TOD IN DER HÖHLE

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TOD IN DER HÖHLE
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FRANCISCO J. JACOB





TOD IN DER HÖHLE





Roman











Foto: Manuel Jacob





Francisco J. Jacob ist in Spanien geboren. Der Diplomingenieur war für langer Zeit in der Automobilindustrie leitend tätig. Nach insgesamt vierzig Jahren Technik zog er sich aus dieser Branche zurück.



Mit dem Erstlingswerk ›TOD IN DER HÖHLE‹ folgt er jetzt seiner Leidenschaft Bücher zu schreiben. Er liebt es, sich komplexe Kriminalgeschichten auszudenken, die unverwechselbar mit Spannung, Humor und mit viel Lokalkolorit versehen sind.



Francisco J. Jacob lebt mit seiner Familie in München.










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FRANCISCO J. JACOB



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www.facebook.com/franciscoj.jacob.Autor







3. überarbeitete Auflage



Taschenbuchausgabe Oktober 2019



© Copyright der Originalausgabe 2016 Francisco J. Jacob



Umschlaggestaltung: Manuel Jacob

www.manueljacob.net



Druck und Verlag: epubli





Francisco@franciscojjacob.com





ISBN 978-3-7418-1870-7




Für meine Familie




Vor ewig langer Zeit verließ ich mein Geburtsland. Mit den Jahren wuchs die Sehnsucht nach der Heimat meiner Kindheit. Ein brennendes Bedürfnis ließ mich nach vier Jahrzehnten zurückkehren - zurück in die nordspanische Kleinstadt Ribadés, welche zwischen dem Kantabrischen Gebirge und dem Atlantischen Ozean eingebettet liegt.





Ich lade Sie ein, auf eine malerische sowie faszinierende Reise in meine Vergangenheit an die Costa Verde. Dort, wo ich einige meiner einstigen Schulfreunde finden und mit ihnen Wiedersehen feiern konnte, hatten wir gesellige Erlebnisse. Als ich unverhofft in einen komplexen Mordfall verstrickt wurde, begann es aufregend zu werden.





Seien Sie gespannt auf die eindrucksvolle Umgebung, in der ermittelt wird, auf die regionalen Bräuche Asturiens und auf etwas Spanisch, das humorvoll aufgenommen werden sollte.





Diego Lesemann




1









Die Ankunft





Nicht eine einzige Wolke trübte die klare, weit reichende Sicht. In der Ferne war zu sehen, wie Teile des Atlantischen Ozeans am

Golfo de Vizcaya,

 beziehungsweise am

Mar Cantábrico

 - wie die See an der Nordküste Spaniens genannt wird - schäumend an der Küste verenden.



Zutiefst genoss ich den Augenblick, der allmählich an mir vorüberzog. Es war einer dieser Momente, bei denen man in Spanien sagt ›

La vida se vive en momentos‹

, was übersetzt so viel bedeutet wie ›Das Leben lebt man durch die Augenblicke‹, oder besser ›Den Moment erleben‹.



Die Wellen schlugen entschlossen gegen die schroffen Felsen und bildeten diesen weißen Schaum, der sich überallhin verteilte, um sich letzten Endes wieder aufzulösen. Ich sah den idyllischen Strand mit lang gestreckten Sandflächen. Urplötzlich, mittendrin, standen einzelne Felsen unterschiedlicher Größe, welche wohltuenden Schatten spendeten. Vereinzelt waren bunte Sonnenschirme sowie Badetücher platziert, die dem romantischen Naturbild farbige Tupfer verliehen. Landeinwärts folgten saftige Wiesen, reife Felder und begrünte Hügel. Derart erlebte ich wieder die

Costa Verde

, die Grüne Küste Spaniens.



Im Hintergrund erschienen gleichzeitig die Berge. Davor erhob sich allmählich die große Stadt, die von einem Fluss geteilt wird, der sich nach Norden fließend ins Meer ergießt. Dort lagen die Fähren vor Anker, die in Richtung Portsmouth in England fuhren. Und letztlich sah ich das Glitzern der silbernen Fassaden und Dächer, die vom Sonnenlicht angestrahlt wurden - das war das Guggenheim-Museum, das war Bilbao.



Zehn Jahre war es her, seit unserer letzten Reise nach Spanien. Gemeinsam mit unseren Kindern hatte es uns in den Süden geführt.



