Buch lesen: «Vom Drachen zur RegioTram»
Lutz Münzer • Hg.
Vom Drachen
zur RegioTram
Eisenbahngeschichte in der Region Kassel
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
Eine Veröffentlichung in der Reihe
Die Region trifft sich – die Region erinnert sich
der Kasseler Sparkasse
Herausgegeben von Lutz Münzer
Titelbild: S. Bendt: Henschel-Lokomotive („Drache“) aus einem Tunnel kommend (gespiegelt abgebildet), Stadtmuseum Kassel, Inv.-Nr. M 0429
Abbildung Umschlagrückseite: Jörg Lantelmé
Vorsatz/Nachsatz: Zeichnung Lutz Münzer
Grafische Gestaltung: atelier grotesk, Kassel
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
Gesamtherstellung: euregioverlag, Kassel
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen und sonstige elektronische Medien, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.
© 2014 euregioverlag
D-34127 Kassel, Naumburger Str. 40
ISBN 978-3-933617-57-6
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Ingo Buchholz
Das Eisenbahnsystem in der Region bis 1945
Lutz Münzer
Das Eisenbahnsystem in der Region seit 1945
Lutz Münzer
Die RegioTram: Ein wegweisendes neues Verkehrssystem im öffentlichen Personennahverkehr Nordhessens
Rainer Meyfarth
Kassels Fernbahnhof im Stadtgefüge – unbekannte Planungen des 20. Jahrhunderts
Folckert Lüken-Isberner
Der lange Sprung nach vorn – wie der Schnellverkehr nach Kassel kam
Günter Klotz
„Das war eine böse Rackerei“ – zum Arbeitsalltag der Eisenbahner in der Dampflokzeit
Volker Knöppel
Schienenfahrzeugbau in Kassel
Peter Zander
Guntershausen – vom ,Bahnhof der tausend Türen‘ und seinem Dorf
Klaus-Peter Lorenz
Erlebbare Kleinbahn im Museumszug HESSENCOURRIER
Klaus Schulte
Anhang
Glossar
Abkürzungsverzeichnis
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Autoreninformationen
Klappentext
Vorwort
Mobilität ist ein Stichwort, das die Menschen unserer Region gleich in mehrfachem Sinne bewegt: Sie ist nicht nur Voraussetzung für eine stabile Wirtschaftsstruktur, sondern zugleich auch Ziel und Ergebnis von Produkten und Dienstleistungen. Diese liefern leistungsfähige und international anerkannte Unternehmen der Mobilitätswirtschaft, die wir zu Recht als Kompetenzfeld unserer Region verstehen.
Neben Logistik und Automobilbau ist die Bahntechnik von großer Bedeutung für den Industriestandort Region Kassel. Hier werden Schienenfahrzeuge konstruiert, gebaut und in alle Erdteile geliefert. Das ist ein Erfolg der unternehmerischen und ingenieurtechnischen Leistungen und des täglichen Einsatzes Tausender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Für die lange und faszinierende Entwicklung der Eisenbahn in der Region war das Jahr 1848 von entscheidender Bedeutung. Kassel und – als erste im heutigen Landkreis Kassel – die Städte Grebenstein und Bad Karlshafen erhielten Bahnanschlüsse. Und im gleichen Jahr lieferte die Kasseler Firma Henschel & Sohn ihre erste Dampflokomotive aus.
Bereits acht Jahre später war Kassel der große Knoten des stetig wachsenden Eisenbahnnetzes im mittleren Deutschland zwischen Hannover im Norden, Frankfurt im Süden sowie Dortmund im Westen und Leipzig im Osten. Mit Ausnahme der Jahrzehnte der Teilung, die Nordhessen in eine Randlage an der deutsch-deutschen Grenze verbannte, hat sich an dieser zentralen Stellung der Kasseler Region im deutschen Eisenbahnnetz nichts geändert.
Das alles ist Grund genug, sich mit der Bedeutung der Eisenbahn für die Wirtschaft und die Gesellschaft in unserer Region zu beschäftigen. Wir widmen diesem Thema den vorliegenden Sammelband.
