … (Wikipedia, 27.04.2021)
2 M. Eliade, „Das Mysterium der Wiedergeburt“, Insel-Verlag Frankfurt a. M. 1988, Einleitung.
1 Identitäten
Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht,
ein königliches Priestertum,
eine heilige Nation,
ein Volk zum Besitztum,
damit ihr die Tugenden dessen verkündigt,
der euch aus der Finsternis berufen hat
zu seinem wunderbaren Licht.
1. Petrus 2,9
In solche Identitäten, von denen in 1. Petrus 2,9 gesprochen wird, stolpert man nicht einfach dadurch hinein, dass man sich einmal „bekehrt“ hat und nun ab und zu einen Gottesdienst und die Bibelstunde besucht. Aber nicht einmal die aktive Gemeindemitarbeit oder gar der Besuch einer Bibelschule garantieren, dass wir hinterher „königliche Priester“ sind und in der Lage dazu, „die Tugenden Gottes“ zu verkünden, weil wir in sein „wunderbares Licht“ eingetreten sind und dort verwandelt wurden in andere Menschen (eine „heilige Nation“).
Wir setzen heute gemäß unserer Kultur ganz auf Wissen und bilden Gemeinden und ihre Leiter entsprechend kopflastig aus. Sie brauchen keine „Erleuchtung“ bzw. kein „wunderbares Licht“ mehr, keine heilige Erfahrung, sondern gute Noten in Homiletik, Kirchengeschichte und Exegese.
Kaum mehr wird nach Begriffen wie Identität und die dafür notwendige Initiation gefragt. Wir haben in der Folge heute jede Menge Leiter und Mitarbeiter in den Gemeinden, die selber nie in die Dimension des Heiligen, des Königlichen oder der Erwählung eingetreten sind – sie wissen nur etwas darüber, jedoch sind sie es nicht geworden.
Das ist der feine, aber alles entscheidende Unterschied:
Wissen oder Werden.
Um Menschen zu informieren, brauchen wir informierte Leiter, um sie zu initiieren, brauchen wir initiierte Leiter. Um uns mehr Wissen etwa über das „königliche Priestertum“ anzueignen, reicht ein Studium vielleicht aus, aber nicht, um königliche Priester zu werden. Dafür braucht es eine Initiation. Diese geschieht jedoch nicht im Klassenzimmer, sondern ereignet sich „draußen in der Wüste und in den Bergen“ … in der Einsamkeit und Wildnis. In der Wirklichkeit. Die Schrift ist voller Beispiele dafür, wie Gott seine Leute eben dorthin führte, um ihnen zu begegnen, um sie mit sich selbst zu konfrontieren und durch einschneidende, existentielle und heilige Erlebnisse grundlegend zu verändern.
Die großen Veränderungen, nach denen viele Menschen sich so sehr sehnen, geschehen in aller Regel nicht in den gediegenen Wänden einer Gemeinde oder theologischen Ausbildungsstätte, sondern an abgelegenen Orten, wo sie ohne Ablenkung sind und genügend Abstand zum Alltagsgeschäft haben, um zur Besinnung zu kommen und eine direkte Erfahrung mit dem zu machen, der sie „aus der Finsternis ins Licht“ ruft.
Es scheint fast so, als wäre proportional zum angestiegenen theologischen Wissen die Qualität der Identität der Ecclesia (wörtl.: die „Herausgerufene“) in ihren Berufungen und Bestimmungen von Gott her rückläufig.
Sind unsere Verantwortlichen selbst nicht den Weg der Initiation gegangen, sind sie entsprechend auch nicht in der Lage dazu, uns „in die Wüste“ oder „auf den heiligen Berg“ zu führen. Oder sie können nicht erkennen, wann der Heilige Geist einen jeden von uns ruft, aufzubrechen und den Weg der Verwandlung und geistlichen Reife zu gehen.
Natürlich kann man Ämter und Titel nach zweckrationalen Kriterien vergeben, aber das heißt noch lange nicht, dass auch drin ist, was draufsteht. Heute werden Ämter und Titel vorrangig funktional gesehen und entsprechend besetzt. Es geht allenthalben ums TUN und nicht ums SEIN. Wir sind aufgabenorientiert und nicht reifeorientiert. Aber Aufgaben erledigen ist etwas ganz anderes als Jünger sein und den heiligen Weg gehen.
Der bekannte Franziskaner Richard Rohr, der sich Jahrzehnte lang mit der Frage nach einer modernen Form von Initiation für Männer befasste und großartige Bücher darüber geschrieben hat, sagt in einem seiner Werke:
Motiviert zu meiner Arbeit hat mich immer wieder die Traurigkeit und Enttäuschung darüber, dass so viele Männer, die ich kennengelernt habe, kein inneres Leben zu haben scheinen – und das gilt auch für Pfarrer, Ordensleute und engagierte Laien, für hochrangige, erfolgreiche Führungspersönlichkeiten, von denen man eigentlich anderes erwartet. Sie sind daran nicht selbst schuld, wenn es überhaupt um Schuld geht. Niemand hat ihnen je etwas anderes geboten als das billige „Linsengericht“ Jakobs. Wir sind Nachkommen Esaus, wir haben unser Erstgeburtsrecht gegen Fast-Food-Religion eingetauscht (1 Mose 25,29-34). Und diese kann weder das Selbst noch die Welt in ihrer Tiefe fassbar machen.1
Herzensdimensionen
Gnade euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt, und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind, und von Jesus Christus, der der treue Zeuge ist, der Erstgeborene der Toten und der Fürst der Könige der Erde! Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen (Offb 1,4-6).