Zweiundfünfzig Jahre waren jedoch vergangen, seitdem ich in Gijón geboren war. Und vor vierzig Jahren siedelte ich mit meiner Familie nach Deutschland um.





Ein krachendes Geräusch holte mich aus meinem Tagtraum heraus. Das Fahrwerk des Flugzeugs war ausgefahren worden. Wir setzten zur Landung an.



Während ich weiterhin die Sicht aus dem Kabinenfenster genoss, drückte mir Hellen zärtlich die Hand. Sie saß entspannt neben mir und hatte ihre Augen noch vom Schlaf geschlossen.



»Sind wir schon da?«, fragte sie etwas benommen.



»Wir werden gleich in Bilbao landen.«



»Freust du dich, nach dieser langen Zeit wieder nach Ribadés zu kommen?«



»Oh ja!«, sagte ich voller Überzeugung.



Nach vierzig Jahren wieder in die Kleinstadt zu reisen, in der ich meine Kindheit bis zum zwölften Lebensjahr verbracht hatte, war mehr als aufregend für mich. Ja, ich freute mich. Diese Reise hatte im Grunde Jubiläumscharakter. Vierzig Jahre! Es war allerhöchste Zeit! Bei dieser Gelegenheit wollte ich einige meiner ehemaligen Schulkameraden suchen. Der eine oder andere müsste doch noch in Ribadés wohnen.



»Wann werden wir in Ribadés ankommen?«, fragte Hellen.



»Ich schätze in zwei bis drei Stunden. Es kommt darauf an, wie lang die Schlangen sind.«



»Welche Schlangen?«, fragte sie überrascht.



»Du weißt schon, die vor der Passkontrolle, vor der Gepäckabholung und vor dem Counter der Leihwagenfirma.«



Hellen nickte gelassen, drückte sich sanft an mich und schaute mit mir aus dem Kabinenfenster.



Ebenso war ich daran interessiert zu erfahren, was aus den ehemaligen Schulfreunden geworden war. Ob sie sich verändert hatten? Ich wollte wissen, wie sie lebten, welche Berufe sie ergriffen hatten, ob sie verheiratet waren, und wenn ja, mit wem. Es hing sicher mit dem Alter zusammen, dass mich das nun interessierte, denn früher hatte es das überhaupt nicht. Früher hatte ich wegen der 70-Stunden-Wochen schlicht keine Zeit dazu gehabt.



»Ich hoffe, dass du einige deiner ehemaligen Schulfreunde findest. Ich würde sie gerne kennenlernen«, sagte Hellen liebevoll.



»Wir gehen am besten ins Rathaus. Im Einwohnermeldeamt kann man uns mit Bestimmtheit weiterhelfen.«



»Hast du irgendwelche Namen?«



»Ja, sicher! An zwei kann ich mich noch gut erinnern und die anderen werden sich daraus ergeben. Nach dem Motto ›Einer kennt den anderen‹ und so weiter«, erklärte ich.



Hellen ist meine Ehefrau. Wir haben oft gemeinsame Reisen unternommen und dabei viel Spannendes und Interessantes erlebt. Bei dieser Reise aber stand ein gewisses Vorhaben im Mittelpunkt: Ich wollte in meine Vergangenheit Reisen und alte Erinnerungen aufleben lassen. Hellen hoffte wiederum, etwas Bemerkenswertes zu entdecken, um es zu fotografieren, da sie eine ausgebildete und leidenschaftliche Fotografin ist.



Hellen ist mittelgroß, sehr attraktiv, hat kurzes, braunes Haar, ist klug, sympathisch und in meinem Alter. Sie liebt genau wie ich eine modische Eleganz, die für sie von jeher ganz natürlich war. Und sie treibt gern Sport. Sich um die Familie zu kümmern, liebt sie allerdings am meisten.





Das Flugzeug landete, wir stiegen aus und bereits nach kurzer Zeit standen wir in der ersten Schlange, vor der Passkontrolle. Vor uns stand eine kleine, ganz in Schwarz gekleidete, in etwa siebzig Jahre alte Frau, die zitternd ihre Dokumente in der Hand hielt. Hellen und ich waren im Gespräch vertieft, als jemand laut durch die Halle schrie.



»

¡Alto!«

 (Halt!)



