Julius Payer. Die unerforschte Welt der Berge und des Eises

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DER LEUTNANT UND DER GENERAL

Die für Julius Payers Leben alles entscheidende Begegnung war jene mit General Franz von Kuhn (1817–1896). Franz Freiherr Kuhn von Kuhnenfeld hatte 1860 in Trient das Kommando über das 17. Infanterieregiment übernommen. 1862 wurde der ausgewiesene Kenner Tirols Generalmajor und Brigadier. In dieser Position lernte ihn der junge Leutnant Julius Payer kennen. General Kuhn war von 1868 bis 1874 k. u. k. Kriegsminister und reorganisierte mit der ihm eigenen Tatkraft das Wehrwesen der Monarchie. 1873 stieg er in den Rang eines Feldzeugmeisters auf und wurde nach seinem Abschied als Minister Kommandierender General in Graz. 1888 wurde er mit großen Ehren in den Ruhestand verabschiedet.

Die so bedeutende Begegnung zwischen Payer und Franz von Kuhn ereignete sich im September 1864. Payer hatte 17 Tage Urlaub vom Heeresdienst, den er kartografischen Aufnahmen in der Adamello- und Presanellagruppe widmete. Auf dem Rückweg kam er durch Tione und meldete sich vorschriftsgemäß beim örtlichen Kommandanten. Es war ein Major der Jäger, mit dem Payer im selben Regiment gedient hatte und der ihn zur Übernachtung einlud. Am nächsten Morgen verabschiedete sich Payer von seinem Gastgeber und bestieg ein Fuhrwerk, das ihn nach Trient zur Bahn bringen sollte. In letzter Minute eilte der Major herbei, um ihm ein Fässchen mit lebenden Forellen anzureichen. Payer sollte dieses Fässchen seiner Exzellenz General von Kuhn übergeben. Am selben Nachmittag meldete er sich in Trient bei dem General, stellte sich vor und überreichte ihm auftragsgemäß die lebendige Fracht. Der General, hemdsärmelig zivil und ohne Uniform, fragte den Leutnant nach seinem Treiben. Daraus entwickelte sich ein Gespräch, das für Payer weitreichende Folgen haben sollte. Payer skizzierte den Dialog 1909, also Jahrzehnte später, aus der Erinnerung (Müller 1956, S.14):

Kuhn: Was machen Sie hier?

Payer: Ich reise nach Verona und komme vom Adamellogebirge.

Kuhn: Was haben Sie dort gemacht?

Payer: Eine neue Karte.

Kuhn: Waaas? Eine neue Karte? Wo ist sie?

Payer lief in die Unterkunft und holte seine neue Adamellokarte. General Kuhn zog inzwischen seine Uniform mit dem goldenen Kragen an. Payer trug noch immer sein abgetragenes Jägergewand und die festen Bergschuhe mit Nägeln. Er zeigte die Karte vor.

Kuhn: Die haben Sie gemacht? Aus eigenen Mitteln?

Payer: Ja, Exzellenz.

Kuhn: Sind Sie so reich?

Payer: O nein, ich lebe von meiner Gage.

Kuhn: Wie ist das möglich?

Payer: Ich spare. Ich esse Polenta und in den Bergen nur Brot.

Kuhn: Da bewundere ich Sie und bemitleide Sie. Freilich, bei uns hat man für die Wissenschaft kein Geld. Wäre ich Kriegsminister, dann hätten Sie ihre Arbeiten auf Kosten des Staates fortzusetzen und nicht mehr zu darben.