Er enthält Beiträge zur Geschichte des Eisenbahnsystems, des Schienenfahrzeugbaus und des Arbeitsalltags der Eisenbahner, zum Bau der Schnellbahnstrecke, die Kassel eine hervorragende Verkehrslage gebracht hat, und zur RegioTram, dem wegweisenden neuen Nahverkehrssystem in Nordhessen.
Wir danken dem Herausgeber Dr. Lutz Münzer und den Autoren, dass sie uns die Geschichte der Eisenbahn in der Region nahebringen und einem breiten Publikum und der Fachwelt viele neue Einsichten vermitteln.
Mit dem 36. Band unserer Reihe „Die Region trifft sich – Die Region erinnert sich“ laden wir Sie ein zu einer kleinen Zeitreise durch die Eisenbahnregion Kassel. Oder wollen Sie das Gefühl, mit einer „alten Dampfeisenbahn“ zu fahren, selbst erleben? Dann nehmen Sie den historischen Zug „Hessencourrier“, der von seinem eigenen Bahnhof südlich des Bahnhofs Wilhelmshöhe durch den Naturpark Habichtswald in Richtung Naumburg fährt. Natürlich ist auch diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet.
Ingo Buchholz
Vorstandsvorsitzender der Kasseler Sparkasse
Das Eisenbahnsystem der Region bis 1945
Lutz Münzer
1. Innovation Eisenbahn
Die Innovation „Eisenbahn“ avancierte in den Jahren nach den Freiheitskriegen rasch zu einem zentralen Thema im Kontext mit der nun mit voller Intensität v. a. in Mittel- und Westeuropa einsetzenden industriellen Revolution. Als erste öffentliche Eisenbahn der Welt wurde die unter der Leitung von George Stephenson angelegte Strecke von Stockton nach Darlington am 27. September 1825 eingeweiht. Der erfolgreiche Betrieb auf dieser Linie löste bald eine Vielzahl von Streckenplanungen und Bauten nicht nur in Großbritannien, sondern auch in zahlreichen anderen Ländern Europas und in Nordamerika aus.
Zwar behinderte die territoriale Zersplitterung Deutschlands – der 1815 gegründete Deutsche Bund zählte anfangs 41 Mitglieder, darunter vier Städte – die Planung und Anlage von Eisenbahnen erheblich und trug schließlich auch dazu bei, dass aus heutiger Sicht diverse, später nur schwer zu korrigierende Pannen bei der Netzentwicklung eintraten. Dennoch kam es auch im deutschen Raum rasch zu konkreten Bauprojekten, im Dezember 1835 wurde die erste Eisenbahn – zwischen Nürnberg und Fürth – eröffnet, nur vier Jahre später folgte mit der Linie Leipzig – Dresden die erste Fernstrecke. Der Bahnbau und die fertigen Eisenbahnen stellten in vieler Hinsicht etwas völlig Neues dar – sei es hinsichtlich der Arbeitswelt, sei es hinsichtlich Architektur und Konstruktion der Bauten und sei es nicht zuletzt hinsichtlich des Fahrzeugmaterials.1 Die zentrale Bedeutung der Eisenbahnen für die wirtschaftliche Entwicklung gerade in der Blütezeit der Industrialisierung wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts ein Viertel aller Investitionen in der deutschen Volkswirtschaft in die Bahnen flossen.2
2. Der lange Weg zu den ersten Bahnen im Kurfürstentum Hessen
2. 1. Präliminarien
Das Kurfürstentum Hessen zählte zu den Mittelstaaten im Deutschen Bund. 1864, kurz vor der Annexion durch Preußen, lebten in dem 9.580 km2 großen Land 745.000 Menschen.3 Die innenpolitischen Verhältnisse gestalteten sich hier schwierig, nicht zuletzt dank des reaktionär-autokratischen Landesherrn Friedrich Wilhelm II., Regent seit 1830 und Kurfürst seit 1847.4
Einer ersten Anregung Carl Anton Henschels, einem der Hauptakteure für den wirtschaftlich/technischen Fortschritt in Hessen-Kassel, im Jahr 1822 zugunsten einer mit Pferden betriebenen Eisenbahn von Frankfurt über Kassel nach Bremen blieb nennenswerte Resonanz versagt.5 Anders zehn Jahre später: Der Architekt Hartdegen unterbreitete der Ständeversammlung eine Eingabe, in der er unter Hinweis auf die günstigen ersten Erfahrungen mit Eisenbahnen in Großbritannien die Gründung einer Aktiengesellschaft zur Anlage von Strecken anregte. Resultat dieser Aktion bildete schließlich die Gründung eines „Aktienvereins zur Errichtung einer von den Hansestädten beginnenden, durch den Norden Deutschlands über Hannover’sch – Minden nach den süddeutschen Städten führenden Eisenbahn“, dem neben diversen Kaufleuten und Fabrikanten auch zahlreiche Beamte angehörten. Der Regent billigte prinzipiell die Bestrebungen des Vereines und dieser entfaltete in den folgenden Jahren eine rege Planungs- und Propagandatätigkeit. Nach Zusammenschluss mit einer konkurrierenden Organisation führte er die Bezeichnung „Verein für Eisenwegebau zu Kassel“ mit Persönlichkeiten aus Verwaltung, Wirtschaft und Bürgertum als führenden Mitgliedern.6
