Erzählstrukturen im Neuen Testament

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2.4.4 Auffällige syntaktische Phänomene

Soll ein Text auf der syntaktischen Ebene Gliederungsmerkmale enthalten, so müssen diese aus der Gesamtgestaltung deutlich hervortreten. Dafür kommen einerseits besondere Konjunktionen und Partikeln, andererseits hervorstechende Satzformen und Satzkonstruktionen in Betracht. Um sie identifizieren zu können, bedarf es freilich vorab einer überblicksartigen Wahrnehmung der grundlegenden Prinzipien, nach denen der Text syntaktisch aufgebaut ist.

Lk 15,11b–32 besteht als Erzählung zum einen aus kurzen, meist vier bis zehn Wörter umfassenden Aussagesätzen, zum andern aus diversen, unterschiedlich langen Passagen direkter Rede[91]. Verknüpft werden die Sätze meist durch καί »und« sowie δέ »aber«. Finite Verbformen in den Aussagesätzen erscheinen fast immer in der 3. Person Singular sowie überwiegend im Aorist und verbinden sich öfters mit einem Infinitiv oder einem Partizip; in direkter Rede wechseln sich einerseits verschiedene Tempora, andererseits Indikativformen verschiedener grammatischer Personen, Infinitive und Imperative ab.

In diesem Rahmen fallen folgende Phänomene auf: a) Als Aussagesatz ist bereits der erste Teil von Lk 15,13 (bis einschließlich »in ein fernes Land«) mit 14 Wörtern ungewöhnlich lang. Umso mehr gilt dies für V. 20b, dessen Teilsätze über insgesamt 22 Wörter einen zusammenhängenden Handlungsablauf schildern. Beide Teilverse korrespondieren sachlich miteinander, insofern der erste den Fortgang, der zweite die Rückkehr des jüngeren Sohnes thematisiert (worauf auch das hier wie dort belegte Wort μακρά[ν] »fern« hindeutet)[92]. Außerordentlich kurz ist dagegen V. 24c, der nur drei Wörter umfasst.

b) Der letztgenannte Satz sticht auch dadurch hervor, dass ihn ausnahmsweise ein Verb der 3. Person Plural regiert.[93] Er greift damit den seinerseits singulären Adhortativ Plural in Lk 15,23c auf. Diese Abfolge von Imperativ und Indikativ wiederum findet ihre Entsprechung in V. 12c–d. An beiden Stellen notiert der Erzähler, dass eine Aufforderung umgehend umgesetzt wurde.

c) Hinsichtlich der Verwendung von Partizipien ziehen die genitivi absoluti in Lk 15,14init. und V. 20binit. besondere Aufmerksamkeit auf sich. In beiden Fällen führt die Konstruktion auf eine dramatische Entwicklung der Geschichte hin – |32|die im ersten Fall mit dem Ausbruch einer Hungersnot, im zweiten mit dem unerwarteten Entgegenkommen des Vaters anhebt.

d) Beim Tempusgebrauch in den narrativen Passagen ist zu beobachten, dass sich der geschilderte Geschehensablauf durch den Einsatz jeweils mehrerer Imperfektformen an zwei Stellen stark verzögert: In Lk 15,16[94] erreicht die in V. 14 einsetzende Schilderung des Elends, in das der jüngere Sohn stürzt, ihren Tiefpunkt;[95] in 15,26–28[96] wird das laufende Fest durch die Reaktion des (in V. 25a erstmals erwähnten) älteren Sohnes in Frage gestellt. Hier wie dort spitzt der Erzähler eine Problematik zu, um sie im Folgenden – durch das Selbstgespräch des jüngeren Sohnes in 15,17–19, durch den Disput[97] zwischen Vater und älterem Sohn in 15,28b–32 – einer Lösung zuzuführen.

e) Der Einsatz von Tempora und Modi in den Passagen direkter Rede spiegelt den Ablauf der erzählten Geschichte wider:

 Die Forderung an den Vater in Lk 15,12b–c (Imperativ) bereitet den Fortgang des jüngeren Sohnes vor, weist also in die Zukunft.

 Sein Selbstgespräch führt von der Lagebetrachtung (Präsens in Lk 15,17b–c) zu einem Entschluss (Futur in V. 18a), wobei die konzipierte Rede an den Vater (15,18b–19b) ihrerseits Rückblick, Kommentar zur Gegenwart und Bitte für die Zukunft – jeweils asyndetisch – miteinander verknüpft.