Überrascht drehten wir uns alle in die Richtung, aus der die Stimme kam. Zwei Polizisten der

Guardia Civil

, der spanischen paramilitärischen Polizei, verfolgten einen Mann mit einen Rucksack in der Hand. Sie rannten quer durch das Gebäude.



»Stehenbleiben!«, schrie erbost einer der Beamten wiederholt.



Am Ende der Halle kamen zwei weitere Polizisten dazu. So wurde der Flüchtende gestellt. Einer der Beamten keuchte fürchterlich und fluchte laut, bevor er den Delinquenten abführte.



Die alte Dame vor uns drehte sich prompt um und sagte nervös zu uns:



»

Seguramente es uno de la ETA«

, und meinte, dass es sicher einer von der

ETA

 sei, der baskischen Untergrundorganisation.



Hellen sah mich verwundert an.



»Glauben Sie wirklich?«, fragte sie die alte Dame.



Die kleine Frau stampfte mit einem Fuß energisch auf den Boden.



»

¡Naturalmente!«

, sagte sie aus voller Überzeugung.



»Passiert das oft hier?«, fragte ich.



»

Síííí«

, erwiderte sie mit einem lang andauernden Kopfnicken und einer schrecklich ernsten Mimik.



Dann drehte sie sich prompt wieder um.



»Das fängt ja gut an!«, flüsterte Hellen leise mir zu.



»Hast du Fotos geschossen?«, fragte ich sie.



»Nein! Das ging alles so schnell«, sagte sie enttäuscht.



»Schade.«



Die Warteschlange setzte sich langsam wieder in Bewegung. Als die alte Dame vor uns zu einem freigewordenen Schalter der Passkontrolle abbog, sprach uns ein kleiner stämmiger Mann mit Baskenmütze an. Er war sicher über sechzig und hatte ein mit Falten zerfurchtes Gesicht. Mit seiner verschlissenen Cordjacke und weiten Hosen, die enormes Hochwasser aufwiesen, war er recht rustikal gekleidet.

 



»¡La vieja está loca!«

, sagte er griesgrämig und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Die Alte spinnt! Die

ETA

 gibt´s doch gar nicht mehr«.



»Wirklich?«, fragte ich.



»

¡Naturalmente!

 Das war ganz bestimmt nur ein kleiner Taschendieb. Machen Sie sich da keine Sorgen.« Sagte er und winkte ab.



»Und der Rucksack?«, wollte ich wissen.



»Was ist mit dem Rucksack? Glauben Sie, da war ’ne Bombe drin?«



»Wieso nicht?«, fragte ihn Hellen beunruhigt.



Er sah sie mit seinen großen braunen Augen an, die unter den buschigen Augenbrauen hervortraten.



»’Ne Bombe kann man ja auch in eine Handtasche stecken«, sagte er aufgeregt und zeigte auf die Ihre.



Hellen und ich sahen uns an und verstanden seine Logik.



»Lass uns weitergehen«, sagte ich und zog sie an der Hand zum frei gewordenen Schalter der Passkontrolle.



Ein äußerst eitel aussehender Beamter mit Oberlippenbärtchen erwartete uns. Sitzend stützte er beide Ellbogen auf den Tisch ab und hielt einen Bleistift waagerecht zwischen beiden Händen. Den drehte er mit den Fingern einmal linksherum und einmal rechtsherum.





»Hast du gesehen, wie arrogant mich dieser Mensch bemustert hat?«, sagte ich missgelaunt zu Hellen, nachdem wir die Passkontrolle hinter uns gelassen hatten.



»Du weißt, wie ich dieses Autoritätsgetue hasse!«



»Hast du ihm das eventuell gezeigt?«



»Ja, schon möglich!«, entgegnete ich verärgert. »Wieso fragt er mich, ob ich in Gijón geboren bin? Das steht doch in meinem Pass!«



»Er hat bestimmt nicht verstanden, dass du in Spanien geboren bist, wie ein Spanier sprichst, wie ein Spanier wirkst und trotzdem einen deutschen Pass hast - und auch noch besser aussiehst als er.«



Hellen lächelte mich an und ich wusste sofort, dass meine Verärgerung völlig unnötig gewesen war.





Als Nächstes standen wir in der Schlange der Leihwagenfirma, die zum Glück nicht allzu lang war.



»Was für ein Auto wollen Sie?«, fragte uns der Herr am Schalter mit tiefer Stimme.