1: Beachtlich sind die Distanzen zwischen Kassel und Städten vergleichbarer oder größerer Bedeutung; Zeichnung Lutz Münzer
Klar erkannt bei Regierung und Verein war bereits damals die Notwendigkeit der Abstimmung mit den Nachbarstaaten. Man machte sich Hoffnungen darauf, Kassel zu einem zentralen Bahnknoten in Deutschland zu entwickeln – durchaus realistisch, da Kassel damals, wie auch noch heute, inmitten eines Gebietes mit einem Durchmesser von ca. 300 Kilometern die bedeutendste Stadt war. Es ging darum, dafür zu sorgen, dass eine von Frankfurt zu den Nordseehäfen führende Nord-Süd-Strecke in Kassel von einer Ost-West-Verbindung gekreuzt wurde. Eine solche Verbindung lag vor allem in Interesse Preußens. Dieser Staat strebte von Beginn der eigenen Eisenbahnplanungen an danach, die durch andere Staaten des Deutschen Bundes voneinander getrennten Ost- und Westprovinzen miteinander zu verbinden. Die preußische Regierung zeigte daher Interesse an einer Strecke von Halle über Mühlhausen, Kassel nach Lippstadt, hatte jedoch stets auch die topographisch günstigere Linienführung zwischen beiden Reichsteilen durch das Königreich Hannover über dessen Hauptstadt Hannover durch das norddeutsche Tiefland im Auge.7 Das Interesse des Königreiches Hannover, dem nördlichen Nachbarn von Kurhessen, an einer Bahnverbindung zwischen Kassel und der Stadt Hannover ließ zunächst zu wünschen übrig. Immerhin gewann 1840 in Hannover ein staatliches Eisenbahnbauprogramm Konturen, und der Bau erster Bahnen, darunter einer Strecke von der Landeshauptstadt nach Hann. Münden, wurde beschlossen.8 Um den Verlauf der Strecke von Kassel nach Frankfurt entbrannte in Hessen bald ein heftiger Streit: Wurde zunächst der Verlauf über Fulda priorisiert, so regte sich hiergegen heftiger Widerstand in Oberhessen, namentlich in Marburg, wo gleichfalls ein Eisenbahnverein entstanden war. Topographische Gründe, das Interesse von Hessen-Darmstadt an der Anbindung seiner Provinzhauptstadt Gießen an das Eisenbahnnetz und auch preußische Vorstellungen – es ging um die in preußischem Besitz befindliche Stadt Wetzlar – führten die Entscheidung zugunsten der Trasse Kassel – Frankfurt durch Westhessen herbei.9
2. 2. Mühsame Entscheidungsfindung
Als sich abzeichnete, dass grundsätzliche Entscheidungen über die Linienführung der Strecken und konkrete Verhandlungen mit den Nachbarstaaten anstanden, wurde der Kasseler Eisenbahnverein am 24. Oktober 1838 angewiesen, seine Tätigkeit einzustellen. Verschiedene Umstände sorgten über Jahre hinweg für Verzögerungen der Eisenbahnplanungen und erst am 20. Dezember 1841 gelang die vertragliche Einigung mit Preußen dahingehend, dass tatsächlich eine West-Ost-Verbindung zwischen den preußischen Landesteilen über Kassel angelegt werden sollte. Im Unterschied zu den Planungen der 30er Jahre war aber nun eine Führung durch die thüringischen Staaten, von Halle über Erfurt und Eisenach nach Kassel, vorgesehen. Lippstadt als westlicher Endpunkt blieb. Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses war noch vorgesehen, die zweite Ost-West-Verbindung (über Hannover) von dieser Stadt ausgehen zu lassen.10 1845 kam Kurhessen endlich zu einer Einigung auch mit Hessen-Darmstadt und Frankfurt über den Bau einer Eisenbahn nach Frankfurt, und zwar als gemeinschaftlich zu bauender und betreibender Staatsbahn.