 Bei seiner Ankunft kann der Sohn sein Redekonzept nicht zu Ende führen (Lk 15,21) – an Stelle seiner Bitte erscheint der Auftrag des Vaters an die Diener (15,22f.) samt einer Begründung (V. 24a–b)[98], welche die Rückkehr des Sohnes als Übergang aus dem Zustand des Todes (Imperfekt) in ein neu beginnendes Leben (ingressiver Aorist) interpretiert.

 Der Wortwechsel in Lk 15,26f. erfährt eine eigene, zurückhaltende Gestaltung: Die Frage des älteren Sohnes wird nur indirekt wiedergegeben, und ein ὅτι recitativum führt die Antwort des zuvor herbeigerufenen Burschen ein. Letztere lenkt dabei den Blick der Leserschaft durch den Gebrauch der Perfektform ἥκει »er ist gekommen« und des präsentischen Partizips ὑγιαίνοντα »gesund« auf die erneute Präsenz des jüngeren Sohnes im Vaterhaus. Der Wortwechsel erscheint somit als eine Art Zwischenspiel, das den abschließenden Dialog zwischen älterem Sohn und Vater vorbereitet.

 Dieser Dialog (Lk 15,28b–32) umfasst ein – inhaltlich vom Erzähler nicht entfaltetes – »Zureden« des Vaters sowie zwei längere Voten, die jeweils einen Überblick über die Beziehungsgeschichte zwischen Vater und Sohn (Präsens samt Aorist in V. 29b–c, Präsens in V. 32b–d) mit einer Bewertung der Festeröffnung (Aorist in V. 30, Imperfekt in V. 32) verbinden.

|33|Demnach weisen alle Äußerungen der Handlungsträger in der einen oder anderen Weise auf die Notwendigkeit einer feierlichen Erneuerung der Gemeinschaft zwischen dem jüngeren Sohn und seinem Vater voraus oder zurück.

f) Besondere Akzente setzen die je nur einmal belegten Partikeln ἔτι »noch« (Lk 15,20b), ταχύ »schnell« (V. 22b), ὡς »als« (V. 25b), ἰδού »siehe« (V. 29b) und ὅτε »als« (V. 30a). Sie alle betonen am Beginn eines Satzes dessen ebenso unmittelbaren wie antithetischen Zusammenhang mit dem jeweils Vorhergehenden. Einzigartig ist zudem die Zitateinleitung mit ἔφη in V. 17a (statt wie sonst εἶπεν); sie hebt das Selbstgespräch 15,17b–19 hervor.

Anhand der notierten Beobachtungen kann man den Aufbau der Erzählung Lk 15,11b–32 exakt nachzeichnen. Daraus entsteht folgende Übersicht:


11b Vorbemerkung: ein Mensch hatte zwei Söhne
12 Bitte des jüngeren um Auszahlung des Erbes (Imp.) → Vollzug der Erbteilung (Ind.)
13init. der jüngere Sohn holte alles zusammen und zog in ein fernes Land (langer Satz)
13fin. er verprasste sein Gut
14–16 als er alles ausgegeben hatte (gen. abs.), versank er infolge einer Hungersnot nach und nach im Elend (alle Sätze mit καί verknüpft, am Ende Impf.)
17–19 Selbstgespräch (ἔφη): Bestandsaufnahme (Präs.) – Entschluss (Fut.) – Redekonzept (Rückblick, Kommentierung der Gegenwart, Bitte)
20a Aufbruch zum Vater
20b als er noch fern war (ἔτι, gen. abs.), eilte ihm der Vater zur Begrüßung entgegen (langer Satz)
21–24 der Sohn begann mit seiner geplanten Rede – an die Stelle seiner Bitte tritt aber
der Auftrag des Vaters an die Diener (ταχύ), den Sohn einzukleiden und anlässlich seiner Rückkehr aus dem Tod (Impf.) ins Leben ein Fest zu beginnen (Adhortativ Pl.) → Beginn des Festes (Ind. 3. Pl., kurzer Satz)
25a der ältere Sohn war derweil auf dem Feld (Impf.)
25b als (ὡς) er heimkam, hörte er den Festlärm
26–27 Vorgespräch (einleitend Impf., zurückhaltend gestaltet) mit dem Burschen (Blick auf die Präsenz des jüngeren Sohnes [Perf., präs. Partizip])
28a Weigerung hineinzugehen (Impf.)
28b (hier und im Folgenden durchweg δέ): der Vater redete ihm zu (Impf.)
29–32 auf die Klage des Sohnes über das Missverhältnis zwischen seiner Beziehung zum Vater (ἰδού, Präs.) und der Eröffnung des Festes für den anderen Sohn (ὅτε, Aor.) antwortete der Vater, indem er seine Gemeinschaft mit dem Älteren (Präs.) und die Notwendigkeit (Impf.) eines Freudenfestes anlässlich der Rückkehr des Jüngeren aus dem Tod (Impf.) ins Leben (modifizierte Wiederholung von V. 24a–b) bekräftigte