Der Mann war um die vierzig, hatte einen kahl rasierten Kopf und die Statur eines Wrestlers. Seine Anzugjacke spannte gehörig um den Bauch. Außerdem schwitzte er beträchtlich und atmete schwer.



»Am besten einen wie ich ihn reserviert habe«, antwortete ich respektvoll.



Ich zeigte zugleich auf die Dokumente, die ich ihm auf den Tresen gelegt hatte. Er las träge und führte seinen Zeigefinger langsam über die Zeilen. Der Schmutz unter dem Fingernagel kam dabei zur Geltung.



»

¡No!

«, sagte er kopfschüttelnd. »So ein Auto haben wir nicht mehr!«



»Was bieten Sie uns dann an?«



»Was wollen Sie haben?«, fragte er schwerfällig zurück.



Ich schaute Hellen an und dachte, warum solch ein einfältiger Mensch hinter dem Counter einer Leihwagenfirma stehen konnte, an dem täglich beschäftigte Leute ihre Fahrzeuge abholten und mit Sicherheit keine Zeit hatten, mit ihm Auto-Quartett zu spielen. Er mochte gewiss die Fahrzeuge hin- und herfahren oder sie volltanken. Er konnte mit Sicherheit auch einen Wagen mit leerem Tank allein an die Tankstelle schieben, aber hinter einem Counter war er definitiv fehl am Platz.



Die Antwort auf meine Fragen kam sogleich sprichwörtlich durch die Tür geschwebt. Sie war um die dreißig, schlank und sehr sympathisch. Sie trug eines dieser figurbetonten roten Kostüme, wie sie von Stewardessen getragen werden, mit einem kleinen Namensschild auf Höhe der linken Brust. Sie hieß Tamara. Sie sprach kurz mit ihrem Kollegen oder was auch immer dieser Bursche war, dann übernahm sie die Papiere.



»

¡Buenos días!

«, sagte sie mit charmanter Stimme. »Das Auto, das Sie gebucht haben, haben wir leider nicht mehr. Auch nichts anderes in der Klasse. Darf ich Ihnen ein Upgrade anbieten?«



Da ich von ihrem Anblick entzückt war, brauchte ich etwas Zeit zum Reagieren.



»Ja, natürlich!«, antwortete Hellen spontan, da sie meine Reaktion, besser gesagt, meine Untätigkeit bemerkt hatte.



»Selbstverständlich tragen wir die Mehrkosten«, ergänzte Tamara charmant.



»Ja …, welchen Wagen können Sie uns anbieten?«, fragte ich dann engagiert und lächelte Hellen zu.



»Wir haben einen BMW 535i Automatik mit Navigation oder einen …«



»Das ist sehr entgegenkommend von Ihnen, den nehmen wir«, unterbrach ich sie und dachte sofort an den 6-Zylinder Turbo Motor mit circa dreihundert PS.





Draußen brütete die Septemberhitze. Ich setzte meinen Panamahut auf. Wir gingen mit unserem Gepäck zur Fahrzeugabholung auf den großen Parkplatz. Da er nur teilweise überdacht war, suchten wir schnell Schutz vor der heißen Sonne.



»Die junge Dame hat aber großen Eindruck auf dich gemacht«, sagte Hellen grinsend.



»Was meinst du?«, mimte ich den Ahnungslosen.



Ich wusste, dass sie früher oder später eine derartige Bemerkung fallen lassen würde. Wir kannten uns glückliche dreißig Jahre.



»Ich meine Tamara!«



»Ach, die Dame am Counter«, sagte ich mit gleichgültiger Mine.



Liebe Güte! Der Kontrast hinter dem Ladentisch hätte wahrlich nicht auffallender sein können: Zuerst der einfältige Gorilla und dann solch ein Engel.



Die heiße Luft flimmerte wellenartig über den Asphalt. Unser Wagen wurde vorgefahren. Den Fahrer in der schwarzen Limousine erkannte ich sofort wieder.



»Das ist ja der Gorilla vom Counter«, entfuhr es mir.



»Wieso nennst du ihn Gorilla?«



»Ist mir soeben eingefallen. Komm, lass uns die Koffer einladen«, sagte ich, um das Thema zu wechseln. »Ich bin froh, wenn wir die Klimaanlage einschalten und endlich losfahren können.«



»Aber fahre bitte langsam!«, bat sie mich vorsorglich, wie immer.



»Ich werde mir Mühe geben«, erwiderte ich, wie immer.