Damals konnte davon ausgegangen werden, dass man in absehbarer Zukunft auch zu einer Einigung mit Hannover über die Verbindung zwischen Hann. Münden und Kassel gelangen würde.11
Die schon seitens der Zeitgenossen monierte allzu lange Zeit bis zu den Entscheidungen für den Bahnbau wurde zur Schaffung rechtlicher Voraussetzungen, zu intensiver Gewinnung von Informationen über das neue Verkehrsmittel und auch zur Einholung von Fachgutachten genutzt. Kein geringerer als Robert Stephenson, Sohn von George Stephenson, einem der Hauptbegründer des Eisenbahnwesens, und selbst einer der bedeutendsten Eisenbahnfachmänner seiner Zeit, hielt sich im dritten Quartal 1843 als Gutachter zu den kurhessischen Bahnprojekten im Land auf.12
Die vorgesehenen Streckenverläufe in der Region Kassel unterlagen im Zuge des langen Planungsprozesses wesentlichen Veränderungen: Im März 1840, als man noch von der Streckenführung ostwärts über Eschwege – Mühlhausen nach Halle ausging, sollte, auf der Südseite des Lossetales, allmählich an Höhe gewinnend, gebaut und erst jenseits der Kreisgrenze, bei Fürstenhagen, das Tal gequert werden. Südwärts war beabsichtigt, das Fuldatal schon bei Niederzwehren zu verlassen, nahe Hertingshausen die Bauna zu queren und bei Felsberg ins Edertal zu gelangen. Westwärts gab es den Vorschlag einer Führung am Ostrand des Parkes Wilhelmshöhe vorbei über Harleshausen, Weimar, Fürstenwald, Meinbrexen, Westuffeln, Niedermeiser, Zwergen nach Liebenau und dann dem Diemeltal zu folgen. Alternativ war angedacht diese Trasse bei Weimar zu verlassen und über Wilhelmsthal, Frankenhausen sowie Grebenstein nach Hofgeismar zu bauen, um von da ins Diemeltal zu gelangen.
2: Netz 1914: Neben den damals vorhandenen Reisezugstationen sind Orte, die bei den frühen Trassendiskussionen eine Rolle spielten, eingetragen; Zeichnung Lutz Münzer
Sobald feststand, dass von Osten her die Strecke von Eisenach herangeführt würde, ist recht bald die Entscheidung zugunsten des Verlaufes durch das Fuldatal mit Guntershausen als vorgelagertem Trennungsbahnhof für die Strecken nach Frankfurt und nach Eisenach über Bebra gefallen. Hinsichtlich des Verlaufes der Strecke nach Westfalen gaben der Wunsch nach gleichzeitigem Bahnbau zum einzigen Weserhafen Kurhessens in Karlshafen13 sowie die Geländeverhältnisse den Ausschlag dafür, den weiten Bogen über Hümme einzuschlagen, dort mit der Hauptstrecke das Diemeltal zu erreichen und andererseits hier eine von vornherein als untergeordnete Strecke angesehene Stichbahn nach Karlshafen abzweigen zu lassen. Die Entscheidung über die definitive Trassenwahl hat sich lange hingezogen. Bezeichnend dafür ist Folgendes: Für die Anlage der Ost-West-Strecke auf hessischem Gebiet war eine Privatbahn vorgesehen, die Kurfürst-Friedrich-Wilhelms Nordbahn (KFWN). In ihrem Statut, welches am 2. Oktober 1844 der Landesherr genehmigte, findet sich die Bestimmung (§ 1, Absatz 2): „Die Gesellschaft übernimmt die Verpflichtung, auf Verlangen der Kurfürstlichen Regierung, eine Pferde-Zweigbahn von Cassel nach Carlshafen herzustellen.“ Die Linie nach Karlshafen wurde also zu diesem Zeitpunkt noch als eigenständige, von Kassel ausgehende Bahn aufgefasst.14