Dabei soll Kuhn seine Hände auf Payers Schultern gelegt haben. Die Forellen wurden auf diese Weise zur Schicksalswende in Payers Leben. Er wählte später drei große Forellen in Silber als Motiv für sein Wappen. General Franz von Kuhn wurde vier Jahre später tatsächlich Kriegsminister. Er berief Payer Anfang 1868 von seinem Regiment ab und bestellte ihn als Generalstabsoffizier zum Militärgeographischen Institut nach Wien. Dessen Direktor, der spätere Feldmarschallleutnant August von Fligely, förderte Payer nach Kräften. General Kuhn schenkte Payer zum Antritt der neuen Stellung einen Theodolit, mit dem er die neuen Karten vom Ortler- und Adamellogebiet entwerfen sollte. Im Jahr 1868 war Julius Payer jetzt in offiziellem Auftrag mit Theodolit und Vermessungswerkzeugen im Ortlergebiet (Martell, Laas und Saent) unterwegs. Kuhn sollte auch später noch Payers Gönner bleiben.

Nach Beendigung der spätsommerlichen Vermessungs- und Erschließungsarbeiten am 17. Oktober 1868 reiste Payer zurück von Pinzolo über Tione, Bozen und Innsbruck nach Wien. Zuhause waren zwei hocherfreuliche Nachrichten eingetroffen. Die Universität Halle hatte ihm aufgrund seiner Verdienste um die Erschließung der Alpen das Ehrendoktorat verliehen. Von seinem Freund und Verleger August Petermann lag ein Brief vor, in dem er ihn in seiner Eigenschaft als Bergsteiger und Topograf zur Teilnahme an der Zweiten Deutschen Nordpolexpedition einlud. Payer war davon begeistert und sagte sofort zu. Zunächst aber blieb er Lehrer für Geschichte an der Militärakademie in Wien. Für seine Teilnahme an der Zweiten Deutschen Nordpolexpedition, die am 15. Juli 1869 beginnen sollte, entband ihn Kriegsminister Kuhn im Januar 1869 von seinen militärischen Dienstpflichten.

KAPITEL 2
ALPINISTISCHE ANFÄNGE: DAS GLOCKNERGEBIET

Wenn einem Alpinisten der Name Payer genannt wird, dann denkt er an die Blütezeit des klassischen deutschen Alpinismus. Waren noch Anton von Ruthner, J. A. Specht und Johann Jakob Weilemann die Bahnbrecher im mittleren 19. Jahrhundert, dann begann mit den 1860er-Jahren die Zeit der großen Erschließer und Bergeroberer. Diese Männer widmeten ihre Tätigkeit einer bestimmten Berggruppe. Mit einer Kette von Bergbesteigungen strebten sie die topografische und wissenschaftliche Erfassung sowie die touristische Erschließung ihres Alpenteils an. Hierzu gehören Namen wie Paul Grohmann und Franz Senn genauso wie die großen britischen Alpenklubisten Francis Fox Tuckett und Douglas William Freshfield. Neben diesen steht Payer in der ersten Reihe des Alpinismus.

Gewissermaßen als Prolog für einen atemberaubenden bergsteigerischen Werdegang machte Julius Payer als junger Leutnant 1862 seine ersten Erkundungen in den zwischen der Stadt Verona und dem Pasubio gelegenen Monti Lessini und am Monte Baldo (Müller 1956, S. 3). Sein erster Gipfel war die Cima Posta (2215 m), gefolgt vom Monte Pasubio (2232 m) und dem Corno d`Aquilio (1545 m), alles eher leichte Unternehmungen. Dennoch beabsichtigte er, diese Besteigungen zu publizieren. Er schickte Skizzen und beschreibende Texte seiner Wanderungen an die „Leipziger Illustrierte Zeitung“ mit Bitte um Abdruck gegen Honorar. Als Antwort musste er lesen, dass sich die Leserschaft nicht für das Gebirge interessiere.

