Buch lesen: «Disziplinierung durch Medizin»

Schriftart:

Florian Steger und Maximilian Schochow

Disziplinierung durch Medizin

Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 bis 1982

mitteldeutscher verlag

Abbildungsnachweis

Deutsches Hygiene-Museum: Umschlagfoto, Abb. 1, 4, 6

Maximilian Schochow: Abb. 2

Stadtarchiv Halle: Abb. 3

HUSS-MEDIEN GmbH: Abb. 5

Christian Riecken: Abb. 7

Bundesarchiv: Abb. 8, 9

Privatbesitz: Abb. 10

Cover: Der Stein des Anstoßes wird beseitigt (Leporello um 1959)

Redaktioneller Hinweis: Zitate sind in Anführungsstriche, redaktionelle Hinweise in eckige Klammern gesetzt. Die orthografische und grammatikalische Schreibweise wurde übernommen, um die Authentizität zu erhalten.

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2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-95462-426-3

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Abbildungsnachweis

Impressum

Geleitwort

Vorwort

1 Einleitung

1.1 Fragestellung

1.2 Methode

2 Organisatorischer, institutioneller und rechtlicher Hintergrund der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale)

2.1 Die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Halle (Saale)

2.2 Lokalrazzien, Erziehung der „Asozialen“ und die Einrichtung einer Beobachtungs- und Fürsorgestelle für Geschlechtskrankheiten in der Kleinen Klausstraße 16

2.3 SMAD-Befehle zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten und die „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ vom 23. Februar 1961

3 Aufbau, Funktion, Personal und die Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale)

3.1 Die Einrichtung des Stadtkrankenhauses Poliklinik Mitte und der geschlossenen Venerologischen Station in der Kleinen Klausstraße 16

3.2 Die Hausordnung der geschlossenen Venerologischen Station der Poliklinik Mitte

3.3 Das medizinisch-pflegerische Personal der Poliklinik Mitte und der geschlossenen Venerologischen Station

3.4 Die Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Station

4 Alltag, Terror und Widerstand auf der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale)

4.1 Die Einweisung in die geschlossene Venerologische Station

4.2 Aufnahme, (medizinische) Behandlung und die Folgen der Behandlung auf der geschlossenen Venerologischen Station

4.3 Der Alltag auf der geschlossenen Venerologischen Station

4.4 Der Terror im Terror: Hierarchie und gewalttätige Übergriffe auf der geschlossenen Venerologischen Station

4.5 Widerstand gegen den Terror

5 Die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) im Spannungsfeld von Politik und anderen geschlossenen Stationen

5.1 Die Ministerien für Gesundheitswesen und Staatssicherheit und die geschlossene Venerologische Station

5.2 Die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) im Vergleich mit anderen geschlossenen Einrichtungen in der DDR

6 Schluss

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Quellen und Literatur

Quellen

Literatur

Weitere Bücher

Fußnoten

Geleitwort

Dieser Band gibt erstmals den Mädchen und Frauen eine Stimme, die in der Zeit zwischen 1961 und 1982 in der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) zwangsweise medizinisch behandelt wurden. – Ihnen wurde Unrecht angetan.

Nun wird das Ver-Schweigen beendet, weil einige der Frauen über die entwürdigenden, entehrenden und schädigenden Behandlungen und Misshandlungen in dieser Poliklinik im Herzen Halles berichten, die beunruhigende Fragen hinsichtlich des Gesundheitswesens der DDR aufwerfen.

Was hatten Mitarbeiter der Staatssicherheit regelmäßig in der Poliklinik zu tun? Wieso konnten Patientinnen zu Arbeiten ohne Entlohnung im Krankenhaus herangezogen werden? Wie konnte es sein, dass sie Hilfeleistung bei der gynäkologischen Untersuchung anderer leisteten? Weshalb mussten sie eine Schweigeverpflichtung unterschreiben? Wie ist die Installation von Stubenältesten zu begreifen, die bewirkte, dass Eingewiesene nicht nur die Gewalt von Arzt und Schwestern, sondern auch den Terror der Mitpatientinnen fürchten mussten? Wie konnte es geschehen, dass Pateintinnen zwangsweise tätowiert oder geschoren aus der Klinik entlassen wurden? Wie äußerten sich und was bewirkten Widerspruch und Widerstand? Wurden hier Anteile von Strafvollzug, von Praktiken des Jugendwerkhofsystems, von polizeilicher sowie geheimdienstlicher Verfolgung und der politischen Repression zusammengefügt? Hatte das Ganze System, oder herrschte hier „einfach“ die Willkür eines besonders tyrannischen Arztes?

