Buch lesen: «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch»

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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Fjodor Dostojewski

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil. Das Kellerloch[1]

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Zweiter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

1

Impressum

Erster Teil. Das Kellerloch[1]

I

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z.B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wen ich mit meiner Bosheit ärgern will, ich weiß auch ganz genau, daß ich nicht einmal den Ärzten dadurch schaden kann, daß ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß am allerbesten, daß ich damit einzig und allein mir selbst schade und niemandem sonst.

Und dennoch, wenn ich nichts für meine Gesundheit tue, so geschieht es aus Bosheit, und ist die Leber krank, dann mag sie noch ärger krank werden!

Ich lebe schon lange so – fast zwanzig Jahre. Jetzt bin ich vierzig. Früher habe ich gedient, jetzt aber diene ich nicht mehr. Ich war ein boshafter Beamter. Ich war grob und machte mir daraus ein Vergnügen. Ich war unbestechlich, folglich mußte ich mich wenigstens dadurch entschädigen. (Ein fauler Witz; aber ich streiche ihn nicht aus. Ich schrieb ihn hin in dem Glauben, er würde sich sehr geistreich ausnehmen; aber jetzt, da ich selbst sehe, daß ich mit diesem Witz nur erbärmlich angeben wollte – jetzt streiche ich ihn erst recht nicht aus!) Wenn sich dem Pult, an dem ich saß, Bittsteller mit Anfragen näherten, fuhr ich sie an und empfand tiefste Genugtuung, wenn es mir gelang, jemanden einzuschüchtern. Und das gelang fast immer. Meistens war das ein recht schüchternes Volk: eben Bittsteller. Unter den Dreisteren gab es einen Offizier, den ich nicht ausstehen konnte. Er wollte sich nicht ergeben und rasselte geradezu widerwärtig mit seinem Säbel. Dieses Säbels wegen habe ich mit ihm anderthalb Jahre Krieg geführt. Schließlich war der Sieg mein. Er unterließ das Rasseln. Aber das war noch in meiner Jugend. Wissen Sie auch, meine Herrschaften, worin gerade der Hauptgrund meiner Bosheit lag? Das war es ja, darin lag ja die größte Gemeinheit, daß ich in jeder Minute, selbst im Augenblick der galligsten Wut, mir schmählich eingestehen mußte, daß ich nicht nur kein böser, sondern nicht einmal ein boshafter Mensch bin, daß ich mit Kanonen auf Spatzen schieße und darin mein Vergnügen suche. Schaum steht mir vor dem Munde, aber bringt mir irgendein Püppchen, gebt mir ein Täßchen Tee mit Zucker, und ich werde mich höchstwahrscheinlich besänftigen. Ich werde gerührt sein, wenn ich mich auch nachher, wahrscheinlich, selbst zerfleischen und vor Scham monatelang an Schlaflosigkeit leiden werde. Das ist nun einmal meine Art.

Übrigens habe ich mich vorhin verleumdet, als ich sagte, daß ich ein boshafter Beamter gewesen sei. Aus Bosheit habe ich gelogen. Ich habe nur Mutwillen getrieben, sowohl mit den Bittstellern als auch mit dem Offizier, in Wirklichkeit konnte ich niemals böse werden. In jedem Augenblick war ich mir vieler widersprechender Regungen bewußt. Ich fühlte sie nur so wimmeln in mir, diese widersprechenden Regungen. Ich wußte, daß sie ein ganzes Leben lang in mir wimmelten und aus mir heraus wollten, aber ich ließ sie nicht heraus. Ich ließ sie nicht heraus, absichtlich ließ ich sie nicht heraus. Sie quälten mich bis zur Scham; sie brachten mich bis zu Krämpfen, und ich – ich wurde sie schließlich leid, maßlos leid! Glauben Sie, meine Herrschaften, daß ich jetzt etwa irgend etwas bereue, vor Ihnen? Daß ich für irgend etwas Ihre Verzeihung erbitte? Ich bin überzeugt, daß Sie das glauben … Doch übrigens, ich versichere Sie, mir ist es ganz gleich, was Sie da glauben …