An dieser Stelle zeigt sich jedoch, worauf Payer in der Zeit seines alpinistischen Wirkens Wert legte. Er strebte immer nach öffentlicher Wirkung und Anerkennung. Dabei kam ihm zugute, dass er ein Vielfachtalent war. Dem versierten Bergsteiger gelang es, seine Routen und Besteigungen exakt zu vermessen und kartografisch wiederzugeben. Die Fähigkeit des Zeichnens, vom Vater erlernt und in der Militärausbildung vertieft, ließ ihn allerorten exakte Skizzen und Zeichnungen anfertigen. Die Vermittlung seiner Unternehmungen wäre blass geblieben, hätte er nicht eine Sprache von großer Ausdruckskraft und Humor gehabt, verbunden mit literarischer Qualität. Seine Beschreibungen waren in den wissenschaftlichen Abschnitten sachlich, fachlich ambitioniert und präzise beschreibend. Payer beherrschte die Kommunikation mit seinen Lesern. Bei ihm folgte jeder alpinen Saison umgehend die Beschreibung und Auswertung der Ergebnisse, selbstverständlich unter Vorlage der neu erstellten Karte.


Die Monte Lissini nördlich von Verona. Bleistiftskizze Payers, 1863 (Unbekannt)


Corno d‘Acquilio, von Fosse (Sant‘Anna d’Alfaedo) aus gesehen, 1863 (Lehner 1920)

Einen Urlaub vom Heeresdienst im Jahre 1863 nutzte er, jetzt in Venedig stationiert, erstmals zu größeren alpinen Unternehmungen. Am 14. September 1863 bestieg Payer von Kals aus, in Begleitung der Führer Joseph Schnell nebst Hund und Peter Hutter, nach einer schwierigen Bergwanderung den Gipfel des Großglockners (3798 m). Er wählte eine außergewöhnliche Route, die mit einigen Schwierigkeiten verbunden war. Im selben Jahr bestieg er den Großvenediger (3662 m) und den Ahrnerkopf (3051 m). Die Laufbahn des Alpinisten Julius Payer hatte begonnen.

Nach erfolgter Großglocknerbesteigung wandte sich Payer durchaus unbescheiden an August Petermann (1822–1878), den führenden Geografen seiner Zeit. Petermann hatte 1855 eine eigene Zeitschrift, die „Mittheilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie“, kurz „Petermanns Geographische Mittheilungen“ (PGM), begründet. Sofort stieg die Publikation zur bedeutendsten geografischen Zeitschrift der Welt auf. Petermanns besondere Anliegen waren die Erforschung Afrikas und der Polargebiete. Es sprach für Payers publizistischen Ehrgeiz, seine Beschreibungen ausgerechnet an dieser Stelle gedruckt sehen zu wollen. Petermann nahm das Ansinnen an. Er konnte offenbar in den textlichen Schilderungen und den topografischen Leistungen des 22-jährigen Leutnants der Infanterie das Potential für eine künftige Bergsteigerlegende erkennen.


Großglockner mit Besteigungsroute (PGM 1864)


Detailzeichnung der Glocknerspitze (PGM 1864)

 

Großvenediger, Bleistiftskizze 1863 (Steinitzer 1924)

Payers Erstlingsaufsatz trägt den Titel: „Eine Besteigung des Gross-Glockner von Kals aus, im September 1863“. Er erschien im Umfang von elf zweispaltig bedruckten Seiten in den „Geographischen Mittheilungen“ des Jahres 1864. Zum Aufsatz gehörte eine Tafel mit fünf Ansichten und einem Übersichtskärtchen. Damit befand sich Payer bereits auf dem Olymp der geografischen Publizistik. Denn in dieser Zeitschrift waren auch epochale Entdeckungen wie die Erreichung Timbuktus durch Heinrich Barth oder die Entdeckung des Victoria-Sees durch John Speke erstmals publizistisch aufgearbeitet worden. Auch Payer sollte binnen eines Jahrzehnts eine Vielzahl von Berichten über die Entdeckung neuer Berge, Länder und Meere in der angesehenen Zeitschrift unterbringen.