Hellen kannte meinen Fahrstil. Als ehemaliger Diplomingenieur in der Automobilentwicklung war ich in den Genuss gekommen, diverse Fahrertrainings auf Teststrecken zu absolvieren.





Zunächst fuhren wir zum Guggenheim-Museum. Wir rollten langsam daran vorbei, um so viel wie möglich aufzusaugen. Während der Fahrt bewegten sich unsere Köpfe mit Blick zu dem imposanten Bauwerk hin und her sowie auf und ab.



»Es ist schon fantastisch, was Frank Gehry hier hingestellt hat«, sagte ich und war von dem Anblick äußerst imponiert.



Wir fuhren langsam weiter. Hinter uns fing ein Wagen an zu hupen. Im Rückspiegel sah ich den Fahrer, der wild mit den Händen gestikulierend schimpfte.



»Ja, das stimmt«, sagte Hellen unbeeindruckt von den Hupgeräuschen. »Und neben diesen genialen Architekten hat Bilbao ebenso andere Künstler für sich gewinnen können.«



»So?«



»Jaaa!«, antwortete sie. »Für das Metro-System ist Norman Foster verantwortlich.«



»Du meinst

Sir

 Norman Foster«, bemerkte ich mit erhobenem Zeigefinger und zwinkerte ihr zu.



»Oh, selbstverständlich!

Sir

 Norman Foster.«



»Da! Siehst du? Da ist ein

Fosterito

!«, sagte ich und zeigte auf den breiten Bürgersteig.



»Was ist denn das?«



»Die muschelförmigen, aus Glas bestehenden Eingänge der Metrostationen werden nach dem eben genannten

Fosteritos

 benannt.«



Es gefiel uns, durch Bilbao zu fahren und uns über die architektonischen Perlen lustig zu unterhalten.





Wir verließen diese großartige Stadt und fuhren auf die

Autovía del Cantábrico

, der Autobahn, die nach Ribadés führt. Neben uns verlief die alte Landstraße in dieselbe Richtung.



»Wir sind auf dem Jakobsweg«, sagte Hellen erfreut.



»Ja, der Jakobsweg verläuft neben uns«, erklärte ich und zeigte auf die alte Landstraße. »Im Übrigen bezeichnet der Jakobsweg mehrere Pilgerwege, die aus den unterschiedlichsten Richtungen Europas kommen und allesamt nach Santiago de Compostela führen. Dieser Weg heißt

El Camino de la Costa

«, sagte ich und zeigte auf den Weg neben uns.



Hellen warf mir einen kritischen Blick zu.



»Vielen Dank für deinen Vortrag!«



»Nun, ich dachte …«



»Schon gut«, sagte sie. »Auf jeden Fall führt der Pilgerweg durch Ribadés!«



Sie winkte mit dem Reiseführer.



»Hast du das gewusst?«, fragte sie.



»Ja, sicher.«



Hellen holte ihre Kamera aus der Tasche und fing an Fotos zu schießen. Zur Linken lagen die

Picos de Europa

 mit etwa zweihundert Bergen, die über zweitausend Meter hoch sind. Zur Rechten lag der weite Atlantik, in dem sich das Sonnenlicht schimmernd spiegelte.



»Hast du gewusst, dass das Kantabrische Gebirge über fünfhundert Kilometer lang ist?«, fragte mich Hellen.



»Ja.«, nickte ich ihr zu. »Eine äußerst lange Bergkette. Und in diesem Gebiet befindet sich auch der Nationalpark

Picos de Europa



»Ich weiß«, sagte sie und winkte wieder mit dem Reiseführer.



»Diese Gegend ist auch historisch bedeutend.«



»Warum?«



»In diesem Gebirge begann um 720 nach Christus die so genannte

Reconquista

. Diese hat die Rückeroberung Spaniens, was überwiegend von den Mauren besetzt war, eingeleitet. Die so genannte

Schlacht von Covadonga

 wurde von

Don Pelayo

 angeführt, der von den Spaniern dafür zum Nationalhelden ernannt wurde. Steht das in dem Reiseführer?«



»Nein!«, sagte sie und warf mir wieder einen kritischen Blick zu. »Es steht auch nicht drin, ob hier die Wikinger durchmarschiert sind.«



»Ich glaube, die Nordmänner waren um 850 nach Christus in Asturien«, sagte ich grinsend.