Für intensive Diskussionen sorgte die Frage der Lage des Bahnhofes in Kassel. Solange noch davon ausgegangen werden musste, dass die Ost-West-Linie in Kassel von Osten her aus dem Eichsfeld einmünden würde, wurden in erster Linie Standorte in der Fuldaaue in Betracht gezogen, die freilich vor allem in zweierlei Hinsicht zu Bedenken Anlass gaben – einerseits wegen der Hochwassergefährdung in der Talaue und andererseits wegen der Schwierigkeiten, mit akzeptablen Neigungsverhältnissen die Kassel umgebenden Höhenzüge zu bewältigen. Schon Anfang der 40er Jahre war ein gemeinsamer Bahnhof für alle in Kassel einmündenden Strecken vorgesehen und bereits 1842 fand für diesen Bahnhof die Bezeichnung ‚Hauptbahnhof‘ Verwendung.15 Erst als bereits der Bau der Bahnen begonnen hatte und die ungelöste Frage des Bahnhofsstandortes eine Verzögerung der Fertigstellung erster Streckenabschnitte befürchten ließ, erfolgte 1846 auf Drängen der Ingenieure, die den Bahnbau leiteten, die Entscheidung zugunsten des heutigen Standortes. Dieser bot den Vorteil einer stadtkernnahen und hochwasserfreien Lage und gestattete gleichzeitig mit seiner Höhenlage die Einhaltung des Wertes von 1 : 100 als maximaler Streckenneigung.16
2. 3. Die ersten Strecken, Bau und Anlagen
Die ersten Strecken, die von Kassel ausgingen, errichteten zwei verschiedene Institutionen: Die Linie nach Frankfurt, programmatisch als „Main-Weser-Bahn“ (MWB) bezeichnet, entstand als Staatsbahn im Eigentum der drei Staaten, durch deren Territorium sie verlief: Kurfürstentum Hessen (Kurhessen), Großherzogtum Hessen (Hessen-Darmstadt) und Freie Stadt Frankfurt. Es handelte sich um ein „Kondominium“. Die Gewinne wurden nach dem Verhältnis des eingebrachten Kapitals verteilt, jeder Staat baute grundsätzlich den auf seinem Gebiet gelegenen Streckenabschnitt.17 Zwei Angehörige der sechsköpfigen Direktion ernannte die kurhessische Regierung.18
Anders die Ost-West-Strecke: Ihre Anlage blieb, wie bereits erwähnt, einer privaten Gesellschaft überlassen, der KFWN, getragen wesentlich von je einem Bankhaus in Frankfurt und Hanau. Allerdings nahm der hessische Staat erheblichen Einfluss auf die Gesellschaft, beteiligte sich auch am Kapital und per Statut stellte die Regierung drei der zwölf Mitglieder des Aufsichtsrates.19
1845 begann der Bau der Strecken, und zwar bei beiden Bahnunternehmen in Kurhessen unter der Leitung des belgischen Ingenieurs Splingard, der allerdings der deutschen Sprache nicht mächtig war. Da es zunächst an höher qualifizierten Fachkräften für den Bau und Betrieb von Bahnen in Kurhessen haperte, waren auf der Führungsebene der Bahnen mehrere Ausländer, überwiegend Belgier, tätig, die im Laufe der Jahre durch einheimisches Personal ersetzt werden konnten.20 Grundsätzlich galt für den Bau die Maßgabe, möglichst einheimische Arbeitskräfte einzusetzen und bei den Materiallieferungen die heimische Wirtschaft zu berücksichtigen – vor allem letzteres ließ sich angesichts dessen, dass es sich bei Eisenbahnen um etwas völlig Neues handelte, vielfach nicht verwirklichen.21