Nicht nur, daß ich es nicht fertigbrachte, böse zu werden, ich brachte es nicht einmal fertig, überhaupt etwas zu werden, weder böse noch gut, weder Schuft noch Ehrenmann, weder Held noch Insekt. Jetzt friste ich die Tage in meinem Winkel, indem ich mich selbst mit dem böswilligen und zugleich sinnlosen Trost aufstachle, daß ein kluger Mensch ernsthaft überhaupt nie etwas werden kann und nur ein Dummkopf etwas wird. Ja, der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muß, er ist dazu sogar moralisch verpflichtet, ein im großen und ganzen charakterloses Wesen sein; dagegen ist ein charakterfester Mensch, ein Tatmensch – ein im großen und ganzen beschränktes Wesen. Dies ist meine vierzigjährige Überzeugung. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt, und vierzig Jahre – das ist doch das ganze Leben; das ist das äußerste Alter. Länger als vierzig Jahre zu leben ist unanständig, trivial, unsittlich. Wer lebt denn noch über vierzig Jahre? Antworten Sie aufrichtig und ehrlich. Ich kann Ihnen sagen, wer über vierzig Jahre lebt: Dummköpfe und Spitzbuben. Ich will das allen Greisen ins Gesicht sagen, all diesen ehrwürdigen Greisen, all diesen silberhaarigen und parfümierten Greisen! Ich sage es der ganzen Welt ins Gesicht, ich habe das Recht, so zu sprechen, weil ich selbst bis sechzig leben werde! Bis siebzig werde ich leben! Bis achtzig werde ich leben! Warten Sie! Lassen Sie mich Atem holen …

Sie glauben wahrscheinlich, meine Herrschaften, daß ich Sie zum Lachen bringen möchte, aber auch darin irren Sie sich. Ich bin durchaus kein so lustiger Mensch, wie es Ihnen vorkommt, oder wie es Ihnen vielleicht vorkommt; sollten Sie aber, verärgert durch dieses Geschwätz (ich spüre ja, daß Sie verärgert sind), auf den Gedanken kommen, mich zu fragen, wer ich denn eigentlich sei – so werde ich Ihnen antworten: ich bin ein Kollegienassessor. Ich diente, um nicht zu verhungern (einzig aus diesem Grund), und als im vorigen Jahr ein entfernter Verwandter mir testamentarisch sechstausend Rubel hinterließ, nahm ich sofort meinen Abschied und ließ mich hier in meinem Winkel nieder. Ich habe schon früher in diesem Winkel gelebt, jetzt aber ließ ich mich in diesem Winkel nieder. Mein Zimmer ist ein elendes, scheußliches Loch am Rande der Stadt. Meine Aufwartefrau – ein Bauernweib, alt, vor lauter Dummheit böse, zudem noch ständig unausstehlich riechend. Man sagt mir, das Petersburger Klima sei mir schädlich und Petersburg für meine kümmerlichen Mittel viel zu teuer. Ich weiß das alles ganz genau, besser als diese erfahrenen und überklugen Ratgeber und Kopfnicker. Aber ich bleibe in Petersburg; ich werde Petersburg nicht verlassen. Ich werde es nicht verlassen, weil … ach! Aber es ist doch vollkommen gleichgültig, ob ich es nun verlassen oder nicht verlassen werde.

Übrigens: worüber kann ein anständiger Mensch mit dem größten Vergnügen reden?

Antwort: über sich selbst.

Also werde auch ich über mich selbst reden.

II

Meine Herrschaften, jetzt möchte ich Ihnen erzählen, gleichviel, ob Sie es hören wollen oder nicht, warum ich nicht einmal ein Insekt zu werden verstand. Ich möchte feierlichst erklären, daß ich schon mehrere Male ein Insekt werden wollte. Doch nicht einmal dazu ist es gekommen. Ich schwöre Ihnen, meine Herrschaften, daß zuviel Bewußtsein – eine Krankheit ist, eine richtige, regelrechte Krankheit. Für den alltäglichen menschlichen Bedarf wäre ein gewöhnliches menschliches Bewußtsein mehr als genug, also etwa die Hälfte, ein Viertel jener Portion, die dem entwickelten Menschen unseres unglücklichen neunzehnten Jahrhunderts zukommt, der dazu noch das besondere Unglück hat, in Petersburg zu leben, der abstraktesten und ausgedachtesten Stadt der ganzen Welt. (Es gibt ausgedachte und nicht ausgedachte Städte.) So würde z. B. jenes Bewußtsein, mit dem alle sogenannten unmittelbaren Menschen, die Tatmenschen, leben, vollkommen ausreichen. Ich könnte wetten, Sie glauben jetzt, daß ich dies aus Anmaßung schreibe, um mich über die Tatmenschen lustig zu machen, noch dazu aus einer Anmaßung von allerschlechtestem Geschmack, daß ich mit dem Säbel raßle, wie mein Offizier. Aber meine Herrschaften, wer könnte denn auf seine Krankheit, auf seine Leiden stolz sein? Wer könnte sich mit ihnen brüsten?

