Die Irrfahrten des Herrn Müller II

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Die Irrfahrten des Herrn Müller II
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Nenne mir, Muse, den Mann,

der so weit geirrt ist

und so vieles erlebt hat …

Homer, Beginn der Odyssee

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Weitere Informationen

Über den Autor


Er musste sich beeilen. Die Bank schloss um 18 Uhr, und er wollte Frau Nelles nicht enttäuschen. Die Zahnarztwitwe setzte großes Vertrauen in Ihn. War es aber wirklich nur Vertrauen? Hatte sie, die über 50-jährige, nicht ihm, dem nicht einmal 20-jährigen, schon kurz nach dem Kennenlernen das ‚Du‘ angeboten? „Ich bin die Thekla, und dich darf ich Daniel nennen“, hatte sie gesagt.

Hatte sie ihm nicht immer wieder Komplimente gemacht und ihm sehnsüchtige Blicke zugeworfen? Nachdem er ihr bei der Geburtstagsfeier einer Großmutter seiner Freundin Ines als junger, aufstrebender Möbelkaufmann vorgestellt worden war, hatte sie ihn zwei Tage später angerufen und ihm gesagt, dass sie dringend eine neue Küche benötige. Sie hatte ihn zu sich eingeladen und ihm ihre noch lange nicht abgewirtschaftete Küche gezeigt. Dann hatte sie Kaffee gekocht und ihn zu selbstgebackenem Kuchen eingeladen. Schließlich hatte sie behauptet, nie in ihrem Leben einen solch sympathischen Verkäufer kennengelernt zu haben, und ihn aufgefordert, ihr bald eine Kostenkalkulation zu erstellen und dabei nicht so sehr auf einen günstigen Preis, sondern vielmehr auf höchste Qualität zu achten.

Stolz hatte er, der gerade erst seine Kaufmannsgehilfenprüfung abgelegt hatte, seinem Chef von dem Auftrag berichtet. „Die Nelles“, hatte der anerkennend geantwortet, „gehört zu den reichsten Frauen der Stadt. Wenn es dir gelingt, sie als Kundin zu gewinnen, bekommst du von mir einen Sonderbonus.“

Beim nächsten Treffen gab es wieder Kaffee und Kuchen. Frau Nelles liebte besonders Sahnetorten. Sie wirkte in hohem Maß aufgedreht, zeigte sich begeistert über die Vorschläge, die er mitgebracht hatte. Dann beklagte sie sich über die Verwandten, die in ihr nicht den Menschen, sondern nur die reiche Erbtante sehen würden. Sie jedoch werde denen nicht den Gefallen tun, bald abzukratzen. „Ich habe mich auf einer Schönheitsfarm im Schwarzwald angemeldet“, ergänzte sie. „Wenn ich von dort zurückkomme, wirst du mich kaum wiedererkennen. Senta Berger sieht man ja auch ihr Alter nicht an. Auch ich bin bereit und in der Lage, den medizinischen Fortschritt zu nutzen und verfüge noch über eine ausgeprägte Libido.“

Das Wort hatte er zuvor noch nie gehört. Allerdings hatte er einen Verdacht, was es ungefähr bedeuten könnte und sich anschließend über sein Handy davon überzeugt, dass er damit Recht hatte. Wollte sie ein Verhältnis mit ihm beginnen? Er hatte ihr doch von seiner Freundin Ines erzählt. Sie wusste auch, dass sie die Enkelin jener Dame war, mit der Thekla Nelles jeden Mittwoch Bridge zu spielen pflegte, deren Geburtstag sie gemeinsam gefeiert hatten. Machte die Millionärin den Kauf der Küche davon abhängig, dass er sich von ihr verführen ließ? Das wäre fatal für ihn, der sich gerade frisch verliebt und so hoffnungsvoll seine berufliche Karriere begonnen hatte. Immer häufiger versuchte sie, ihn für sich einzuspannen und um Gefälligkeiten zu ersuchen. Eines Tages bat sie ihn, sie mit seinem Auto zu ihrem Rechtsanwalt zu fahren, weil ihr eigener Wagen an diesem Tag in der Werkstatt stand. Sie nahm ihn mit in das Büro des Anwalts, und als der Daniel misstrauisch beäugte, erklärte sie, dass der junge Mann ein Verwandter ihrer besten Freundin sei, sie volles Vertrauen zu ihm habe. Dann sprach sie mit dem Anwalt über ihr beachtliches Vermögen und veranlasste ihn, das Testament zu vernichten, das sie bei ihm deponiert hatte. „Ich hab’s mir überlegt und werde keinen meiner Verwandten zum Erben einsetzen. Die sind alle herzlos und nicht an mir interessiert. Es wird sich sicher jemand finden, der meines Erbes würdiger ist“, erklärte sie und schaute dabei zur Decke.