3: Einer von mehreren Entwürfen aus dem Jahr 1840 zur Anlage des Bahnhofes in Kassel beim Wesertor; HStAM
Trotz des gebirgigen Terrains hielt sich der Aufwand für große Kunstbauten in Grenzen. In der Region Kassel bedurfte es nur der Anlage eines Tunnels, und zwar an der als „Carlsbahn“ bezeichneten Stichstrecke nach Karlshafen. Der 202 Meter lange Tunnel war erforderlich, um einen Bergvorsprung ‚abzuschneiden‘. Landschaftsprägend wurde der Viadukt, der unmittelbar südlich von Guntershausen für die Strecke Richtung Bebra über das Fuldatal anzulegen war. 13 Bögen von je 16,50 Meter Spannweite zählte er, insgesamt betrug die Länge 314 Meter. Um im Flussbett keine größeren Widerstände aufzubauen, wurden die Pfeiler mit 3,30 Meter Fußbreite recht schmal gehalten. Das verhalf dem steinernen Bauwerk zu einem filigranen Aussehen. Beginnend im September 1848 zeigten sich an den Pfeilern Schäden, die unter anderem auf unzulängliche Druckfestigkeit der aus heimischen Brüchen verwandten Steine zurückgeführt wurden. Nachträglich eingeführte eiserne Verankerungen und andere Ausbesserungen vermochten Abhilfe zu schaffen, aber die Fertigstellung des betreffenden Streckenabschnittes erfuhr dadurch eine Verzögerung.22
4: Die landschaftsprägende Brücke über die Fulda bei Guntershausen bildete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch ein beliebtes Motiv für Landschaftsmaler; DGEG-Archiv
Den Abschnitt Kassel – Guntershausen bauten und betrieben beide Bahngesellschaften gemeinschaftlich. Jeweils ein Gleis befand sich im Eigentum einer Gesellschaft, wurde aber von den Zügen beider genutzt. Gemäß einem Vertrag vom 31. Dezember 1861 ging dieser Abschnitt vollständig in das Eigentum der MWB über, die KFWN besaß danach ein Mitbenutzungsrecht bis maximal zur Hälfte der Streckenleistungsfähigkeit.23
Die Strecken beider Unternehmen wurden abschnittsweise eröffnet (Tab. 1), als erster der Abschnitt von Grebenstein über Hümme bis Karlshafen am 30. März 1848. Dies war schon deshalb sinnvoll, weil ein Teil des für die Bahnen benötigten Materials auf der Weser per Schiff importiert wurde. In Gerstungen bestand vom Tag der Eröffnung an Anschluss bis Halle.
Zwischen Haueda an der Landesgrenze nach Westfalen und dem fünf Kilometer entfernten Warburg gehörte der am 18. März 1851 eröffnete Abschnitt der Westfälischen Eisenbahn, die sich im Eigentum des preußischen Staates befand. Aber diese kurze Teilstrecke wurde von der KFWN gepachtet und betrieben. Mit der Vollendung des Abschnittes Warburg – Paderborn am 22. Juli 1853 stand zwischen Kassel und Hamm in Westfalen eine durchgehende Bahnverbindung zur Verfügung.