Übrigens, was sage ich? – Alle tun das. Man prahlt mit seinen Krankheiten und ich – meinetwegen – mehr als alle anderen. Streiten wir nicht darüber: mein Einwand ist absurd. Aber ich bin fest überzeugt, daß nicht nur zuviel Bewußtsein, sondern sogar jedes Bewußtsein eine Krankheit ist. Ich bestehe darauf. Aber lassen wir auch dieses Thema für einen Augenblick fallen. Sagen Sie mir bitte folgendes: Wie kommt es, daß ich ausgerechnet in jenen, ja, ausgerechnet in jenen Augenblicken, in denen ich mir aller Feinheiten ›des Schönen und Erhabenen‹ – so wurde es bei uns genannt – bewußt war, zuweilen derart unansehnlicher Handlungen mir nicht allein nur bewußt war, sondern sie auch begehen konnte, Handlungen, die … nun ja, mit einem Wort, die meinetwegen von allen begangen werden, die aber von mir gerade dann begangen wurden, wenn ich am deutlichsten erkannte, daß man sie überhaupt nie begehen sollte? Je mehr ich von der Erkenntnis des Guten und von all diesem ›Schönen und Erhabenen‹ durchdrungen war, um so tiefer versank ich in meinem Schlamm, um so bereitwilliger war ich, völlig in ihm steckenzubleiben. Doch das wichtigste war, daß all dies gewissermaßen nicht zufällig sich so verhielt, sondern als müßte es geradezu so sein, als sei dies mein allernormalster Zustand, durchaus nicht Krankheit und Makel, so daß mir schließlich die Lust verging, gegen diesen Makel anzukämpfen. Es endete damit, daß ich beinahe glaubte (vielleicht aber habe ich es in der Tat geglaubt), dies sei unter Umständen mein eigentlicher, normaler Zustand. Zuerst aber, am Anfang, wie viele Qualen habe ich in diesem Kampf ausgestanden! Ich glaubte nicht, anderen erginge es ebenso, und verbarg es mein Leben lang wie ein Geheimnis. Ich schämte mich (vielleicht schäme ich mich sogar jetzt noch); es kam so weit, daß ich einen heimlichen, anormalen, gemeinen Genuß empfand, wenn ich in einer der ekelhaftesten Petersburger Nächte in meinen Winkel zurückkehrte und dabei mit aller Deutlichkeit einsah, daß ich heute wieder eine Gemeinheit begangen hatte, daß das Getane auf keine Weise ungeschehen gemacht werden konnte, und mich dafür innerlich, verstohlen zu zerfleischen, zu foltern begann, so lange, bis die Verbitterung sich schließlich in irgendeine schmähliche, verfluchte Süße wandelte – in einen entschiedenen, wirklichen Genuß. Ja, in einen Genuß, in einen Genuß! Ich bestehe darauf. Deswegen habe ich doch überhaupt angefangen zu sprechen, weil ich schon immer ganz genau erfahren wollte: haben die anderen auch solche Genüsse? Ich werde es Ihnen erklären; der Genuß liegt gerade in dem allzu grellen Bewußtsein der eigenen Erniedrigung; in dem Bewußtsein, daß man an der letzten Mauer angelangt ist; daß es zwar schändlich ist, aber auch nicht anders sein kann; daß man keinen Ausweg hat, daß man nie und nimmer ein anderer Mensch werden wird; daß, selbst wenn man noch Zeit und Glauben hätte, sich in etwas anderes zu verändern, man wahrscheinlich selber eine solche Veränderung nicht wollte; wollte man sie aber, so ließe sich auch hier nichts ausrichten, weil es im Grunde genommen vielleicht gar nichts gibt, in das man sich verändern könnte. Aber in der Hauptsache und letzten Endes verläuft das alles nach den normalen und fundamentalen Gesetzen des gesteigerten Bewußtseins und der Trägheit, die sich unmittelbar aus diesen Gesetzen ergibt. Folglich kann man nicht nur sich nicht verändern, sondern man kann überhaupt nichts ändern. Zum Beispiel ergibt sich aus dem gesteigerten Bewußtsein: stimmt, du bist ein Schuft – als ob es für den Schuft ein Trost wäre, wenn er schon selbst empfindet, daß er tatsächlich ein Schuft ist. Aber genug … Ich habe viel geschwatzt, ist aber dadurch etwas geklärt? Wodurch läßt sich dieser Genuß erklären? Aber ich werde es erklären, ich werde es schon zu Ende führen! Deswegen habe ich doch zur Feder gegriffen …