»Jetzt reicht’s«, gab sie lächelnd zurück und schlug mir mit dem Reiseführer auf den Oberschenkel.



Wir sahen uns weiterhin die wunderbare Landschaft an. Plötzlich überholte uns ein kleiner, alter Seat und drängte uns beim Einfädeln ab. Das konnte ich mir freilich nicht gefallen lassen. Geistesgegenwärtig betätigte ich die Lichthupe. Ich trat das Gaspedal durch, um die dreihundert PS zu mobilisieren. Die Achtgang-Automatik schaltete blitzschnell herunter. Dann setzte ich zum Überholen an, um zu sehen, wer uns derart respektlos geschnitten hatte.



»Was hast du vor?«, fragte Hellen kritisch.



»Ich will diesen rücksichtslosen Fahrer sehen!«



»Muss das wieder sein?«



Im Nu waren wir auf gleicher Höhe mit dem Seat. Am Steuer saß eine kleine hagere Frau mit einer übergroßen Brille. Sie konnte kaum über die Instrumententafel sehen und starrte nach vorne auf die Straße. Hellen sah mich daraufhin fragend an. Mir war klar, dass jeder Kommentar unnötig war. Ich überholte den Seat und ließ es dabei bewenden.



Das war einer der seltenen Momente, in denen ich mich verrennen konnte. Es war wohl mein spanisches Temperament, wie Hellen es nannte.





Für eine kurze Zeit herrschte stilles Schweigen. Hellen schoss weitere Fotos.



»Die

Picos de Europa

 sind atemberaubend schön«, sagte ich dann, um das Schweigen zu brechen. »Weißt du, woher dieser Name kommt?«, fragte ich sie.



»Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen«, antwortete sie.



»Na gut«, gab ich großzügig zurück. »Er stammt von den Seefahrern, die von Nordwesten kommend als erstes diese hohen Gipfel des Kontinents sahen und deswegen nannten sie sie die Gipfel Europas.«




2





Freunde suchen





»An der nächsten Kreuzung rechts!«

, sagte die nette weibliche Stimme des Navigationssystems.



»Ja, die Straße kenne ich«, bemerkte ich gespannt.



»Das Ziel ist auf der rechten Seite!«

, lautete die letzte Information, dann standen wir vor der

Calle de la Fuente

 dreiundzwanzig.



Das Hotel

Aurora

 war neu errichtet worden, wie auch andere Gebäude in Ribadés. Ich kannte es nicht, deswegen war ich erstaunt und gleichzeitig enttäuscht.



»Hier stand früher ein Wohnhaus mit einem Gemüsegeschäft im Erdgeschoss«, sagte ich und beklagte damit die Tatsache, dass man ein Stück meiner Vergangenheit demontiert hatte.



»Das Hotel sieht besser aus als auf den Fotos im Internet«, sagte Hellen, um mich aufzuheitern.



Als wir aus dem klimatisierten Wagen stiegen, merkten wir, wie heiß es doch draußen war.





An der Hotelrezeption wurden wir sofort vom Concierge aufs Freundlichste begrüßt. Der drahtige Mann mit kurz geschnittenem pechschwarzem Haar steckte in einem dunklen Anzug mit hellgrauer Weste und hatte eine dunkelgraue Krawatte umgebunden. Er sah ohne Übertreibung wie ein Concierge aus einem Fünf Sterne Hotel aus. Das hatte ich nicht erwartet!

 



»

¡Buenos días!

«, begrüßte er uns höflich und elegant.



»

¡Buenos días!

«, entgegneten wir.



»Unser Name ist Lesemann. Wir haben ein Doppelzimmer reserviert«, sagte ich.



Wir legten ihm unsere Pässe auf den Tresen. Er sah in sie hinein, dann auf den Bildschirm des PCs und nach ein paar eleganten, fast schon virtuosen Tastaturanschlägen vermeldete er:



»

¡Muy bien!

«



Hellen und ich verkneiften uns das Grinsen.



»

¡

Señora y Señor Lessemaan por diez días!

«, sagte er dann, wobei er unseren Nachnamen besonders spanisch wiedergab.



»Korrekt«, quittierte ich. »Für zehn Tage.«



Er bemusterte Hellen von unten nach oben, dann sah er sie mit großen Augen an.