Die syntaktisch auffälligen Phänomene lassen, so zeigt sich, die Segmentierung des Textes erkennen und erlauben es in ihrer Summe zudem, das Zentrum der Erzählung zu bestimmen. Eine hierarchische Einordnung der Segmente ist aber allein aufgrund dieser Phänomene nicht möglich. Dies liegt vor allem daran, dass ein analoger Wortgebrauch oder Satzbau an verschiedenen Stellen je anderes |34|Gewicht haben kann.[99] Insofern stellen solche Phänomene zwar »Texttrenner«, nicht jedoch selbständige »Gliederungsmerkmale« dar.[100]

 

2.4.5 Vorläufige Auswertung

Alle Varianten der sprachorientierten Analyse helfen, den Aufbau einer Erzählung zu erhellen. Sie haben indes jeweils ihre Grenzen: Metakommunikative Sätze mit folgender direkter Rede (2.4.1) und auffällige syntaktische Phänomene (2.4.4) zeigen eine Segmentierung des Textes an, bieten jedoch kaum Ansatzpunkte für eine Hierarchisierung der Segmente; Wiederholungen (2.4.2) lassen sich nur in Verbindung mit anderen Gliederungsmerkmalen als solche werten und gewichten; die Wiederaufnahmestruktur eines Textes (2.4.3) ist nur gesondert mit Blick auf die Handlungsträger (und damit die szenische Gliederung) oder die Sachverhalte und Gegenstände (und damit die narrativen Verknüpfungen) der Erzählung zu erheben, sodass jeweils ein relativ einseitiges Bild von der Textstruktur entsteht. Eine sprachorientierte Analyse ist daher ergänzungsbedürftig, wenn ein Text plausibel gegliedert werden soll.

Inwieweit Untersuchung und Auswertung des Stils der Erzählung zu deren Gliederung beitragen können, ist im Folgenden zu prüfen.

2.5 Erzählstilorientierte Analyse

Jede Erzählung weist einen bestimmten Stil auf. Für die Frage nach Gliederungsmerkmalen ist dieser Erzählstil zumal in zweifacher Hinsicht relevant. Bezüglich der zeitlichen und logischen Stringenz der dargestellten Ereignisfolge ist zu erheben, ob und ggf. wo der Text Abschweifungen, Prolepsen, Nachträge, Lücken, Brüche o.Ä. enthält. Im Blick auf seine formale Kohärenz muss geklärt werden, ob und ggf. wo ein Wechsel der Textsorte, der Erzählperspektive oder der Darstellungsintensität erfolgt. An Lk 15,11b–32 lassen sich der Nutzen und die Grenzen solcher Betrachtungsweise gut erkennen.

Was die formale Kohärenz betrifft, so ist die Erzählung generell durch eine »auktoriale Fokalisierung«[101] geprägt. Freilich begnügt der Erzähler sich überwiegend damit, den Geschehensverlauf zu beschreiben. Nur je einmal bewertet er einen Vorgang und gewährt Einblick in die Gedanken eines Protagonisten: In Lk 15,13fin. redet er von der »heillosen« Lebensweise, mit der der jüngere Sohn sein Gut »vergeudet« habe, in 15,17–19 gibt er dessen Selbstgespräch wieder. Alle weiteren Kommentare erfolgen seitens der Erzählfiguren; die aber bewerten häufig – und zwar durchweg den Werdegang jenes Sohnes.

In Lk 15,30a wird die Wertung aus V. 13fin. seitens des älteren Sohnes expliziert: Der Jüngere habe das väterliche »Eigentum mit Huren aufgezehrt«. Zuvor interpretiert dieser selbst |35|seine »heillose« Lebensweise als »Sünde« (V. 18c.21c), die zum Verlust der Sohneswürde (V. 19a.21d), ja, wie der Vater formuliert, in Tod und Verderben (V. 24a–b.32b–c) geführt habe. Die Heimkehr ins Vaterhaus hingegen deutet der Bursche als »Gesundung«[102], der Vater als Rückkehr ins Leben (V. 24a–b.32b–c) und deshalb als Anlass zur Freude (V. 32a).