Voller Dankbarkeit nannte Julius Payer später August Petermann seinen „Civil-Protektor“, neben seinem militärischen Protektor General Kuhn. Petermann öffnete ihm die Tür zur wissenschaftlichen Geografie. Er druckte wohlwollend alle weiteren alpinen Ergebnisse und Beobachtungen seines Schützlings. Und Petermann war es auch, der Payer 1868 die Teilnahme an einer arktischen Expedition vermittelte: ein für das Leben Payers bedeutendes Ereignis. In seinen späteren Jahren wies Payer immer wieder darauf hin, dass er seine alpinen und polaren Erfolge maßgeblich, wenn nicht ausschließlich, seinen beiden Protektoren Petermann und Kuhn zu verdanken habe. Payer war auf seine Leistung im Gebiet der Glocknergruppe mehr als nur stolz. Entsprechend begann er seinen Aufsatz weit ausholend und mit pompösen Worten:


Dreiherrnspitze vom Ahrner Kopf, Bleistiftskizze auf Sepiapapier mit weißer Lasierung 1863 (Lehner 1924)

„Allen Hindernissen trotzend treibt der Forschungs- und Wissenschaftsdrang den Menschen in immer neue unbekannte Gebiete unseres Erdballs; bald wird es keinen undurchsuchten Winkel der Meere und Länder mehr geben. Unbefriedigt, nur etwas und nicht alles zu wissen, durchschifft der kühne Seefahrer die Polar-Meere, durchzieht der Reisende die brennenden Wüsten Afrika’s wie die endlosen Urwälder Amerika’s, besteigt die höchsten Gebirge, um entweder durch die Krater in die Eingeweide der Erde zu blicken oder auf Gletscher-Wanderungen der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen und aus dem Baue und der Beschaffenheit der kolossalen Erdgerüste die Art ihrer Entstehung und Bildung, überhaupt das ‚Werden‘ zu errathen. Und überall, wohin die Märtyrer der Wissenschaft die Pfade getreten, folgen die anderen nach, diesen und nicht jenen fällt der Nutzen in den Schooss.“


August Petermann, Initiator der deutsch-österreichischen Polar-Expeditionen (Holzstich F. Berger)

Dieser Auftakt von Payers wissenschaftlicher Publizistik beschreibt sein persönliches Programm. Er wollte noch verbliebene neue Gebiete der Erde entdecken, bevor es keine mehr gab. Im Kopf saß unverrückbar John Franklin, das Idol seiner Jugendlektüre. Aber voran stand das Näherliegende, die Besteigung hoher Berge und Wanderungen über die Gletscher. Es sollte sich zeigen, dass bei Payer die Durchschiffung der Polarmeere der Erforschung eines Alpengebietes folgte.

Im Anschluss auf seine ambitionierte Einleitung kam Payer auf die Schönheit der Alpen im Allgemeinen zu sprechen, um schließlich beim Gegenstand seines Aufsatzes, der Großglockner-Gruppe, anzukommen. Payers gute und genaue Schilderung beginnt mit einem geografischen Überblick des gesamten Glocknerstocks. Er erörterte die Geologie dieses Alpenteils und beschrieb die verschiedenen Routen auf den Gipfel. Seinen eigenen Aufstieg schilderte er lebhaft und plastisch, ja geradezu packend und sprachlich anschaulich. Dieser Bericht und die Skizzen dürften August Petermann gefallen haben, der in Payer den guten Zeichner und Topografen erkannte. Hinzu kam sein lebhafter literarischer Stil. Petermann ermutigte den jungen Leutnant, sich noch intensiver der Erforschung der Hochalpen zu widmen (Müller 1956, S. 3f.). Petermanns vielfach erprobte Motivationskunst brachte es auch in diesem Fall zustande, dem zukünftigen großen Entdecker alpiner Gipfel und polarer Landschaften den Weg zu weisen.