Ich bin zum Beispiel ganz furchtbar ehrgeizig. Ich bin argwöhnisch und empfindlich wie ein Buckliger oder ein Zwerg, aber offen gestanden, ich habe auch Augenblicke erlebt, in denen ich mich, wäre ich von jemandem geohrfeigt worden, sogar darüber gefreut hätte. Im Ernst: ich hätte es bestimmt verstanden, auch darin einen Genuß eigener Art zu finden, einen Genuß der Verzweiflung, versteht sich, aber gerade in der Verzweiflung liegen die verzehrendsten Genüsse, besonders, wenn man die Aussichtslosigkeit seiner Lage deutlich erkennt. Und hier, nämlich bei der Ohrfeige, hier wird man ja förmlich von dem Bewußtsein der eigenen Erniedrigung erdrückt. Die Hauptsache aber, wie man es auch dreht und wendet, liegt darin, daß ich als erster an allem schuld bin, und zwar – das ist das kränkendste – schuldlos schuldig, sozusagen gemäß der Natur der Dinge. Erstens deshalb, weil ich klüger bin als alle, die mich umgeben (ich habe mich stets für klüger gehalten als alle, die mich umgaben, und bin manches Mal – glauben Sie mir – deswegen verlegen geworden; wenigstens habe ich mein Leben lang immer irgendwie zur Seite gesehen und niemals den Menschen gerade in die Augen blicken können). Und schließlich bin ich deshalb schuldig, weil ich, selbst wenn ich großmütig gewesen wäre, infolge des Bewußtseins der ganzen Nutzlosigkeit dieser Großmut nur noch mehr gelitten hätte. Ich hätte doch bestimmt nichts mit meiner Großmut anzufangen gewußt; weder zu verzeihen – der Beleidiger hätte mich vielleicht aus einer Naturgesetzmäßigkeit heraus geohrfeigt, und der Naturgesetzmäßigkeit hat man nicht zu verzeihen – noch zu vergessen; denn wenn es auch eine Naturgesetzmäßigkeit ist, so bleibt es doch eine Beleidigung. Und schließlich, hätte ich mich entschlossen, durchaus nicht großmütig zu verfahren, und mich, ganz im Gegenteil, am Beleidiger rächen wollen, so hätte ich mich doch für nichts und an niemandem rächen können, weil ich wahrscheinlich nicht gewagt hätte, etwas zu tun, selbst wenn ich es gekonnt hätte. Warum hätte ich es nicht gewagt? Darauf möchte ich mit einigen Worten eingehen.

III

Wie ergeht es denn Menschen, die es verstehen, sich zu rächen, und die überhaupt verstehen, sich zu behaupten? Wenn sie von Rachedurst gepackt werden, bleibt von ihrem ganzen Wesen überhaupt nichts mehr übrig außer dem einen Gefühl. Ein Herr von dieser Sorte schießt denn auch sofort wie ein wildgewordener Stier mit gesenkten Hörnern auf das Ziel los, und höchstens eine Mauer kann ihn noch zum Stehen bringen.