Immerhin zweimal werden Gefühle von Handlungsträgern benannt: in V. 20b das »Mitleid« des Vaters mit dem »verlorenen« Sohn, in V. 28a der Zorn des älteren Sohnes angesichts des Festes für jenen Tunichtgut.[103] Doch auch dies bleibt etwas Besonderes und dient jeweils dazu, zu begründen, wie sich Vater und Bruder jenem Sohn gegenüber verhalten.

Die Erzählperspektive bleibt durchgehend die des Berichterstatters. Freilich fokussiert dieser immer abwechselnd den Vater in seiner Hinwendung zu den Söhnen (Lk 15,11b–12.20b–24.28b–32)[104] und einen Sohn in der Begegnung mit anderen Erzählfiguren (15,13–20a.25–28a).

Die Darstellungsintensität schwankt stark. Nach der einleitenden Angabe zur Figurenkonstellation (Lk 15,11b), die auf jede weitere Charakterisierung verzichtet, wird kurz von der Bitte des jüngeren Sohnes um Auszahlung seines Erbteils und der Teilung des Erbes durch den Vater erzählt (V. 12). Es folgen ein Zeitsprung (»nach wenigen Tagen«), die zusammenfassende Darstellung von Vorbereitung[105], Vollzug und Ziel des Auszugs sowie eine summarische Aussage über die Lebensweise des Sohnes in der Fremde (V. 13). Ursache und Anlass seines Eintritts in eine Mangelsituation werden ebenfalls knapp zusammenfassend benannt (V. 14). Die Aussage »er begann zu darben« (V. 14b) bildet dann jedoch den Horizont für eine konkrete Schilderung seines Elends (15,15f.) und die ausführliche Wiedergabe einer gedanklichen Reflexion darüber (15,17–19), die den Hinweis auf den Aufbruch zum Vater nach sich zieht (V. 20a). Nach einem erneuten, im Wortlaut nur angedeuteten Zeitsprung (»noch«) beschreibt der Erzähler ausführlich, wie der Vater den Heimkehrer empfing (V. 20b),[106] um dann zu zitieren, was der Sohn vor dem Vater bekannte (V. 21) und wozu dieser daraufhin die Diener anhielt (15,22–24b). Die Erfüllung des Auftrags wird weitgehend ausgespart; V. 24c notiert lediglich den Beginn des Festes. Die V. 14b entsprechende Formulierung »sie begannen zu feiern« markiert aber zugleich den Horizont für den Rest der Erzählung.[107] Dieser setzt mit einer Zustandsbeschreibung ein |36|(V. 25a) und schildert dann konkret, wie der ältere Sohn nach Hause kam und auf das laufende Fest reagierte (15,25b–28a).[108] Dabei mündet die Schilderung freilich in eine zusammenfassende Kennzeichnung seiner ablehnenden Haltung (V. 28a), gefolgt von einer zusammenfassenden Darstellung des väterlichen Bemühens, ihn von dieser Haltung abzubringen (V. 28b). Am Ende steht ein ausführlich zitierter Wortwechsel zwischen Sohn (15,29f.) und Vater (15,31f.).

Die Schwankungen der Darstellungsintensität sind nun öfters mit mangelnder zeitlicher oder logischer Stringenz der Erzählung verknüpft. So lassen sich Lk 15,15–19 und 15,26f. als Abschweifungen werten; beide Abschnitte unterbrechen den Handlungsablauf, freilich so, dass das jeweils Mitgeteilte die Fortsetzung des Geschehens in V. 20a (nach V. 14) und V. 28a (nach V. 25) plausibilisiert. Zugleich bildet 15,18f. eine ausgedehnte Prolepse: Hier antizipiert der jüngere Sohn seinen Aufbruch zum Vater (s. V. 20a) und das Bekenntnis, das er ihm vorträgt (s. V. 21); der vorgesehene Schlusssatz (V. 19b) fällt in der Umsetzung jedoch aus.[109] Demgegenüber erfolgt in V. 25a eine Rückblende: Zum Zeitpunkt der Ankunft seines Bruders war der ältere Sohn auf dem Feld. Rückblicke, die zeitlich auf die Einleitung (V. 11b) zurück – und damit über den Zeitrahmen der eigentlichen Geschichte (15,13–32) hinaus – führen, finden sich dann in den Schlussvoten des älteren Sohns und des Vaters (V. 29b–c.31c–d); sie tragen auch in der Sache Informationen nach.