Den Frauen, die nun zu Wort kommen, ist in der geschlossenen Venerologischen Station in Halle bitteres und leidvolles Unrecht angetan worden. Sie wurden unter dem Vorwand medizinischer Untersuchung und Behandlung verletzt. Sie wurden im Rahmen der Gesundheitspolitik der DDR und mit dem Ziel der „sozialistischen Erziehung“ menschenunwürdig behandelt.

Zur Wiederherstellung ihrer Würde gehört zunächst die gewissenhafte wissenschaftliche Aufarbeitung des Geschehens. Die Verfasser haben sorgfältig die Rahmenbedingungen des Umgangs mit Geschlechtskrankheiten in der SBZ/​DDR untersucht, die Sachlage in Halle bis hin zu den Bauakten detailliert geprüft. Sie haben mit Betroffenen, mit Pflegepersonal, Famulanten und Medizinern gesprochen. Sie haben durch den Blick in die Geschichte auch einiger anderer Einrichtungen sowie durch Gespräche mit Zeitzeugen, die aus verschiedenen Blickwinkeln berichteten, eine belastbare Vergleichsperspektive hergestellt.

Durch die wissenschaftliche Aufarbeitung können nun die betroffenen Frauen ihren Erinnerungen trauen, sie prüfen, vielleicht neu einordnen. Ähnliches könnte für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bzw. Famulanten gelten, die die Erfahrungen auf der Station teilweise fassungslos machten.

Auch zur Würdigung und zur Wiederherstellung der Integrität und Ehre der betroffenen Frauen dient diese Veröffentlichung. Das Geschehene kann dadurch nicht rückgängig gemacht werden. Ich hoffe aber sehr, dass es in einem neuen Licht betrachtet werden kann, weil mit einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung die Ereignisse aufgearbeitet werden.

Bis heute haben die Frauen keine Wiedergutmachung erfahren. Mit dieser Studie soll ein erster Beitrag dazu geleistet werden. Ein weiterer Teil der Wiedergutmachung ist die aufrichtige Anteilnahme der Öffentlichkeit am Schicksal der betroffenen Frauen.

Ich danke Heidi Bohley vom Zeit-Geschichte(n) e. V., die den Frauen als Erste Glauben geschenkt hat, und meinem Stellvertreter Christoph Koch, der mit Hilfe der Mitteldeutschen Zeitung und des Mitteldeutschen Rundfunks nach weiteren betroffenen Frauen suchte und die ersten Gespräche mit ihnen führte. Ich danke Professor Dr. Florian Steger und Dr. Maximilian Schochow vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die den Frauen ihre Aufmerksamkeit und ihr Mitgefühl geschenkt und mit wissenschaftlicher Genauigkeit Fragen gestellt und Antworten gefunden haben.

Birgit Neumann-Becker

Landesbeauftragte für die Unterlagen

der Staatssicherheit der ehemaligen DDR

Vorwort

„In einem Zimmer muss ich mich entkleiden, vollständig. Man reicht mir graue Einheitskleidung, die ziehe ich an. Dann werde ich abgeführt, einen langen Gang entlang. An seinem Ende ein großes Gitter. Es öffnet sich für mich. Ohne ein Wort werde ich durch die Öffnung geschoben. Mit einem ‚Klack‘ fällt das Gitter hinter mir zu. Innen. Aus drei Räumen kommen mir Frauen entgegen. Alle in dieser Kleidung, die auch ich jetzt trage. ‚Wo bin ich hier?‘, höre ich mich fragen. Die Frauen lachen: ‚In der Tripperburg – herzlich willkommen!‘“1 Unter dem Pseudonym Juli Sommermond veröffentlichte im Jahr 2013 eine ehemalige Patientin der geschlossenen Venerologischen Station im Krankenhaus Berlin Buch ihre Autobiographie. Darin schildert sie, wie sie als 14-jähriges Mädchen auf die Station gebracht wurde und berichtet von den erschütternden Ereignissen in ihrem jungen Leben auf der Station.