KAPITEL 3
ADAMELLO UND PRESANELLA (1864 UND 1868)
PAYERS ERSTE KARTIERUNGSKAMPAGNE 1864

Vor seinem Aufenthalt im Glocknergebiet hatte Payer im April 1863 eine Wanderung durch das Val Genova unternommen. Weit kam er nicht, weil abgegangene Lawinen das Tal an mehreren Stellen versperrten. Im folgenden Jahr untersuchte Payer die Adamello- und die Presanella-Gruppe. Diese beiden Gebirgsmassive werden durch das Val Genova getrennt, in dem die Sarca fließt. Das gesamte Gebiet war generell wenig erforscht und auch kartografisch kaum erfasst. Die höheren Regionen wurden von der örtlichen Bevölkerung weitgehend gemieden, da sich dort nur unwirtliches Land befand. Die Namengebung war widersprüchlich und steckte noch in den Anfängen. Viele Pässe und Gipfel trugen bis zu diesem Zeitpunkt keine Bezeichnungen und waren teilweise nie begangen worden.

Die ersten Schritte zur Erschließung unternahmen Anton von Ruthner, Carl Sonklar von Innstädten, John Ball und Albert Wachtler, etwa zeitgleich mit Payer, in den Jahren 1862 bis 1864. Wenige Tage vor Payer gelang Douglas William Freshfield die Erstbesteigung der Presanella. Doch die gründliche und systematische Beschreibung und Erforschung dieses schönen Ostalpengebiets blieb Payer vorbehalten, der dabei zahlreiche Erstbesteigungen durchführte. Es war überhaupt nur ein einziger einheimischer Bauer und Jäger namens Gerolamo Botteri (1812–1887), ein großer Mann von 50 Jahren, in der Lage, Payer Orientierung und Führung zu bieten. Und auch dieser war störrisch und eigenwillig wie so viele Begleiter in diesem Gebiet. Als Arbeitsmaterial verfügte Payer tatsächlich nur über einen Kompass und einfache Winkelmesser. Seil und Eisaxt standen nicht zur Verfügung, die fehlende Ausrüstung ersetzte Payer durch Mut und Tatkraft. Die Höhen schätzte er zunächst nur ein.

Die Gletscherlandschaft des Adamello übte auf Payer eine besondere Faszination aus. Die Gletscher lagen wie eine Polarlandschaft mit völliger Abwesenheit organischen Lebens vor ihm, vor Sonnenaufgang von schneidender Kälte durchzogen. Das Krachen und Bersten der Gletscher, der Wechsel des Erstarrens und Abschmelzens, faszinierten ihn. Ebenso das Zusammenspiel dieser Gletscherwelt mit den kolossal auftretenden Granitmassen. Dem größten Ferner des Adamello, der Vedretta del Madron, widmet er eine längere Betrachtung:

Der Gebirgszug der Presanella-Kette weicht deutlich vom Adamello ab. Hier fehlen die kolossalen Eismeere und hohen Gletscherplateaus. Auffallend bei der Presanella ist seine enorme Steilheit mit zackigen klippigen Kämmen, scharfen Vorsprüngen und raschen Abfällen. Das dazwischen gelegene Val di Genova vereint, so Payer, nahezu alle Erscheinungen der großartigsten Alpennatur.

Von Trient kommend, überquerte Payer zunächst die Brenta-Dolomiten. Am 4. September hatte Payer den Übergang über die Bocca di Brenta ausgeführt und kam nach Pinzolo am Ausgang des Val Genova. Dort organisierte er die Vorräte für mehrere Tage, vor allem Polentamehl, aber auch Brot, Käse, Salami, Kaffee, Zucker und Reis. Auf jeder Unternehmung führte Payer Branntwein und Wein in größeren Mengen mit sich. Die ansehnlichen Vorräte an geistigen Getränken wurden meist am späten Vormittag auf den Pässen und Gipfeln ausgetrunken. Die Abstiege geschahen aus diesem Grund mit einer Heiterkeit und manchmal auch einer Unvorsichtigkeit, die heute sehr erstaunt.