Logische Unebenheiten begegnen zumal in der zweiten Texthälfte. Schon dass der Vater den jüngeren Sohn laut Lk 15,20b »von ferne kommen« sah, »als hätte er immer auf ihn gewartet«[110], sprengt den Rahmen des Erwartbaren. Ein wirklicher Bruch liegt zwischen V. 21 und V. 22 vor: Statt dem Heimkehrer auf sein Bekenntnis zu antworten, wendete sich der Vater sogleich an seine Diener; dabei wird überdies ihre Präsenz beim Vater oder dessen Rückkehr zum Haus vorausgesetzt. Auch der Übergang von V. 24 zu V. 25 erscheint unlogisch: Dass der Vater das Fest für den jüngeren Sohn beginnen ließ, ohne den älteren dazuzuholen, sodass dieser bei der Rückkehr vom Feld erst einen Burschen befragen musste, wieso im Haus gefeiert werde (15,25f.), ist kaum nachvollziehbar. Holperig wirkt ferner der Anschluss von V. 28b an V. 28a, da offen bleibt, wie der Vater erfuhr, dass der ältere Sohn »nicht hineingehen wollte«. All diese Unebenheiten[111] erweisen den Text als Gleichnis: als fiktionale, von der Wirklichkeit Gottes her entworfene Erzählung. Sie haben aber darüber hinaus als Brüche im Geschehensverlauf auch Bedeutung für die Struktur des Textes.

Die Gliederung, die sich aus den notierten Beobachtungen ergibt, lässt sich wie folgt in einer Übersicht darstellen:[112]


|37|

Eine erzählstilorientierte Analyse ermöglicht es also, eine Erzählung in Szenen zu gliedern, dabei die narrativen Verbindungen zwischen ihnen darzustellen und zu erheben, welche Elemente und Passagen der Erzähler mit besonderen Akzenten versehen hat. Eine Unschärfe des Verfahrens erwächst jedoch aus dem Sachverhalt, dass gleichartige Phänomene unterschiedlich verwendet und auf verschiedenen Ebenen der Erzählung angesiedelt sein können.

Unterschiedlich verwendet sind innerhalb von Lk 15,11b–32 z.B. die beiden Einblicke in die Gefühle von Vater (V. 20b) und älterem Sohn (V. 28a): Der erste steht am Beginn, der zweite am Ende einer Szene. Auf verschiedenen Ebenen der Erzählung liegen etwa die Zeitsprünge zwischen V. 12 und V. 13, zwischen V. 20a und V. 20b sowie vor und nach V. 24c, ferner die jeweils das folgende Geschehen vorbereitenden Aussagen in V. 14b und V. 24c.

Infolge dieser Unschärfe erlaubt es eine am Erzählstil orientierte Untersuchung nicht, die identifizierten Szenen und die darin enthaltenen Passagen der Erzählung in eine hierarchische Ordnung zu bringen. Solch eine Analyse ist deshalb ihrerseits darauf angewiesen, durch Beobachtungen zu Thema, Inventar und Sprache des Textes präzisiert zu werden.

|38|2.6 Zusammenfassende Auswertung

Um die verschiedenen Analyseverfahren evaluieren zu können, muss zuerst geprüft werden, inwieweit die jeweils für die Gliederung von Lk 15,11b–32 erzielten Ergebnisse miteinander kompatibel sind. Der Vergleich erfolgt zum Zwecke der Übersichtlichkeit am besten so, dass man dem Verlauf der Erzählung in ihren Hauptteilen und Abschnitten folgt. Sodann ist aufgrund der beim Vergleich zu gewinnenden methodologischen Einsichten ein praktikables Verfahren zur Gliederung neutestamentlicher Erzählungen zu entwickeln.