Nicht nur Juli Sommermond, sondern viele weitere Patientinnen haben inzwischen ihr jahrelanges, mit Ängsten und Scham besetztes Schweigen gebrochen. Patientinnen von der geschlossenen Venerologischen Station in Leipzig Thonberg oder von der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) berichteten gegenüber Mitarbeitern der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Sachsen-Anhalt und gegenüber den öffentlichrechtlichen Medien über schockierende Ereignisse auf den geschlossenen Venerologischen Stationen.2 Die Geschichte der geschlossenen Venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) und die Berichte der Patientinnen, die zwischen dem 12. und 72. Lebensjahr zwangsweise zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten auf die geschlossene Venerologische Station der Poliklinik Mitte gebracht wurden, sind Gegenstand der vorliegenden Darstellung.

Für die Rekonstruktion der Geschichte der geschlossenen Venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) haben wir neben umfangreichen Archivrecherchen, vor allem Interviews mit ehemaligen Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Station geführt. Gleichzeitig haben wir mit Ärzten und Krankenschwestern gesprochen, die auf der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte tätig waren. Aber auch Zeitzeugen aus Halle (Saale), die als ambulante Patienten der Poliklinik Mitte den Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Station begegnet sind, konnten wir für Interviews gewinnen. Wir haben uns umfänglich bemüht, alle Akteure anzusprechen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Leider wurde von Seiten der Gruppe der Ärzte, selbst auf unser Zugehen, häufig der Kontakt verweigert. Alle, die mit uns reden wollten, kommen in diesem Buch zu Wort. Die Berichte der Patientinnen, Ärzte, Krankenschwestern und Zeitzeugen stehen in großen Teilen für sich. Deshalb haben wir uns entschieden, viele Zitate aus den anonymisierten Interviews abzudrucken.

Die hier präsentierten Ergebnisse reflektieren den aktuellen Stand unserer Forschungsarbeit. Unsere Recherchen haben gezeigt, dass in weiteren Bezirken der DDR geschlossene Venerologische Stationen eingerichtet wurden. Auch haben sich Patientinnen bei uns gemeldet, die in Berlin oder Leipzig die Zwangseinweisung auf eine geschlossene Venerologische Station erlebt haben. Die wissenschaftliche Arbeit an diesem Kapitel der DDR-Geschichte steht also noch am Anfang. Und doch lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen, dass die Verhältnisse in Halle (Saale) eine außerordentliche Situation darstellten, die sich nicht zuletzt durch die Leitung der Station bedingt. Wir haben weitere Forschung geplant, welche die DDR-weite Perspektive vergleichend in den Blick nimmt. Dann können unsere gegenwärtig gesammelten und aufbereiteten Aussagen mit neuen Erkenntnissen in Kontext gesetzt werden. Wir möchten schon jetzt alle einladen, uns bei der weiteren Arbeit zu unterstützen und uns neue Informationen bzw. persönliche Erfahrungen mitzuteilen.

Die bisherige Arbeit wäre ohne die ehemaligen Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Stationen in Halle (Saale), in Berlin und in Leipzig, welche sich an uns gewendet und mit uns gesprochen haben, nicht möglich gewesen. Die Patientinnen haben ihr Schweigen überwunden und ihre sehr intimen Schilderungen der Erlebnisse auf der geschlossenen Venerologischen Station vertrauensvoll an uns weitergegeben. Sie haben mit ihrem Schritt nach außen einen wesentlichen Impuls gegeben, um dieses Kapitel der Geschichte der DDR-Medizin schreiben zu können. Für diesen ersten wichtigen Schritt gilt den Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Stationen in Halle (Saale), in Berlin und in Leipzig unser großer Dank. Nicht nur die Patientinnen, sondern auch die Ärzte, Schwestern oder Verwaltungsangestellten der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) sowie die Zeitzeugen haben sich in den Interviews mit uns ihrer individuellen Vergangenheit gestellt. Dieser Schritt auf uns zu war keine Selbstverständlichkeit. Auch für diese Schilderungen und das Vertrauen in unsere Arbeit möchten wir uns bedanken.