Nichts was hier steht, kann man aus Büchern lernen oder in einer Bibelstunde abhandeln. Das sind große Dimensionen, die sich unserem analytischen Verstand entziehen und ihn übersteigen. Sie muss man erleben, um sie zu kennen. Und um sie erleben zu können, muss man dafür bereit gemacht, gereinigt und gestärkt und in eine angemessene Haltung gebracht werden. Man muss einem Ruf folgen, aufbrechen, Hindernisse überwinden, einen Weg gehen … Das alles sind klassische Aspekte von Initiation.
Wikipedia definiert den Begriff Initiation folgendermaßen:
Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden (eines Anwärters) in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand, beispielsweise vom Kind zum Erwachsenen, von der Novizin zur Nonne oder vom Laien zum Schamanen.
Die Überführung in einen anderen „Seinszustand“, darum geht es also. Das ist natürlich etwas ganz anderes als die Aneignung von mehr Wissen und abstrakter Theologie. Es geht um eine Einführung in das Ewige und das Heilige, wodurch man fraglos zuerst verwandelt und dann in Dienst gestellt wird, wenn man sich darauf einlässt.
Im Allgemeinen versteht man unter Initiation eine Gesamtheit von Riten und mündlichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesellschaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel haben. Philosophisch gesagt, entspricht die Initiation einer ontologischen (wesensmäßigen, grundlegenden) Veränderung der existentiellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfungen erfreut sich der Neophyt (der Initiand) einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation: Er ist ein anderer geworden.2
In das göttliche Königtum und die ewige Priesterschaft muss man eingeweiht werden, sonst ist das alles nur graue Theorie, die im Alltag keinen Niederschlag findet. Alle genannten Begriffe: bereitgemacht werden, überwinden, sich einlassen, Einweihung … das alles sind Dimensionen und weitere typische Aspekte von Initiation.
In früheren Zeiten war es allgemein üblich, dass ein junger Mann Mentoren hatte; er wurde zur Ausbildung zu Meistern seines Fachs geschickt, bei denen er ganz praktisch in deren Kunstfertigkeiten unterwiesen wurde. Aber mehr noch, lebte er eine Zeit lang mit ihnen zusammen. Er studierte dabei ihr ganzes Sein und besuchte nicht nur ihren Unterricht in Werkkunde. Bis in die Neuzeit hinein war das Ausbildungs-Modell von Jesus allgemein verbreitet: Der Meister und die Schüler, die sich um ihn scharten. Die Schüler wurden dabei vom Meister nicht nur informiert, sondern initiiert. Sie nahmen Teil an seinem Leben und Dienst, seiner Sicht und Handhabung der Dinge, seiner Reife und seinem Geist. Nicht ein Lehrpensum und das Absolvieren von Prüfungen entschieden darüber, ob ein Schüler so weit war, als tauglich und bewährt eingestuft zu werden, fähig, auch andere zu unterweisen, sondern der Meister beurteilte die Qualität und Reife des Schülers. Dabei umfasste die Beurteilung den ganzen Menschen und nicht nur ein Fach.
Denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, aber der Herr sieht auf das Herz (1 Sam 16,7).
Gott prüft das HERZ des Menschen, er schaut hinter die Fassade und in die Tiefe, wo wir die sind, die wir wirklich sind – und wovon wir häufig herzlich wenig wissen. „Herzensbildung“ (Stichwort: „emotionale Intelligenz“) ist heute kein Fach in der Schule, entsprechend haben wir kluge Köpfe mit verkümmerten Herzen.
Das Ziel initiatischer Bildung ist es, einen Menschen an sein tiefes Inneres heranzuführen, ihm einen Spiegel vorzuhalten und zu Selbsterkenntnis und Selbstreflektion zu befähigen. Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gehen Hand in Hand und sind vorwiegend eine Herzensangelegenheit. Dabei spricht das Herz seine eigene Sprache, die nicht dem Intellekt entspricht und darum auch nicht allein mittels Lehrbuch und Seminar vermittelt werden kann.
Das Herz eines Menschen zu erkennen, seine einmalige Art, wie es wahrnimmt, empfindet und die Dinge betrachtet, das ist eine Aufgabe, der unsere verkopften Schulen nicht gerecht werden können; dafür braucht es eine ganz andere Qualität von Lehrern, die natürlich selbst durch Prozesse der Herzensbildung gegangen und darin gereift sein müssen, um nun anderen damit zu dienen. Es braucht „Väter“.