Daniel gewann den Eindruck, dass es ihr vor allem darum ging, ihm zu verdeutlichen, welch gute Partie sie wäre. Wüste Vorstellungen schwirrten durch seinen Kopf.

Als er sie eines Tages wieder besuchte, redete sie ungewöhnlich offen mit ihm. Sie erzählte von ihrem Vater, dem kein Rock zu kurz war, und von ihrem inzwischen verstorbenen Mann, der sie ständig betrogen hatte. Schließlich zog sie einen Hefter mit Kontoauszügen hervor. „Das sind die Gelder, über die ich verfüge“, sagte sie. „Ich zeige sie dir, Daniel, weil ich großes Vertrauen zu dir habe und weiß, dass du nicht bist wie die anderen Männer.“

Dabei setzte sie sich zu ihm aufs Sofa und rückte eng an ihn heran. „Hier kannst du sehen, dass ich mein Geld redlich verdiene“, erklärte sie „Ich lebe nicht nur von der Rente meines Mannes und meinen Sparguthaben, sondern besitze auch eine Reihe von Immobilien. Es ist ja keine Schande, vermögend zu sein.“

Je mehr sie sich an ihn herandrückte, desto steifer wurde seine Haltung. Er wusste sich keinen Rat, wie er sich verhalten sollte.

„Du bist schüchtern“, sagte sie und lächelte dabei. „Das gefällt mir. Es kann sein, dass ich nach meiner Schönheitskur oder vielleicht auch Operation alles um mich herum erneuern werde. Das hieße, dass ich nicht nur die Küche, sondern auch meine Wohnzimmer und auch das Schlafzimmer austauschen will. Bis dahin bitte ich dich, noch zu warten.“

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, lehnte dann ihren Kopf an seine Schulter und streichelte seine Brust. Er rührte sich nicht.

„Dass du mein Vertrauen hast, beweise ich dir jetzt“, fuhr sie fort. „Ich brauche 20 000 Euro in bar. Es ist nicht einfach, so viel Geld auf einmal ausgezahlt zu bekommen. Dich betraue ich damit, das Geld für mich in Empfang zu nehmen. Nimm dazu die Aktentasche mit, die ich dir übergeben werde. Meine Bank habe ich verständigt und eine Vollmacht auf dich ausgestellt. Wenn du deinen Personalausweis vorlegst, wird man dir die Summe aushändigen.“

Daniel kam das alles absolut unwirklich vor. Verlegen nahm er die Tasche, und ohne noch ein Wort zu sagen, machte er sich auf den Weg. Mit Herzklopfen betrat er die Bank und stellte sich am Schalter an. Dort hatte man ihn schon erwartet. Ein Kassenangestellter in dunklem Anzug und mit Krawatte trat zu ihm und bat ihn in einen Nebenraum. „Sie sind also der Vertraute von Frau Nelles“, sagte er, nachdem sie sich beide an einen Besprechungstisch gesetzt hatten. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Daniel verneinte und überreichte dem Mann seinen Personalausweis. Der prüfte ihn genau. „Sie sind also Daniel Müller“, fuhr der Angestellte fort.

„Der bin ich“, antwortete Daniel ein wenig verlegen. „In der Firma Brinkmann & Co. nennen sie mich Müller II, weil es dort noch einen anderen Müller gibt.“

„Ich kenne Ihren Chef“, erwiderte der Bankangestellte. „Er ist uns als tüchtiger Mann bekannt. Sie können zufrieden sein, dass Sie bei ihm arbeiten dürfen.“

„Ich habe gerade erst meine Ausbildung beendet“, antwortete Daniel.

Würdevoll entnahm der Angestellte aus einer Kiste mehrere Päckchen von 200-Euro-Scheinen und legte sie einzeln vor Daniel auf den Tisch. Hundertmal musste er zählen, dann waren die 20 000 Euro zusammen. Der Banker bündelte sie und steckte sie anschließend in die dafür vorgesehene Aktentasche. Dann schaute er auf seine Uhr und verabschiedete „Daniel Müller Zwo“ mit besten Wünschen.