2.6.1 Vergleich der Ergebnisse für die Gliederung von Lk 15,11b–32

Die meisten Analysen grenzen Lk 15,11b–12 als erste Sinneinheit des Textes ab. Deren Eigenständigkeit ergibt sich aus dem Befund, dass nur in diesem Passus der Vater und beide Söhne präsent sind [I][113], dass hier der Vater als Hauptfigur der Erzählung eingeführt wird [WH] und agiert [E], dabei – auf Wunsch des jüngeren Sohnes [S] – die für alle weiteren Ereignisse grundlegende Erbteilung vornimmt [WG] und damit die Voraussetzung schafft, aus der sich die ganze Beziehungsgeschichte mit ihren Problemen und deren teils vollzogenen, teils angebotenen Lösungen entwickelt [T]. Insofern aber der Abschnitt sowohl die Figurenkonstellation als auch die Ausgangssituation für die weitere Geschichte benennt, ist er als Einleitung der Erzählung anzusehen.

Aus dieser Eigenart erklärt sich auch, dass zwei Analysen Zusammenhänge mit dem Folgenden zutage treten lassen: Die direkte Rede des jüngeren Sohnes (Lk 15,12b–c) verbindet V. 12 mit 15,13–21 [M]; die im selben Vers gebotene Darstellung der Erbteilung findet in V. 13init. ihren Abschluss [WG]. Beide Beobachtungen widerstreiten nicht der Abgrenzung von 15,11b–12; sie machen vielmehr – wie auch das Schwanken der Darstellungsintensität zwischen V. 11b und V. 12 [E] – darauf aufmerksam, dass die Einleitung aus zwei Elementen besteht und mit dem zweiten den Grund für die anschließend geschilderte Ereignisfolge legt.

Lk 15,13 wird dann anhand diverser inhaltlicher und formaler Merkmale als markanter Neueinsatz erwiesen; dabei kommen die gegenüber 15,11b–12 stattfindenden Veränderungen in der Figuren- und Zeitkonstellation aus verschiedenen Blickwinkeln mehrfach zur Geltung.

Im Zeichen des Themas »Freudvolle Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen dem Vater und seinen Söhnen« signalisiert der Vers die erste einschneidende Veränderung im Beziehungsgefüge der Protagonisten; er enthält explizite Angaben zum Zeitverlauf sowie zum Ortswechsel und richtet die Erzählung für die nächsten Verse auf den jüngeren Sohn aus [I]; dieser wird dabei nach Lk 15,12a erneut, aber auch zum letzten Mal explizit »der jüngere Sohn« genannt [WH]; mit den Notizen zu seiner Emigration und seiner Lebensweise führt V. 13 zugleich einen neuen, für die Geschichte wesentlichen Sachverhalt ein [WG]; überdies sticht schon der erste Satz durch seine außergewöhnliche Länge hervor [S]; |39|der Vers enthält schließlich mit der Rede von Vergeudung und heillosem Leben die erste Wertung des Erzählers und ist von V. 12 durch einen Zeitsprung und einen Wechsel der Fokussierung (vom Vater auf den jüngeren Sohn) abgegrenzt [E].

 

Die eröffnende Funktion von Lk 15,13 bezieht sich naturgemäß auf mehrere Ebenen des Textes.[114] Fasst man zunächst die hier einsetzende Geschichte als ganze ins Auge, so lässt die Untersuchung der Wiederaufnahmestruktur den Bogen zutage treten, der sich von V. 13 bis ans Ende spannt: Im finalen Dialog zwischen älterem Sohn und Vater beziehen sich beide jeweils zum Abschluss ihrer Voten auf den jüngeren Sohn [WH] und kommentieren seine Vergeudung des väterlichen Erbes und sein heilloses Leben in der Fremde (V. 30a.32b–c), wobei der Vater zudem auch seinen Fortgang bewertet [WG].

Die meisten Analysen weisen sodann 15,13–24 als ersten Hauptteil der Erzählung aus: Die Aufnahme des jüngeren Sohns mit einem Freudenfest besiegelt die Heilung des durch seinen Fortgang verursachten Zerwürfnisses [T]; in V. 24c tritt er zum letzten Mal als Handlungsträger auf [I, WH]; zugleich bringt dieser überaus kurze Satz [S] unter Aufnahme des Stichworts »feiern« aus V. 23c [W] die Ausführung des väterlichen Festauftrags zur Sprache [S] – und weist mit dieser Strukturparallele zu V. 12 ebenso auf die Einleitung zurück, wie es die Bezeichnung »der Vater« in V. 22a tut [WH]; die Rede des Vaters (15,22–24b) beschließt ihrerseits die Reihe der auf ihn gerichteten Äußerungen jenes Sohnes (15,12a–c.17–19.21) [M] – von denen die letzte Elemente der zweiten wiederholt [W]; dabei bestätigt jene Rede rückblickend die Selbsteinschätzung des Heimkehrers als Sünder, weist aber seine Aussage, er habe die Sohneswürde verspielt, für Gegenwart und Zukunft zurück [WH, S, E] und macht ihn – statt, wie er selbst es ins Auge fasste, zu einem, der den Tagelöhnern gleicht – erneut zum Mitglied der eingangs aufgehobenen Erbengemeinschaft [WG].