1850 fiel beim Nachbarn Hannover endlich die Entscheidung zugunsten des Baus der sogenannten Hannoverschen Südbahn, einer Staatsbahn. Um die Berührung von hessischem Territorium zu vermeiden, führte die Strecke zwischen Göttingen und Hann. Münden über die Dransfelder Hochfläche. Das bedingte einen baulich aufwendigen Abschnitt, der auch betrieblich wegen starker Steigungen Schwierigkeiten bereiten sollte. Noch während des Baues dieser Linie kamen Kurhessen und Hannover 1852 zu einer Einigung über den Bahnbau zwischen Kassel und Hann. Münden. Die Strecke der Hannoverschen Südbahn wurde bis Kassel verlängert und dort in den Hauptbahnhof eingeführt. Am 23. September 1856 fand die Eröffnung dieser vierten von Kassel ausgehenden Strecke statt. Als bedeutendes Bauwerk wies sie bei Kassel die Talbrücke über die Fulda unmittelbar vor der schon mit Eröffnung der Bahn in Betrieb genommenen Station Ihringshausen auf.25
a) Kurfürst-Friedrich-Wilhelms Nordbahn | |
Karlshafen – Grebenstein | 30. März 1848 |
Grebenstein – Kassel | 20. August 1848 |
Bebra – Guxhagen | 18. September 1848 |
Guxhagen – Guntershausen | 29. August 1849 |
Hümme – Haueda | 15. September 1849 |
Gerstungen – Bebra | 25. September 1849 |
b) Main-Weser-Bahn | |
Kassel – Guntershausen | 29. August 1849 |
Guntershausen – Wabern | 19. Dezember 1849 |
Wabern – Treysa | 2. Januar 1850 |
Treysa – Kirchhain | 4. März 1850 |
Frankfurt – Friedberg | 10. März 1850 |
Kirchhain – Marburg | 3. April 1850 |
Marburg – Lollar | 25. Juli 1850 |
Lollar – Gießen | 15. August 1850 |
Friedberg – Butzbach | 1. Dezember 1850 |
Butzbach – Langgöns | 1. Mai 1851 |
Langgöns – Gießen | 15. Mai 1852 |
Tab. 1: Eröffnungsdaten Kurfürst-Friedrich-Wilhelms Nordbahn und Main-Weser-Bahn24
Alle von Kassel ausstrahlenden Strecken waren zwar mit Unterbau für zweigleisigen Betrieb versehen, besaßen aber zunächst nur ein Gleis. Eine Ausnahme bildete, wie bereits erwähnt, der Abschnitt von Kassel nach Guntershausen. Nur eingleisig trassiert war in der Region Kassel lediglich die auch ansonsten mit bescheidenerem baulichen Standard wie etwa engeren Gleisradien (200 Meter) angelegte Stichstrecke nach Karlshafen.
Stationen hatten in der Region – außer Kassel – an den Hauptstrecken lediglich die Städte Grebenstein, Hofgeismar und Liebenau sowie die Dörfer Guntershausen, Mönchehof, Hümme und Ihringshausen bekommen, außerdem wurde ein Bahnhof „Wilhelmshöhe“ errichtet. Der Grund hierfür war in erster Linie das gleichnamige Schloss. Nutzer des Bahnhofes waren in hohem Maße die Bewohner des Dorfes Wehlheiden. An der Carlsbahn gab es Zwischenbahnhöfe in Trendelburg und Helmarshausen, außerdem hatte es das Gut Wülmersen vermocht, eine „Anhaltestelle“ durchzusetzen, die sich aber in den Fahrplänen nicht wiederfindet und schon in der ersten Hälfte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts geschlossen wurde!26
Mit der Fertigstellung der Strecke Richtung Hannover gelangte auch die Einrichtung des Kasseler Bahnhofes weitgehend zu einem Abschluss – die Arbeiten an den Hochbauten zogen sich noch bis 1859 hin. Anfangs hatte man sich mit Blick auf den nicht feststehenden Zeitpunkt und die Art der Einführung der Strecke von Hannover mit provisorischen Bauten, u. a. mit einem vorläufigen Empfangsgebäude, begnügt. Der Kasseler Bahnhof, später als Kassel Oberstadt und schließlich auch offiziell (vgl. Anm. 15, S. 58) als Kassel Hauptbahnhof bezeichnet, war ein recht ausgedehnter Anlagenkomplex mit klarer funktionaler Dreiteilung: Im Osten das Empfangsgebäude mit den Bahnsteigen, im Süden ein ausgedehnter Werkstättenkomplex für die KFWN und die MWB sowie im Norden vornehmlich dem Güterverkehr dienende Bereiche. Als Architekt des Empfangsgebäudes gilt der Hofbaumeister Gottlob Engelhardt. Es handelte sich um ein Bauwerk in