So schnell er konnte, eilte Daniel zum Wohnhaus von Thekla Nelles zurück. Dabei verdrängte er die Frage, wie es zwischen ihm und ihr weitergehen sollte. Er öffnete die Haustür.

Als er das Wohnzimmer betrat, erschrak er heftig. Frau Nelles lag auf ihrem Sofa in einer großen Blutlache. Er schrie auf sie ein, riss ihr den Kragen auf, griff ihr an Kopf und Hals, befühlte ihr Handgelenk.

Sie war offenbar mit mehreren Messerstichen ermordet worden. Wie konnte das geschehen sein? Zwei Stunden zuvor hatten sie beide doch noch friedlich zusammengesessen. Auf dem Tisch standen noch die Kaffeetassen, aus denen sie getrunken hatten. Wer konnte ein Interesse daran gehabt haben, die harmlose Frau ums Leben zu bringen? Einer ihrer erbschleichenden Verwandten?

 

„Der Verdacht wird auf mich fallen“, durchfuhr es ihn. ‚Überall wird man meine Spuren finden. Als sie sich an mich angelehnt und mich gestreichelt hat sind Partikel meiner Kleider, meiner Haut an ihr hängengeblieben … Wofür war das Geld bestimmt, das ich auf der Bank abgehoben habe?‘

„Nein, nein, nein“, schrie er erregt. Gerade erst hatte er voller Hoffnung und Ehrgeiz seine berufliche Laufbahn begonnen.

Er wollte Erfolg und ein gutes Einkommen haben, wollte mit Ines zusammenziehen, ein glückliches Leben führen. Damit war es jetzt vorbei. Niemand würde ihm seine Unschuld glauben. Schon die polizeilichen Untersuchungen würden ausreichen, dass sein Chef ihm kündigen und alle Kollegen einen Bogen um ihn machen würden.

Daniel geriet in Panik. Er fasste den schnellen Entschluss, ins Ausland zu fliehen, von dort aus die Ermittlungen der Polizei abzuwarten. Vielleicht hatte der Mörder auch Spuren hinterlassen und konnte gefasst werden. Dann würde man Daniel seine übereilte Flucht sicher verzeihen.

Die Aktentasche mit dem Geld nahm er mit. Er würde es unterwegs brauchen. Später, wenn sich alles aufgeklärt hatte, würde er das Geld zurückzahlen. Mindestens 24 Stunden, so rechnete er, sollte es dauern, bis der Mord entdeckt würde. Jetzt ging es nur darum, keine weiteren Spuren zu hinterlassen. Also durfte er nicht sein Handy benutzen, kein Taxi ordern. Er ging zielstrebig, aber ohne Hektik erkennen zu lassen, zum Bahnhof und bestieg den nächsten Zug zum Flughafen.

Dort angekommen, schaute er sich nach dem nächsten Flug um, der ihn ins Ausland bringen konnte. Plötzlich fiel ihm ein, dass er mit 20 000 Euro Bargeld die Gepäckkontrolle nicht würde passieren können. Er hatte in Erinnerung, gelesen zu haben, dass das Limit bei höchstens 10 000 Euro lag. ‚Jetzt nur nicht in Panik geraten‘, sagte er zu sich selbst und erkundigte sich nach dem Raum mit den Schließfächern. Dort trennte er sich von der Hälfte seines Geldes und schloss es ein. Sein Handy schaltete er aus und legte es dazu. Er wusste, dass es ihn jederzeit verraten konnte.

Dass er immer noch einen Haufen Bargeld und sonst kein Gepäck mit sich führte, wollte er damit erklären, dass er im Internet von einem Sportwagen gelesen hatte, der günstig zum Kauf angeboten wurde. Er musste schnell reagieren, bevor jemand anderes ihm das Angebot wegschnappte. Von Freunden wusste er außerdem, dass solche Verkäufe in der Regel bar abgewickelt wurden.

„Letzter Aufruf zum Flug nach Laban!“, hörte er durch den Laufsprecher. Er lief zum Schalter und löste einen Flugschein. Es war kein Platz in der Economy-Klasse frei, also buchte er Business-Class. ‚Nur weg von hier‘, dachte er und lief zum Einchecken.

„Sie denken wohl, dass 200 Passagiere nur auf Sie warten, junger Mann“, sagte die Angestellte, die seine Bordkarte und seinen Personalausweis überprüfte.