»Sie bekommen unser bestes Zimmer!«, vermeldete er mit schmeichelnder Stimme, hielt ihr den Zimmerschlüssel mit gespreizten Fingern hin und verbeugte sich.



»Das ist aber nett von Ihnen«, schmeichelte Hellen zurück.



»Oooh, nicht doch! Wir tun alles für unsere Gäste!«



Dann wechselte er den Blick zu mir, reichte mir ein Formular und sagte lässig:



»Die oberen drei Zeilen und Ihre Unterschrift genügen, den Rest mach ich schon.«





Das kühle Hotelzimmer hatte einen geräumigen Zuschnitt und war modern eingerichtet. Ich stellte unsere Koffer ab, während Hellen sofort zur Balkontür ging. Sie zog die schweren Vorhänge zur Seite, öffnete die Flügeltüren und genoss als erstes die Aussicht vom Balkon mit schmiedeeisernem Geländer. Ich folgte ihr.



»Ist das nicht wunderschön?«, sagte Sie begeistert und umarmte mich. »Wir können aufs Meer sehen.«



Die Aussicht war traumhaft. Weiß getünchte Häuser, enge Gassen und kunstgeschmiedete Straßenlaternen harmonierten zu einem romantischen Bild. Eine kleine alte Frau, mit einer schwarzen Schürze gekleidet, fegte vor einem kleinen Gemüseladen, der seine frische Ware auf simplen Holzkisten auf dem Bürgersteig anbot. Und über den roten Dächern hinweg sah man auf das Meer, in dem sich die Sonne schillernd spiegelte. So hatte ich diese kleine Stadt in Erinnerung.



Wir zogen unsere Reisekleidung aus. Während sich Hellen im Bad umsah, räumte ich, in Boxershorts, meine Kleidung in den Schrank. Dann stand sie im knappen Slip und im hautfarbenen kurzen Spagettitop vor mir. Sie trug nie einen BH. Ich sah sie bewundernd an.



»Der Concierge hat dir große Augen gemacht«, sagte ich im Spaß zu ihr.



»Sei nicht albern. Du weißt doch, dass nur du …«



Sie sah mich mit einem neckischen Blick an, kam näher, legte ihre Arme auf meine Schultern und zog mich sanft zu sich, um mich ihre üppigen Brüste spüren zu lassen. Danach kam sie mit ihren Lippen näher und drückte sie weich an die Meinen.



Ich umfasste ihre schlanke Taille und streichelte sie. Plötzlich zog sie sich langsam zurück.



»Was ist?«, fragte ich überrascht.



»Lass uns das verschieben. Wir sollten jetzt lieber deine ehemaligen Schulfreunde suchen.«



»Das hat doch Zeit«, sagte ich großzügig.



»Ich möchte erst Ribadés sehen und ein paar Fotos schießen.«



»Hellen! Willst du mich ärgern?«, fragte ich erregt.



»Wie kommst du darauf?«, gab sie schelmisch zurück.





Zum Rathaus war es nicht weit. Wie sollte es das auch. Die Stadt hatte gerade einmal 6500 Einwohner und das hatte sich seit vierzig Jahren kaum geändert. Wir gingen durch die

Calle Santa María

. Zur Linken lag die

Plaza

, auf der Kinder spielten und direkt am Ende derselben, stand das bekannte

Café Carmen

.



»In dieses Café gingen wir an manchen Sonntagen Kuchen essen«, sagte ich freudig. »Hier haben wir den Sonntag gefeiert.«



»Ich weiß, dass du schon früher gern Kuchen gegessen hast.«



»Ja. Insbesondere die

Pasteles de merengue

. Wir müssen uns nachher unbedingt diese köstlichen Stücke und Torten ansehen. Es gibt viele Sorten davon«, schwärmte ich. »Sie haben einen schaumig geschlagenen Inhalt und sind sehr lecker.«



Hellen lächelte mich an, dann gab sie mir einen Kuss.



Wir gingen weiter und bogen in die

Calle del Progreso

 (Straße des Fortschritts) ein, in der das Rathaus stand.



Vor uns stand ein aus Sandstein gebautes kleines, quadratisches Gebäude mit winzigen Fenstern. Sehr massiv, aber schmucklos, unauffällig und furchtbar klein für ein Rathaus.



»Ein bescheidenes Gemeindehaus«, bemerkte Hellen enttäuscht.