Beim Blick auf die Wiederaufnahme zentraler Sachverhalte wird allerdings deutlich, dass Anordnung und Vollzug des Festes (Lk 15,23f.) auch bereits die Ausgangssituation für den Rest der Erzählung (15,25–32) herbeiführen. Dieser Einsicht entsprechen weitere Beobachtungen: In V. 22a tritt mit den »Dienern« eine neue Gruppe von Handlungsträgern in Erscheinung [I], die als geladene Festteilnehmer (V. 23c.24c) zum Gegenbild des älteren Sohnes werden – denn dieser informiert sich bei einem der »Burschen« (V. 26f.) über das Fest [WH], bleibt ihm dann voller Zorn fern und schreibt sich dabei selbst die Rolle eines Dieners (V. 29b) zu [W]; die Rede von der Schlachtung des Mastkalbes (V. 23a–b) wird im Folgenden zweimal aufgegriffen [W]; der durch Zeitsprünge hervorgehobene Satz V. 24c markiert mit seiner zu V. 14b analogen Formulierung den Horizont des weiteren Geschehens [S]. Somit erweist sich 15,22–24 als Höhe- und Wendepunkt der Erzählung, mit dem ihr erster Hauptteil abgeschlossen, zugleich aber ihr weiterer Verlauf vorbereitet wird.

Der Aufbau des Hauptteils Lk 15,13–24 stellt sich bei Anwendung verschiedener Analyseverfahren im Groben recht einheitlich dar. Die thema- und die inventarorientierte Analyse lassen jeweils zwei Abschnitte erkennen, von denen der erste (15,13–20a) dem Leben des jüngeren Sohnes in der Fremde, der zweite |40|(15,20b–24) seiner Begegnung mit dem Vater gewidmet ist. Dabei wird der Neueinsatz in V. 20b durch das Auftreten des Vaters [T, I] und die impliziten bzw. nachträglichen Hinweise auf eine Zeitverschiebung und einen Ortswechsel [I] markiert. Weitere Indizien für diese Abgrenzung sind einerseits die teils sachlichen, teils sprachlichen Verknüpfungen der Aufbruchsnotiz V. 20a mit dem Selbstgespräch des Sohnes [M, W] und dem Hinweis auf seine Mangelsituation in V. 14 [E], andererseits in V. 20b die Aufnahme des Wortes »fern« aus Vers 13 [W] – auf den V. 20b zudem durch die außergewöhnliche Länge des Satzes zurückweist [S] –, der genitivus absolutus und die singuläre Partikel »noch« am Beginn des Verses [S], ferner der erstmalige Einblick in die Gefühle eines Protagonisten sowie der Wechsel des narrativen Fokus, der Zeitsprung und die logische Unebenheit im Anschluss an V. 20a [E]. Dem steht die Antizipation des Bekenntnisses V. 21 in 15,18f. keineswegs entgegen; sie verstärkt nur den sachlichen Zusammenhang beider Abschnitte [E]. Allerdings ist V. 20a durchaus eng mit 15,20b–21 verbunden: Die Handlungsträger sind hier und dort dieselben [WH], und der Aufbruch des Sohnes mündet in das Entgegenkommen seines Vaters [WG], das seinerseits unmittelbar zum Bekenntnis des Sohnes führt [M]. Man wird V. 20a daher als Schlusssatz auffassen müssen, der zugleich das Folgende einleitet.