„Ich werde dringend in Laban erwartet“, erwiderte er und begab sich auf seinen Platz. In der Business-Klasse saßen nur wenige Passagiere. Das war ihm recht. Er drückte sich in seinen Sitz, schnallte sich an und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Dass er fliehen muss, stand für ihn fest. Die Ermittlungen, Verhöre, die Berichte in den Medien, die persönlichen Verdächtigungen, all das würde er nicht ertragen.

Wie aber sollte er Ines, seine Freundin, informieren? Ob sie ihm glaubte? Die Indizien waren erdrückend. Wie kam eine ältere Dame dazu, auf einen Schlag 20 000 Euro in bar von ihrem Konto abzuheben und das Geld von einem jungen Mann abholen zu lassen? Die Polizei musste annehmen, dass er die Alte erpresst hatte. Kurz zuvor hatten sie noch gemeinsam Kaffee getrunken. Die Spuren deuteten ohne jeden Zweifel auf ihn. Hatte er mehr Geld erwartet? War er wütend und enttäuscht? Hatte sie schon jemand anderem erzählt, dass sie eine Schönheitsoperation plante und sich verjüngen lassen wollte? Hatte sie die Operation oder die Kur vielleicht sogar schon gebucht? Was steckte hinter diesen Plänen? Journalisten und Blogger würden sich in wilden Spekulationen übertreffen und ihn gesellschaftlich erledigen. Daniel sah keinen Ausweg. Entweder er stürzte sich vor einen Zug, oder er floh. Vor wenigen Tagen war er noch voller Hoffnungen gewesen. Nein, aufgeben wollte er nicht. Vielleicht stieß die Polizei ja schon bald auf den tatsächlichen Mörder.


Das Flugzeug war inzwischen gestartet. Daniel schloss die Augen. Plötzlich fühlte er eine Hand an seiner Schulter. War es schon so weit? Der Griff war nicht sehr fest. Er schaute auf und in das Gesicht einer jungen Frau. Sie sah nicht aus wie eine Polizistin, und es schien ihm, als ob er ihr Bild schon einmal gesehen hatte. Sie bat ihn, auf den benachbarten Platz zu wechseln und setzte sich neben ihn.

Was hatte das zu bedeuten?

Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und strich mit ihrer Hand über seine Brust. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihr jemals zuvor begegnet zu sein. Ohne etwas zu sagen und so, als ob sie ein Paar wären, strich sie durch seine Haare und schaute ihn verliebt an. Konnte es sein, dass sie ihn mit jemand anderem verwechselte? Die junge Dame wurde immer zudringlicher. Da fiel ihm plötzlich ein, dass er ihr Bild in einer Zeitung gesehen und über sie gelesen hatte. Als er beim Frisör warten musste, hatte er in einem der bunten Magazine geblättert. Ja, das musste sie sein: Eine leibhaftige, aber nicht unumstrittene Prinzessin. Er, der sich sonst nicht um Hofgeschichten und Prominentenklatsch scherte, hatte gelesen, dass sie zu Besuch bei deutschen Verwandten wäre. In dem Bericht hieß es, dass sie das schwarze Schaf in ihrer Familie sei. Genüsslich wurde geschildert, dass sie in dem Ruf stand, trotz ihrer Jugend schon eine größere Anzahl von Männern verschlissen zu haben.

Jetzt fiel Daniel auch ihr Name ein: Lore. In dem Magazin war sogar davon die Rede, dass sie Staatsgästen in ihrem Land unsittliche Anträge gemacht hätte und dass es wegen ihr im heimischen Parlament Anträge gegeben hatte, die Monarchie abzuschaffen. Sie war nicht sonderlich hübsch, hatte herbe Züge, aber einen sympathischen Blondschopf und einen ausgeprägten Schmollmund. Sie musste Lore sein. Doch was wollte sie von ihm? War er das aktuelle Opfer ihrer Mannstollheit? Weshalb gerade er, warum jetzt?

Seine letzte Fragen beantwortete die Blaublütige, indem sie sein Hemd aufknöpfte, sein Unterhemd beiseiteschob und seine Brust küsste. Wie sollte er darauf reagieren? In seiner Situation konnte er es sich nicht leisten, einen Skandal auszulösen. Die in einigem Abstand sitzenden wenigen Mitreisenden im Abteil konnten glauben, er und Lore seien ein verliebtes Paar. Also hielt er still und schloss die Augen. Dabei durchfuhr ihn der Gedanke, dass Lore ihm vielleicht sogar nützlich sein könnte. Als Tochter eines Königs war sie sicher nicht ohne Einfluss.