historisierendem Rundbogenstil mit Formelementen aus Romanik, Gotik und Renaissance. Für die übrigen Anlagenelemente dürfte Splingard maßgeblich gewesen sein. Es hat wohl eine stattliche Halle über dem Bahnsteigbereich gegeben. Zum Zeitpunkt der Erbauung war der breite, mittig gelegene Bahnsteig für ankommende Züge vorgesehen, während die beiden an den Flügeln gelegenen Bahnsteige abfahrenden Zügen dienten. Sobald Züge von einer auf die andere Strecke übergingen, dürfte von dieser Form der Bahnsteignutzung abgewichen worden sein. Zwei der an den beiden sehr schmalen Zungenbahnsteigen liegenden Gleise wurden allenfalls als Reserve für Züge genutzt und fungierten ansonsten zur Wagenaufstellung, die anderen beiden Gleise an diesen Bahnsteigen waren für den Lokomotivverkehr bestimmt.27
5: Kassels Bahnhof, etwa zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung; Hacault, Edmund: Der Eisenbahn-Hochbau, dargestellt in einer Sammlung ausgeführter Entwürfe von Bahnhöfen und den dazu gehörigen Baulichkeiten. Erste Abtheilung. Kurfürst-Friedrich-Wilhelms-Nordbahn, Main-Weser-Bahn. Berlin 1855 – Tafel 9, „Situationsplan des Haupt Bahnhofs zu Cassel“
Größere Stationsanlagen gab es weiterhin in Guntershausen und Hümme. In beiden Stationen befand sich das Empfangsgebäude mittig zwischen den Gleisen, es handelte sich also um Inselbahnhöfe. Die Station in Guntershausen wurde im ‚Richtungsbetrieb‘ betrieben, auf der Ostseite verkehrten die nordwärts fahrenden Züge, auf der Westseite die südwärts fahrenden. Die Trennung beider Strecken voneinander erfolgte südlich des Empfangsgebäudes. In Hümme konnten die Züge der Carlsbahn nur die Ostseite des Bahnhofes nutzen, während für die Züge der Hauptbahn beide Bahnhofsseiten zur Verfügung standen. Das Empfangsgebäude war hier nicht in der ursprünglich vorgesehenen Größe gebaut worden, da sich noch während des Baues die Einsicht durchgesetzt hatte, dass es sich mit seiner Lage zwischen den Gleisen kaum als Wohngebäude für Familien mit Kindern eigne. So entfiel das dafür ursprünglich vorgesehene Obergeschoss weitgehend. Mit Blick auf die nahe Wasserscheide Richtung Kassel, deren Bewältigung bei schweren Zügen Vorspann- oder Schiebelokomotiven erforderte, bekam Hümme eine Lokomotivstation mit zweigleisigem Lokschuppen. Eine Lokstation, hier für die Maschinen der Carlsbahn, erhielt auch der Bahnhof Karlshafen. Dieser Bahnhof war zwar kleiner als der in Hümme angelegt, wies aber, mit Blick auf den erwarteten Übergangsverkehr zur Weserschifffahrt, doch eine für die kleine Stadt beachtliche Ausdehnung auf. Ein Gleis führte vom Bahnhof zur Weser. Dort waren die zur Be- oder Entladung bestimmten Wagen mit Drehscheiben auf Gleise, die sich parallel zum Kai befanden, umzustellen. Schon zur Eröffnung waren die in den zuletzt genannten drei Bahnhöfen vorhandenen Wagenschuppen wegen Fortschritten in der Wagenbautechnik eigentlich überflüssig und wurden daher bald zu anderen Zwecken, etwa als Wohnungen, genutzt.28
Durchweg bescheidene Anlagen erhielten die Zwischenstationen, die Größe der Hochbauten variierte in Abhängigkeit von den Verkehrserwartungen. Gemeinsam ist den Empfangsgebäuden die Verwendung von unverputztem Ziegelmauerwerk. Auch besaßen sie einen kleinen, unterschiedlich angeordneten Turm, der die weithin sichtbare Stationsuhr aufnahm. Wieweit von diesen Türmen Signalgebungen zu den Zügen erfolgten, muss dahingestellt bleiben – dagegen spricht die Bedachung der Türme und die nicht immer in beide Fahrtrichtungen gegebene unbehinderte Sicht zu den Gleisen. Außerdem gemeinsam ist fast allen Empfangsgebäuden ein Raum für ‚hohe Personen‘, teilweise auch direkt als Raum für den Kurfürsten tituliert.29 Fürstenzimmer auf größeren Stationen waren damals zwar allgemein üblich, hier überrascht die Häufigkeit.