(Bei dieser Gelegenheit sei noch bemerkt: vor einer Mauer geben sich solche Herrschaften, d. h. die Unmittelbaren und die Tatmenschen, bedenkenlos geschlagen. Für sie ist die Mauer kein Einspruch, wie z. B. für uns denkende und folglich tatenlose Menschen; kein Vorwand, auf dem Wege umzukehren, ein Vorwand, der für unsereinen meistens unglaubwürdig, aber stets willkommen ist. Nein, sie geben sich bedenkenlos geschlagen. Die Mauer ist für sie stets etwas Beruhigendes, moralisch Eindeutiges und Endgültiges, meinetwegen sogar etwas Mystisches … Doch von der Mauer später.) Also gerade diesen unmittelbaren Menschen halte ich für den eigentlichen, den normalen Menschen, wie ihn die zärtliche Mutter Natur selbst wollte, als sie ihn liebenswürdigerweise auf Erden entstehen ließ. Solch einen Menschen beneide ich bis zur grünen Galle. Er ist dumm. Darüber will ich mit Ihnen nicht streiten, vielleicht muß der normale Mensch dumm sein, woher wollen Sie das wissen? Vielleicht ist das sogar ganz schön. Ich bin um so mehr von diesem, sozusagen, Argwohn überzeugt, weil – nehmen wir beispielsweise die Antithese des normalen Menschen, d. h. den überbewußten Menschen, der selbstverständlich nicht dem Schoße der Natur, sondern der Retorte entsprungen ist (das ist schon fast Mystizismus, meine Herrschaften; ich argwöhne auch das) –, weil dieser Retortenmensch zuweilen dermaßen vor seiner Antithese versagt, daß er sich selbst samt seinem Überbewußtsein in aller Aufrichtigkeit für eine Maus hält, nicht aber für einen Menschen. Mag er auch eine überbewußte Maus sein, er ist doch nur eine Maus, jener aber ist ein Mensch, daraus folgt alles andere. Die Hauptsache aber, er selbst hält sich für eine Maus; keiner verlangt es von ihm; und das ist ein wichtiger Umstand. Betrachten wir nun diese Maus in Aktion. Nehmen wir zum Beispiel an, daß sie auch beleidigt ist (und sie ist fast immer beleidigt) und sich gleichfalls rächen will. Bosheit kann sich in ihr noch mehr ansammeln als in dem homme de la nature et de la vérité . Der gemeine niedrige Wunsch, dem Beleidiger mit derselben Münze heimzuzahlen, macht sich in ihr noch widerlicher bemerkbar als in dem homme de la nature et de la vérité, denn dieser homme de la nature et de la vérité hält bei seiner angeborenen Dummheit die Rache ganz einfach für Gerechtigkeit; die Maus aber muß infolge ihres gesteigerten Bewußtseins eine solche Gerechtigkeit verneinen. Endlich kommt es zur Ausführung, zum Racheakt selbst. Die unglückliche Maus hat es bereits fertiggebracht, außer der einen ursprünglichen Gemeinheit noch so viele neue Gemeinheiten in Gestalt von Fragen und Zweifeln aufzutürmen, sie hat an die eine Frage so viele ungelöste Fragen gereiht, daß sich um sie herum notwendig eine verhängnisvolle Pfütze ansammelt, ein stinkender Schlamm, bestehend aus ihren Zweifeln, ihrer Erregung und schließlich aus dem Geifer, der auf sie von all den unmittelbaren Tatmenschen niederregnet, die sie als Richter und Diktatoren in feierlichem Kreise umgeben und aus vollem Halse über sie lachen. Selbstverständlich bleibt ihr nichts anderes zu tun übrig, als mit ihrem Pfötchen eine geringschätzige Gebärde zu machen und mit einem Lächeln vorgetäuschter Verachtung, an die sie selbst nicht glaubt, schmählich in ihr Mauseloch zurückzuschlüpfen. Dort, in ihrem scheußlichen stinkenden Kellerloch, versinkt unsere beleidigte, geprügelte und verhöhnte Maus unverzüglich in kalte, giftige und vor allen Dingen ewig andauernde Bosheit. Volle vierzig Jahre wird sie sich bis in die letzten, schmählichsten Einzelheiten der Kränkung erinnern und dabei jedesmal von sich aus noch schimpflichere Details hinzufügen, sich mit ihrer eigenen Phantasie boshaft verspottend und reizend. Sie wird sich ihrer Phantasie schämen, trotzdem aber alles behalten, alles auskosten, wird sich selbst unerhört verleumden unter dem Vorwand, daß dies alles ja ebensogut hätte wirklich geschehen können, und wird nichts, aber auch nichts verzeihen. Am Ende wird sie auch anfangen sich zu rächen, doch irgendwie sporadisch, kurzatmig, hinter dem Ofen hervor, inkognito, ohne sich das Recht auf Rache zuzugestehen, ohne an den Erfolg der Rache zu glauben, und im voraus wissend, daß sie selbst unter all ihren Bemühungen hundertmal mehr leiden wird als der, an dem sie sich rächen will, ja, daß dieser vielleicht nicht einmal etwas spüren wird. Auf dem Sterbebett wird sie sich wiederum des Ganzen erinnern, einschließlich aller in der Zwischenzeit hinzugekommenen Prozente und … Aber gerade in dieser kalten ekelhaften Halbverzweiflung, in diesem Halbglauben, in diesem leidvollen bewußten Sich-selbst-lebendig-Begraben, in einem Kellerloch auf volle vierzig Jahre, in dieser mit größtem Aufwand ausgeklügelten und dennoch zum Teil zweifelhaften Aussichtslosigkeit, in all dem Gift ungestillten, im Innern gestauten Begehrens, in diesem Fieber eines Schwankens zwischen auf ewig gefaßten Entschlüssen und im Augenblick auftretender Reue – darin, gerade darin liegt die Essenz jenes sonderbaren Genusses, von dem ich sprach. Er ist derart fein und dem Bewußtsein zuweilen so verborgen, daß auch die nur um ein weniges beschränkteren Menschen, ja sogar einfach Menschen mit starken Nerven, überhaupt nichts davon verstehen. Vielleicht können auch diejenigen nichts davon verstehen, werden Sie wohl mit einem spöttischen Lächeln hinzufügen, die niemals Ohrfeigen bekommen haben, und wollen mir auf diese Weise höflich zu verstehen geben, daß vielleicht auch ich schon in meinem Leben eine Ohrfeige bekommen habe und darum aus Erfahrung spreche. Ich könnte wetten, daß Sie das denken. Aber beruhigen Sie sich, meine Herrschaften, ich habe niemals Ohrfeigen bekommen, obwohl es mir vollkommen gleichgültig ist, was Sie darüber denken. Ich bedaure vielleicht, daß ich selbst in meinem Leben wenig Ohrfeigen ausgeteilt habe, aber genug, kein Wort mehr über dieses für Sie so ungemein interessante Thema.