Für die Initiierung des Projekts sowie die Unterstützung und Hilfe bei den Recherchen möchten wir uns bei der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Sachsen-Anhalt, Frau Birgit Neumann-Becker, und ihrem Stellvertreter, Herrn Christoph Koch, herzlich bedanken. Dank gilt darüber hinaus Frau Heidi Bohley vom Verein Zeit-Geschichte(n) – Verein für erlebte Geschichte, Herrn Ralf Jacob vom Stadtarchiv Halle (Saale), Herrn Udo Israel vom Evangelischen Diakoniewerk Halle (Saale), Frau Annett Glatz und Herrn Jörg Wildermuth vom MDR Sachsen, Herrn Henryk Löhr vom Arbeitskreis Innenstadt e. V. Halle (Saale), Frau Silvia Zöller von der Mitteldeutschen Zeitung und Frau Marion Schneider von der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden. Darüber hinaus danken wir Frau Saskia Gehrmann, Frau Nadine Wäldchen, Herrn Jan Jeskow und Herrn Manuel Willer für ihre vielfältige Unterstützung.

1 Einleitung

1.1 Fragestellung

Am 14. August 1949 stellte der Rat der Stadt Halle (Saale) bei der Landesregierung Sachsen-Anhalt, Minister für Wirtschaft und Verkehr, Hauptabteilung Bauwesen, einen Bauantrag zur „Einrichtung einer Beobachtungsstelle d. Fachkrank.“ in der „Gr. Nikolaistr. 3 u. Kl. Klausstr. 16“.3 Knapp vierzehn Tage später, am 2. September 1949, stellte der Rat der Landeshauptstadt Halle (Saale) erneut einen Bauantrag für die Kleine Klausstraße 16 bei der Landesregierung Sachsen-Anhalt.4 In diesem Schreiben wird als Zweck des Bauvorhabens, die „Einrichtung v. Krankenräumen für Geschlechtskranke“5 in Halle (Saale) angegeben. Weitere sechs Wochen später wandte sich die Abteilung Bauaufsicht des Rats der Stadt Halle (Saale) erneut an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt, um den „Ausbau von Unterkünften für Geschlechtskranke“ zu beschleunigen.6 In diesem Schreiben wird noch einmal die „Dringlichkeit“ des Bauvorhabens betont und auf die „Eilbedürftigkeit“ der Genehmigung verwiesen.7 In den folgenden Monaten wurden weitere Schreiben zur Genehmigung des Bauvorhabens aufgesetzt, bis am 27. Juni 1950 ein „Bauschein“ für das Bauvorhaben in der Kleinen Klausstraße 16 ausgestellt wurde.8

Mit diesem Bauschein endete eine Jahre andauernde Diskussion zwischen verschiedenen Ämtern der Stadt Halle (Saale), so dem Jugend- und Fürsorgeamt, dem Gesundheitsamt und dem Kriminalamt. Inhalt der Auseinandersetzungen waren die Fragen zur geeigneten Unterbringung und medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Geschlechtskrankheiten in Halle (Saale).9 Der Bauschein markierte aber vor allem den Beginn einer über mehrere Jahrzehnte existierenden geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale), in der Frauen ab dem 12. Lebensjahr gegen ihren Willen und teilweise ohne medizinische Indikation, Eingriffe in ihre körperliche Integrität ertragen mussten. Mit der Unterbringung auf der geschlossenen Venerologischen Station sollte durch „erzieherische Einwirkung (…) erreicht werden, dass diese Bürger nach ihrer Krankenhausentlassung die Gesetze unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen.“10 Erst im Jahr 1982 wurde die geschlossene Venerologische Station, seit 1961 Teil des Bezirkskrankenhauses Dölau am Standort Poliklinik Mitte, aufgelöst.11