»Tja, was soll ich sagen?«



»Sah das immer so aus?«



»Ich fürchte, ja. Das ist dasselbe Rathaus wie vor vierzig Jahren. Es gibt wohl kein Neues.«



»Dann sollte man den Straßennamen ändern.«



»Wieso?«



»Weil dieses Rathaus mit Fortschritt wenig zu tun hat«, sagte sie grinsend.



Der Eingang war von zwei großen Pflanzenkübeln eingesäumt. Ich öffnete die schwere Eingangstür, dann gingen wir hinein. Im dunklen und angenehm kühlen Flur roch es muffig. Eine streng wirkende Dame über sechzig mit grauem, hochgestecktem Haar begrüßte uns. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine schwarze

Mantilla

, ein gesticktes Kopftuch. Sie erinnerte mich sofort an meine ehemalige Religionslehrerin in Ribadés, die jeden nicht auswendig gelernten Religionstext unverzeihlich bestrafte.



»

¡Buenos días!

 Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie uns.



»

¡Buenos días!

«, erwiderte ich. »Nun, ich bin auf der Suche nach ehemaligen Mitschülern, die mit mir vor vierzig Jahren hier zur Schule gegangen sind«, sagte ich mit einem gewissen Zweifel auf Hilfe.



Sicher lag es daran, dass ich an meine Religionslehrerin dachte. Andererseits bemusterte mich die alte Dame mit einer missbilligenden Mine.



»Wissen Sie, vierzig Jahre sind eine

sehr

 lange Zeit. Wie wollen Sie da noch jemanden finden?«, fragte sie verständnislos.



»Ich kenne zwei Namen. Könnte man nicht aus dem Einwohnermelderegister feststellen, wo …«



»… wo sie wohnen?«, vollendete sie meinen Satz in einem höhnischen Ton.



»Ja?«, fragte ich zweifelnd.



»Das tut mir sehr Leid, aber die Daten sind zu vertraulich, um sie jedem auszuhändigen. Stellen Sie sich vor,

Ihre

 Daten würden ohne Weiteres an Fremde weitergegeben werden«, entgegnete sie patzig.



»

Ich

 würde mich freuen, wenn es zu diesem Zweck geschieht.«



Sie sah mich erneut missbilligend an.



»Nein, das kommt nicht in Frage!«, und winkte ab. »Außerdem hatten wir vor sechs Jahren ein Feuer im Haus, durch das viele Akten vernichtet wurden.«, gab sie rechtfertigend hinzu.



Hellen schaute mich an und schüttelte mit dem Kopf.



»Tatsächlich?«, fragte ich staunend.



»Ja! Ich habe Ihnen ohnehin schon mehr gesagt, als ich darf«, sagte sie überheblich.



Die Eingangstür öffnete sich und ein Priester in schwarzer Soutane kam herein. Er kam langsam näher.



»

Buenos días

, Señora Jiménez«, sagte er, während er sich leicht verbeugte und seine Hände in Gebetshaltung hielt.



»

Buenos días

, Euer Hochwürden«, antwortete sie ehrfürchtig, verbeugte sich und hielt ihre Hände ebenfalls in Gebetshaltung.



»Kann ich helfen?«, fragte er sie mit gütiger Stimme.



Sie war vom plötzlichen Erscheinen des Priesters derart überrascht, dass Sie ihren Oberkörper in gebeugter Haltung behielt, um ihr Gesicht nicht zu zeigen.



»Entschuldigen Sie«, sprach ich den Geistlichen an und nahm die Gelegenheit wahr.



Er wandte sich zu mir und sah mich gütig an.



»Ich bin als Kind in Ribadés zur Schule gegangen und nun suche ich nach ehemaligen Mitschülern.«



Er begrüßte uns ebenfalls mit einer leichten Verbeugung und brachte die Hände wieder in Gebetshaltung.



»

¡Buenos días!

 Das ist interessant.«



»

Buenos días

«, entgegnete ich. »Leider konnte ich bisher keine Auskunft bekommen«, gab ich enttäuscht von mir.



Er sah zu der alten Dame.



»Konnte Ihnen Señora Jiménez nicht helfen?«



»Erinnern Sie sich noch, Hochwürden?«, warf sie schnell und aufgeregt ein. »Der Brand vor sechs Jahren? Da sind viele Akten vernichtet worden.«



»Ja, das stimmt!«, bestätigte er ruhig. »Hmm, ich bin selbst hier zur S