Von Pinzolo aus brach Julius Payer am 7. September mit den aus Strembo stammenden Führern Gerolamo Botteri und Giovanni Catturani auf, um den Adamello zu besteigen. In der Botteri gehörenden Malga Muta (einer Art Sennhütte) wurde ein Seil improvisiert, indem man mehrere kleine Stricke auf 35 m zusammenband. Hier verbrachte man auch die erste Nacht. Der Almknecht Antonio Bertoldi, genannt „Der Bär“ („Orso“), transportierte die Vorräte zur Malga Fargorida, wo erneut Nachtlager gehalten wurde. Der „Bär“ sollte auch auf den weiteren Bergtouren als Träger dienen. Nach verspätetem Aufbruch überstiegen sie den Passo delle Topette und standen vor dem Lobbiaferner. Da es zur Besteigung des Adamello schon zu spät war, bestieg Payer von Osten die nördliche Spitze des Dosson di Genova (3441 m), mit schwindelerregendem Blick auf den Mandronferner. Zurück über den Lobbiaferner passierten die Bergsteiger den Passo della Lobbia alta (3015 m) und rutschten hinab auf den Mandronferner. Der lange Abstieg zum Baito Mandron, einer winzigen verlassenen Hütte, geschah unter ständiger Auseinandersetzung mit seinen beiden italienischen Begleitern, was Payer grimmig-humorvoll beschreibt.


Ansicht von Molveno/Malfein, Bleistiftskizze 1864 (Lehner 1924)

Am Vormittag des 9. September zogen es Botteri und Catturani vor, sich der Gemsenjagd zu widmen und weigerten sich, Payer zu folgen. Also kletterte er allein, in lebensgefährlicher Steilheit, „reich an wahrhaft furchtbaren Einzelheiten und peinlichen Momenten“ und mit zitternden Gliedern auf den Corno di Lago Scuro (3166 m) und stand gegen 12 Uhr mittags auf dem Gipfel. Zwei der Führer kamen später noch nach. Sie traten den Abstieg über Bedole zur Malga Muta an, wo sie abends um 20.15 Uhr ankamen. Schon um 4 Uhr morgens standen sie auf und gingen, gezeichnet von den Anstrengungen, zurück nach Pinzolo.

Am 12. September ging Payer zur Malga Muta im Genovatal zurück und verharrte dort zwei Tage wegen schlechten Wetters. Am 14. September ging er mit den Führern zum Baito Mandron, um die Besteigung des Adamello in Angriff zu nehmen. Schon um drei Uhr morgens in der Dunkelheit brachen sie auf, um am folgenden 15. September den Adamello zu bezwingen. Das Frühstück bestand aus Polenta und Wein. Nach längerem Marsch über den Mandrongletscher bestiegen sie um 9 Uhr morgens zuerst den Corno Bianco (3477 m), den Payer zunächst für den Adamello hielt. Auf dem Gipfel offenbarte sich der Irrtum, denn der Adamello befand sich in Form eines steilen Eishorns noch zwei Einschnitte vom aktuellen Standpunkt entfernt. Unter Jubel erreichte Payer um 11.15 Uhr die Spitze des Adamello (3559 m) und genoss bei strahlendem Sonnenschein eine Aussicht von unendlicher Großartigkeit.


Passo della Lobbia Alta, von Payer am 8. September 1864 erstbegangen (F. Berger)

Die Eiswelt der Ortlergruppe lag vor seinen Augen und zog ihn unwiderstehlich an. Gegen Westen reichte die Sicht bis zum Großglockner und zum Monte Rosa. Nach knapp zwei Stunden, angefüllt mit topografischen Arbeiten, begann der Abstieg. Abends um 19.30 Uhr langten sie im Baito Mandron an. Die gesamte Besteigung hatte 151/2 Stunden in Anspruch genommen. Der 16. September sah den Abstieg ins Tal mit Entlassung und Bezahlung des „ungeschliffenen, unnützen“ Giovanni Catturani.