Sie ließ sich nicht beirren und begann nun an seiner Hose zu nesteln. „Wieso machst du das?“, fragte er sie.

„Du hast so wunderschöne, sanft blickende Augen“, flüsterte sie. „Sie sagen mir, dass ich bei dir richtig bin. Ich gebe zu, ich bin ein bisschen geil. Doch ich kann mich auf mein Gefühl verlassen. Bei dir habe ich sofort gemerkt, dass du mit mir einverstanden sein würdest. Warum sollte ich mich also zurückhalten? So einen wie dich sehe ich heute zum ersten Mal und vielleicht nie wieder. Deshalb verschließe ich nicht die Augen und verdränge auch nicht die Lust, die mich überkommt. Willst du, dass ich aufhöre?“

„Ich weiß nicht“, antwortete er.

„Ich weiß es für dich mit“, antwortete sie, knöpfte seine Hose auf und fasste nach seinem Glied. Ihm war nicht nach einem erotischen Erlebnis zumute. Allerdings wollte er sich auch nicht wehren und die Aufmerksamkeit der Mitreisenden mehr als nötig auf sich ziehen. Die Anspannung, die er in den vergangenen Stunden durchgemacht hatte, sorgte dafür, dass sein Glied aufrecht stand, auch ohne dass er wirklich Lust verspürte. Sie öffnete ihre Lippen, nahm seinen Penis in den Mund und begann mit eifrigen Auf- und Ab-Bewegungen. Es dauerte nicht lange, und seine aufgestaute Erregung entlud sich. So sehr er auch bemüht war, konnte er ein kurzes Aufstöhnen nicht verhindern. Erstaunt nahm er wahr, dass sie ganz selbstverständlich seinen Samen schluckte. Sie schien so etwas nicht zum ersten Mal getan zu haben.

„Dich lasse ich so schnell nicht wieder los“, sagte sie. „In mir brennt ein Feuer, das du ohne Bedingung löschen musst.“ Sie drückte ihr Gesicht an ihn. Es war heiß. Das Feuer in Lore loderte, und er beschloss, sich ihr anzuvertrauen. Irgendwann später würde er ihr alles erzählen.

Das Flugzeug landete. ‚Hoffentlich wird nicht schon durch Interpol nach mir gefahndet‘, dachte er und fürchtete sich vor möglichen Kontrollen. Doch seine Sorge erübrigte sich. Ein Leibwächter, der diskret irgendwo im Abteil gesessen hatte, bat die Prinzessin, ihm zu folgen. Sie aber nahm Daniel an der Hand und zog ihn mit sich zu einem vornehm glänzenden Auto, das auf dem Flughafengelände schon auf sie wartete. „Jo“, sagte sie zu dem Fahrer, „Ich kann mich auf dich verlassen, dass du uns zum St.-Bertram-Eingang bringst. Und du, mein Freund und Beschützer“, ergänzte sie in Richtung ihres Leibwächters, „hast nichts gehört und gesehen.“

„Das ist mein Beruf“, antwortete der. Lore beugte sich nach vorne und gab ihm einen Kuss in den Nacken. Auch für ihre Nackenküsse, so erinnerte sich Daniel gelesen zu haben, war die Prinzessin in ihren Kreisen bekannt.

Ob alles Wirklichkeit war? Daniel konnte es kaum fassen. Er saß im Auto neben einer echten Königstochter, die offenbar Gefallen an ihm gefunden hatte. Das Summen des Fahrzeugs, die Lichter in den Straßen und den Häusern, an denen sie vorbeifuhren, die Menschen, die beiden Männer, die vor ihm saßen und sich angeregt unterhielten, das alles war kein Traum. Genauso wenig, wie die tote Frau Nelles ein Traumgebilde war. „Ich wohne im Schloss“, sagte Lore „und ich werde dich an einem Hintereingang absetzen. Versteck dich bitte hinter einer der Säulen und warte, bis ich komme und dir eine kleine Nebentür öffne. Meine Eltern sind von Amts wegen sehr prüde. Ich werde dafür sorgen, dass sie dich nicht zu Gesicht bekommen. Sollten dir trotzdem irgendwelche Domestiken im Schloss begegnen, brauchst du nur zu sagen, dass du eine Verabredung mit mir hast und auf mich wartest. Das will ich zwar vermeiden, und sie würden es auch nicht gut finden, aber sie kennen es nicht anders.“