Die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) war als Institution kein Einzelfall. Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland12 als auch in der DDR13 wurden geschlossene Venerologische Stationen eingerichtet bzw. nach Ende des Zweiten Weltkriegs weitergeführt. Während die rechtlichen Bestimmungen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten in den von den Alliierten besetzten Westzonen zersplittert waren, wurden Zwangsmaßnahmen gegen Geschlechtskranke durch das „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ vom 23. Juli 1953 einheitlich für die Bundesrepublik Deutschland geregelt.14 Beispiele für geschlossene Stationen in der Bundesrepublik Deutschland sind vor allem die geschlossenen Abteilungen für Haut- und Geschlechtskrankheiten in den Hafenstätten Bremen15 und Hamburg16, die bereits mehrfach untersucht wurden. In der SBZ waren Zwangsmaßnahmen gegen Geschlechtskranke in den frühen Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) verankert, beispielsweise in der „Verordnung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und der deutschen Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“ vom 11. Dezember 1947. Dieser SMAD-Befehl verlor seine Gültigkeit mit Inkrafttreten der „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ vom 23. Februar 1961.17 Neben den rechtlichen Grundlagen existierten in der SBZ/​DDR auch die institutionellen Voraussetzungen für die zwangsweise Unterbringung von Geschlechtskranken. So wurden beispielsweise in den 1950er Jahren, Geschlechtskranke auf eine geschlossene Station im Krankenhaus Nordmarkstraße in Berlin eingewiesen,18 kamen in die geschlossene Abteilung der Hautklinik der Medizinischen Akademie in Erfurt oder nach Leipzig Thonberg. Mitte der 1960er Jahre hatte sich die Zahl der geschlossenen Stationen für Geschlechtskranke in der DDR bereits verdoppelt (Berlin, Dresden-Friedrichstadt, Erfurt, Gera, Halle [Saale], Leipzig, Rostock, Schwerin).19

Mit der Einweisung und Behandlung von Geschlechtskranken in geschlossene Venerologische Stationen wurde an eine Tradition in der medizinischen Versorgung geschlechtskranker Personen angeknüpft, die im 19. Jahrhundert entstand.20 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts zielen staatliche Zwangsmaßnahmen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten auf die Festsetzung und Kontrolle der Geschlechtskranken in geschlossenen medizinischen Einrichtungen.21 Vor allem mit der Entdeckung der Erreger von Geschlechtskrankheiten sowie der Entwicklung von Salvarsan als Therapeutikum gegen die Syphilis, wiesen Ärzte die Geschlechtskranken vermehrt in geschlossene Stationen ein.22 Ziel der Einweisungen war, die Anwendung des Therapeutikums Salvarsan zu erproben und zu kontrollieren sowie die Prostitution zu regulieren.23 Wurden in der Weimarer Republik der Gedanke der Prävention24 gestärkt und mit dem „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ vom 18. Februar 1927 die Kompetenzen der Polizei bei der Festsetzung von Prostituierten stark beschnitten, so setzte das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933 diese Beschränkungen außer Kraft.25 Geschlechtskranke Personen, die unter dem Verdacht der Prostitution standen, konnten nun wieder durch Ordnungskräfte in Krankenhäuser zwangseingewiesen werden.26 Mit den geschlossenen Venerologischen Stationen im Nachkriegsdeutschland wurde an Behandlungskonzepte Geschlechtskranker angeschlossen. In der SBZ/​DDR wurden diese Konzepte durch pädagogische Aspekte ergänzt, die das Ziel hatten, die Patientinnen zu „sozialistischen Persönlichkeiten“27 zu erziehen. Vor diesem Hintergrund werden nun die Geschichte der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) und vor allem die Ereignisse auf der Station rekonstruiert. Dabei stehen folgende Fragekomplexe im Mittelpunkt der Untersuchung: (1) Vor welchem institutionellen und rechtlichen Hintergrund wurde die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) eingerichtet? (2) Wie war der Aufbau und welche Funktion hatte die geschlossene Venerologischen Station in Halle (Saale)? (3) Wer arbeitete auf der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) und welche Patientinnen wurden dort zwangseingewiesen? (4) Wie und weshalb wurden die Patientinnen auf die geschlossene Venerologische Station eingewiesen, und welche (medizinischen) Eingriffe wurden dort durchgeführt? (5) Was mussten die Patientinnen tagtäglich erleben, und welchem Terror waren sie ausgesetzt? (6) Schließlich haben wir gefragt, in welche institutionellen Zusammenhänge die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) eingebunden war, und ob die Ereignisse auf der Station in Halle (Saale) ein Einzelfall in der DDR waren.