Vedretta del Mandron mit Corno Bianco, von Payer am 14. September 1864 auf dem Weg zum Adamello begangen (F. Berger)


Gipfel der Presanella, von Payer am 17. September 1864 als Zweiter bestiegen (F. Berger)

Nach kurzem Essen, Trinken und Reinigen erfolgte bei gutem Wetter bereits der Aufstieg Richtung Presanella bis zur zweiten Rocchetta-Hütte, die ebenfalls Botteri gehörte. Gehemmt durch Regen, brachen die Bergsteiger am 17. September erst um 8 Uhr zum Passo Scarazon delle Rocchette auf und sahen dahinter ins Nardistal hinab. Dieses durchquerend erstiegen sie mühsam den Monte Bianco. Witterung und Eishänge setzten den Führern stark zu, so dass Payer sie nur mit äußerster Mühe überreden konnte, weiterzugehen. Einige anspruchsvolle Felsen und eine Schneeschlucht trennten Payer noch von der Cima Presanella (3558 m), deren Gipfel um 15.15 Uhr bezwungen war.

 

Payer glaubte, die Presanella als Erster bestiegen zu haben, eine Hoffnung, die ein Steinmann zerstörte, der in einer Flasche zwei Visitenkarten enthielt. Die Engländer Richard Melvill Beachcroft, James Douglas Walker und Douglas William Freshfield nebst ihren Führern François Devouassoud und Vermiglio Bartolomeo Delpero hatten darauf notiert, dass sie die Presenella am 25. August 1864, also vier Wochen vor Payer, bestiegen hatten. Auch Payer steckte ein kleines Fläschchen in dieselbe Steinfigur, seinen und Botteris Namen enthaltend. Generell schätzte Payer die Besteigung der Presanella als weniger gefährlich als die des Adamello ein. Der Abstieg zusammen mit dem ob seiner Leistung stolzen Botteri erfolgte nahezu im Laufschritt und bereits im Dunkeln. Erst um 21.30 Uhr abends kamen sie zur Brücke an der Malga Muta im Genovatal.

Mit einer heftigen Entzündung an beiden Augen musste sich Payer hier erst einmal ausruhen. Eine Besteigung des Carè Alto am 18. September fiel krankheitshalber aus. Am 20. September verabschiedete sich Payer von dem am Ende doch zuverlässigen und redlichen Botteri und seiner Familie, schenkte dem „Bären“ seine defekte Hose und stieg hinab nach Pinzolo. Am nächsten Tag besuchte er noch den Nardis-Fall und Carisolo. Am 25. September trat Payer wieder den Dienst in seinem – wie er sich ausdrückte – „Steppen-Fort“ an der Brenta-Mündung an, dessen Räume ihm jetzt weniger gefielen als die kalten Steine am Mandronferner.

Im Heeresdienst im Lagunenfort von Choggia hatte Payer die Muße, seine Messungen und Zeichnungen auszuwerten. Sofort machte er sich an die Arbeit. Die Ergebnisse der 1864 erfolgten Aufnahmen der Adamello- und Presanellagruppe mit einer Karte im Maßstab 1:56.000 erschienen bereits 1865 im Ergänzungsheft 17 der „Geographischen Mittheilungen“ zu Gotha. Die großen Erfolge in der Adamellogruppe regten Payers Tatkraft mächtig an. Fortan richtete er seine Schwungkraft und Energie auf den Ortler. Eisern sparte er, um mit geringen Mitteln und knapp bemessener Zeit möglichst umfassend und präzise dieses Gebiet zu erschließen. Die Sommer der folgenden vier Jahre 1865 bis 1868 verbrachte er am Ortler, der Payers zweite Heimat werden sollte.

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