Wie von ihr gewünscht, versteckte er sich an dem bezeichneten Hintereingang des Schlosses. Es war nach Mitternacht und sehr dunkel. Im Schloss brannten nur wenige Lichter. Er brauchte nicht lange zu warten. Lore öffnete eine Tür und zog ihn zu sich. Sie umarmte ihn leidenschaftlich und presste sich eng an ihn. „Komm mit in mein Schlafzimmer. Ich muss dich sofort besitzen.“ Sie klammerte sich an ihn, er fürchtete sich vor dem, was nun folgen würde. Die Erlebnisse der vergangenen Stunden zeigten deutlich Wirkung. Ihm war zwar nicht zum Schlafen zumute, aber auch nicht zum Beischlafen. Die Enttäuschung für sie würde groß sein.

Er hatte sich getäuscht. Lore stieß ihn auf ihr breites Bett, zog ihm die Kleider vom Leib und war ohne große Probleme in der Lage, Totgeglaubte wieder zum Leben zu erwecken. Sie war von Lust und Leidenschaft besessen, stieß immer wieder kurze Schreie aus, biss ihn in seine Ohren, die Nase und andere Körperteile. Er selbst brauchte nicht viel beizutragen. Sie bebte am ganzen Körper und ließ erst nach, nachdem sie sich in einem gewaltigen Orgasmus Befreiung verschafft hatte. Danach sank sie neben ihm auf ihr Kissen, küsste seine Stirn und flüsterte zärtliche Worte in sein Ohr. Sie wirkte befriedigt. ‚Also ist sie doch keine Nymphomanin‘, dachte Daniel. Er hatte gelesen, dass ständiges Unbefriedigtsein für Nymphomaninnen typisch sei. Er überlegte, ob dies ein günstiger Zeitpunkt wäre, um ihr von sich und seiner Situation zu berichten. Doch sie kam ihm zuvor, indem sie von sich und ihrem Leben erzählte.

„Zwei Dinge sind mir in die Wiege gelegt worden: Erstens, dass ich die Tochter eines Königs bin und, zweitens, eine unbändige Lust an der Lust habe. Es ist mein Schicksal. An beidem kann und werde ich nichts ändern. Von einer Prinzessin erwarten zwar viele, dass sie sich an die höfische Etikette hält, doch die haben sich verklemmte mittelalterliche Sittenwächter ausgedacht. Was soll heute noch der Hofknicks, den ich zu bestimmten Angelegenheiten meiner eigenen Mutter schulde? Wer heute auf einem offenen Platz Hunger bekommt, kauft sich eine Bratwurst und isst sie vor den Augen der Vorbeigehenden. Anschließend schleckt er vielleicht noch ein Eis. Im alten Griechenland war so etwas streng verpönt. Heute ist es üblich, und es besteht kein Grund, nicht mit anderen Bedürfnissen ähnlich zu verfahren. Noch nie habe ich jemandem Gewalt angetan, ihn erpresst oder genötigt. Vielen Männern geht es ähnlich wie mir, doch sie trauen sich nicht. Dann ist’s gut, wenn ich die Initiative ergreife. Wenn ich keine Prinzessin wäre, würde kaum jemand Notiz von meinem Tun nehmen. Unser Schlossgeistlicher hat sich meinen Eltern gegenüber einmal an meinem Sittenwandel gestört. Doch ich glaube keiner Religion. Deren Geschichten sind voller Lügen. Alle Heiligtuer hatten es faustdick hinter den Ohren, oder sie kamen mit ihren Ansprüchen nicht klar. Nimm den Heiligen Benedikt von Nursia, den Gründer des ersten christlichen Ordens. Kaum hatte er begonnen, sich zu kasteien, da wurde er von erotischen Fantasien überwältigt. Was tat er? Er griff zur Peitsche und geißelte sich. Bis heute tun viele Ordensleute es ihm nach. Sie nennen das ‚Disziplin‘. Ich frage: Ist es Gott wohlgefälliger, sich den Rücken blutig zu schlagen, als zu masturbieren oder zu bumsen? Nein, ich bewundere diesen Ordensmann nicht. Viel eher sehe ich den griechischen Philosophen Diogenes als Vorbild. Der rülpste, furzte, onanierte und kopulierte in aller Offenheit. Das war für ihn Ausdruck totaler Freiheit. Auch ich werde mir die Freiheiten nehmen, die ich brauche. Weil ich das auch überall so sage, haben sich viele schon daran gewöhnt. Die Zahl meiner Anhänger nimmt zu. Immer mehr Menschen trauen sich, das auch offen zu bekennen. Meine Eltern und den Ministerpräsidenten unseres Landes habe ich bisher allerdings nicht überzeugen können.“