Der Abschnitt Lk 15,13–20a ist in sich seinerseits zweigeteilt und schildert zuerst, bis V. 16, wie der jüngere Sohn infolge seiner Lebensweise im Elend versinkt, sodann seine innere und faktische Umkehr [T]. Diese Einteilung wird durch diverse Textmerkmale bestätigt: die gedankliche Kontaktaufnahme zum Vater in V. 17 sowie die Erwähnung weiterer Personen – einerseits in der Fremde (15,15f.), andererseits beim Vater [I, WH]; die Zitation eines Selbstgesprächs [M, E] mit doppelter begrifflicher Rahmung (15,17–20a) [W] und einzigartiger Redeeinleitung [S]; zudem die Verzögerung des Geschehensablaufs in V. 16 [S]. Es gilt freilich Zweierlei zu beachten: Erstens spiegelt innerhalb des Selbstgesprächs die Bestandsaufnahme V. 17 das zuvor geschilderte Elend hinsichtlich seiner Eigenart wie seiner Lokalisierung [I] wider, während die Rückkehr zum Vater erst ab V. 18 thematisiert wird [WG]; zweitens weist V. 14b auf das Eintreten des Mangels hin, der das weitere Handeln des jüngeren Sohnes bis V. 20a bestimmt, wobei der Passus 15,15–19 insgesamt eine – konkretisierende – Abschweifung darstellt [E]. Diese Sachverhalte widerstreiten der genannten Einteilung aber nicht, sondern unterstreichen zum einen die Kohärenz des ganzen Handlungsablaufs, zum andern die Brückenfunktion, die dem Selbstgespräch des Sohnes zwischen der Darstellung seines Niedergangs und dem Hinweis auf seinen Aufbruch zukommt.

Mit den meisten Analyseverfahren kann man die beiden Teilabschnitte Lk 15,13–16 und 15,17–20a intern jeweils noch einmal gliedern:

 In Lk 15,13–16 leitet V. 14 den Passus ein, der die Folgen der Vergeudung schildert [T]. Die implizite Zeitangabe am Versbeginn markiert dabei einen Neueinsatz [I], der mit dem genitivus absolutus den Hinweis auf eine dramatische Situationsveränderung vorbereitet [S]. Die Angabe »und er begann zu darben« (V. 14b) fungiert dann als Übergang: Einerseits rundet sie, vor der Einführung neuer Handlungsträger in V. 15f. [WH], die Lagebeschreibung ab, andererseits eröffnet sie einen Zeitraum, in den die konkrete Zuspitzung des Elends [WG] als unaufhaltsam erscheinender Prozess [S] eingezeichnet wird [E].

 |41|Lk 15,17–20a enthält das Selbstgespräch samt Redeeinleitung sowie die Notiz zur Umsetzung des darin gefassten Beschlusses, zum Vater aufzubrechen [I, M, W, WG, E]. Dabei kommt dem Entwurf einer Rede an den Vater (15,18afin.–19) besonderes Gewicht zu [M].

Lk 15,20b–24 hingegen besteht aus mehreren Elementen, die sich auf verschiedene Weisen einander zuordnen lassen: Man kann die Beschreibung des Empfangs des Heimkehrers (V. 20b) von dem diesen Vorgang kommentierenden Wortwechsel samt dem daran anschließenden Festbeginn (15,21–24) unterscheiden [T, S]. Man kann auch Begegnung und Gespräch zwischen Vater und Sohn (15,20b–21) von der – in logischer Hinsicht kaum folgerichtigen [E] – Rede des Vaters an die Diener und der Durchführung seines Auftrags (15,22–24) abgrenzen [I, M, WH]. Ferner kann man in 15,20b–22 die Wiederaufnahme des Sohnes ins Haus, in 15,23f. sodann die Anordnung und Eröffnung des Festes dargestellt sehen [WG]. Alle drei Einteilungen wären schließlich noch dadurch zu modifizieren, dass man V. 24c als separate, weil durch einen Zeitsprung vom Voranstehenden abgegrenzte Schlussnotiz auffasst, die zugleich zum Folgenden überleitet [E]. Die Vielfalt an Gliederungsmöglichkeiten erwächst aus der zentralen Stellung und Bedeutung des Abschnitts innerhalb der Erzählung. Dieser Eigenart entsprechend ist nämlich jedes seiner Elemente – das herzliche Entgegenkommen des Vaters, das Bekenntnis des Heimkehrers, die Anweisung zu seiner Wiederaufnahme als Sohn, die Anordnung des Festes samt Begründung sowie der Auftakt zum Fest – von großem Gewicht und dadurch gekennzeichnet, dass es sowohl das jeweils vorhergehende Geschehen bündelt als auch die jeweils anschließenden Ereignisse veranlasst. Es legt sich deshalb nahe, bei einer internen Gliederung des Abschnitts alle fünf Elemente gesondert auszuweisen.