 

Lore stand vom Bett auf, sammelte vom Boden ihre Kleider auf und versprach, bald wiederzukommen. „In zwei Stunden werde ich dir etwas zu essen bringen. Ruh dich bis dahin aus. Wenn du mit mir mithalten willst, brauchst du Kraft.“

„Dann muss ich dir etwas von mir erzählen“, antwortete Daniel. „Auch ich habe ein Problem.“

Lore verabschiedete sich und warf ihm noch einen freundlichen Blick zu. Sie schien zufrieden zu sein. Er musste länger als zwei Stunden auf sie und seine Mahlzeit warten. Als sie endlich kam, wirkte sie ungeduldig und überdreht. Kaum, dass er gegessen hatte, hielt sie ihm den Mund zu und machte sich wieder über ihn her. Sie schien unersättlich. „Glaube nicht, dass du mir entkommst“, sagte sie und begann zu stöhnen. „Nie mehr wirst du einer anderen Frau als mir gehören. Du machst mich heiß. Ich verbrenne vor Lust und werde keine Ruhe geben, bis ich den letzten Rest an Manneskraft aus dir herausgesaugt habe.“ Dann stieß sie unverständliche Laute aus, steigerte sich wieder in höchste Ekstase und sank anschließend ermattet auf seine Brust. „Sag mir, wen hast du umgebracht?“, fragte sie dann. Sie hatte offenbar inzwischen einiges über ihn erfahren, über das er mit ihr reden wollte. Was sie gehört hatte, schien sie aber grade beim Geschlechtsakt animiert zu haben. War sie doch pervers?

„Glaub mir, ich bin unschuldig“, erklärte er, und die Art, wie er das ausdrückte, ließ keinen Raum für einen Zweifel an seiner Aussage.

„Mein Vater hat mich zu sich gerufen. Er ist außer sich. Irgendwer hat angeblich im Flugzeug fotografiert, wie ich mit dir zusammen war. Das Bild soll morgen in den Medien erscheinen. Das Foto ist, so heißt es, nicht sehr deutlich. Ich könnte es leugnen, doch die Presse und wohl auch unsere Nachrichtendienste sind schon hinter den Einzelheiten her. Das müssen wir durchstehen. Ich glaube dir, dass du niemanden umgebracht hast. Noch nie habe ich mit einem Mörder geschlafen und will das auch in Zukunft nicht tun. Das unterscheidet mich von vielen meiner Vorfahrinnen. Wenn die mit ihren hochadligen Angetrauten Verkehr hatten, waren eine Menge Mörder und Schlächter darunter.“

„Wenn die Medien über uns berichten, dann wäre es ja besser gewesen, ich hätte mich zu Hause der Polizei gestellt“, erwiderte Daniel erschrocken „Ich hatte solche Angst davor, in der Öffentlichkeit zerstückelt zu werden.“

„Meinem Vater gegenüber habe ich behauptet, ich hätte dich heute Morgen in die Innenstadt gebracht und dort ausgesetzt. Zum Glück war ich tatsächlich zu Besorgungen unterwegs. Mein Vater hat es sofort überprüfen lassen. Gottlob liegt noch kein Auslieferungsantrag gegen dich vor. Du musst jedoch so schnell wie möglich unser Land verlassen.“

„Bitte hilf mir dabei“, flehte er. „Wenn ich ihn unmittelbar erleben müsste, könnte ich weder den Rummel hier noch den in Deutschland ertragen.“

„Du kannst dich auf mich verlassen. Ich habe viele wichtige Freunde. Nur in meinem Schlafzimmer bist du nicht mehr sicher. Dort wird man bald nach dir suchen. Folge mir in einen anderen Raum. Er ist eines von 236 Zimmern in diesem Schloss. Wir nennen ihn ‚Salon Nabucco‘. Wir haben einige Räume nach Opern benannt. Sehr selten nur wird er genutzt, und dann nur für familiäre Besprechungen.“

Sie drängte zur Eile, und er ließ sich von ihr in den „Salon Nabucco“ führen. Das war ein geräumiges Zimmer mit rundem Tisch, mehreren Sesseln. An den Wänden standen schwere Eichenschränke und Bücherregale. Auf denen befanden sich mehrere Fotos aus der königlichen Familie. Daniel fielen vor allem diejenigen auf, die Lore als Dressurreiterin zeigten. Lore nahm eines davon in die Hände und zeigte es ihm stolz. „Es wurde nach den letzten nationalen Reitturnieren aufgenommen. Ich war zweimal Landesmeisterin. Das kann mir niemand nehmen. In diesem Zimmer bist du vorerst sicher“, ergänzte sie. „Damit du dich nicht langweilst, kannst du in den Büchern und Magazinen lesen. Viele befassen sich mit unserer Familie bis zum Beginn des letzten Jahrtausends. Es sind nicht nur schöne Geschichten. Die sind eher selten. Meistens geht es um Zweckheiraten, Intrigen, Machtkämpfe, Mord und Totschlag, auch um Frauen, die so ähnlich waren wie ich. Lass dich überraschen.“

Ihr Handy klingelte, und sie wurde bleich. „Schnell, ich muss dich im Schrank verstecken. Meine Eltern sind hierher unterwegs. Sie dürfen dich auf keinen Fall sehen.“ Sie öffnete die Tür zu einem breiten Schrank und schubste ihn hinein. Sekunden später wurde die Tür zum Salon geöffnet und Lores Eltern betraten den Raum. „Setz dich, Lore, wir haben mit dir zu reden“, sagte eine männliche Stimme. Daniel konnte mithören, was nun gesprochen wurde. Er war in einer unbequemen Lage, traute sich aber nicht, sich im Schrank zu bewegen.

„Du bringst es noch so weit, dass ich abdanken muss …“, erklärte der Vater erregt. „… und dass die Monarchie ganz abgeschafft wird“, ergänzte die Mutter. „Du bist Prinzessin, die Nummer drei in der Thronfolge. In jedem Jahr erhältst du vom Staat Geld und eine Menge Privilegien. Das hast du zu berücksichtigen. Du kannst nicht tun, was dir in den Sinn oder sonst wohin kommt. Deine private Sphäre ist eng. Als Mitglied unserer Familie hast du eine Vorbildfunktion. Lange genug waren wir bemüht, deine Eskapaden geheimzuhalten, zu vertuschen oder zu verniedlichen. Das geht nun nicht mehr. Alle Zeitungen schreiben darüber. In Kneipen wird über dich gespottet und gelästert. Du bringst mich, unsere Familie und die ganze Monarchie in Verruf. Was du da mit dem jungen Deutschen angestellt hast, setzt allem die Krone auf. Wir hatten dich zu Tante Agathe nach Deutschland geschickt, weil wir gehofft haben, sie würde einen guten Einfluss auf dich nehmen. Sie, die heute so hochgeschätzte Fürstin von Felsenstein, hat in ihrer Jugend auch keine Gelegenheit ausgelassen, sich den unterschiedlichsten Männern an den Hals zu werfen, Verwandten, Adligen, Bürgerlichen, Prinzen, Reitlehrern, Türstehern und Domestiken. Das alles ist längst vorbei. Sie führt eine vorbildliche Ehe, ist eine treusorgende Mutter, tut viele gute Werke und ist frei von Skandalen. Hat sie dir nicht helfen können?“

„Wie hätte sie mir helfen sollen? Sie hat sich alle Geschichten von mir erzählen lassen, jedes Detail hat sie interessiert. Vieles hat sie an die eigenen Erlebnisse erinnert, die sie nicht leugnet und die ihr viel Spaß gemacht haben. ‚Das legt sich irgendwann‘, hat sie gesagt. Wie ich ist sie der Meinung, dass jeder tun darf, was anderen nicht schadet. Alle Welt vögelt, die einen mehr, die anderen weniger. Es gibt derzeit mehr als sieben Milliarden Menschen. Wo kommen die alle her? Da muss doch viel Lust und Leidenschaft im Spiel sein. Stehen wir also dazu und gehen wir das Thema offen an. Was würde es schaden, lieber Vater, wenn du öffentlich erklären würdest: ‚Ich habe eine Tochter, die liebt den Sex und schämt sich nicht dafür. Außerdem ist sie eine hochbegabte Dressurreiterin, hatte in der Schule in Religion eine eins und beim Studium der Geschichte erreicht sie gute Noten. Sie kommt ihren Repräsentationspflichten als Prinzessin vorbildlich nach. Seien wir alle froh, dass wir sie haben.‘“