Ich fahre ruhig fort, über die Menschen mit starken Nerven zu sprechen, denen ein gewisser erlesener Genuß unzugänglich bleibt. Diese Herrschaften brüllen zwar beispielsweise in bestimmten Fällen wie die Ochsen, aus vollem Halse, was ihnen meinetwegen die größte Ehre einbringt, aber, wie ich bereits erwähnte, beruhigen sie sich sofort vor jeder Unmöglichkeit. Eine Unmöglichkeit – also eine Mauer! Was für eine Mauer? Nun, versteht sich, Naturgesetze, naturwissenschaftliche Ergebnisse, Mathematik. Hat man dir einmal zum Beispiel bewiesen, daß du vom Affen abstammst, so darfst du nicht einmal die Nase rümpfen, sondern hast es hinzunehmen, wie es ist. Hat man dir bewiesen, daß ein einziges Tröpfchen deines eigenen Fettes dir teurer sein muß als Hunderttausend deinesgleichen und daß diese Einsicht schließlich alle sogenannten Tugenden und Pflichten und sonstige Spinnereien und Vorurteile aufklärt, so mußt du das ruhig hinnehmen, nichts dagegen zu machen, denn zwei mal zwei – ist Mathematik. Versuchen Sie, es zu widerlegen.

»Gestatten Sie«, wird man Ihnen zurufen, »dagegen gibt es keine Auflehnung: das ist Zwei-mal-zwei-gleich-vier! Die Natur wird sich nach Ihnen nicht richten; was gehen die Natur Ihre Wünsche an und ob ihre Gesetze Ihnen gefallen oder mißfallen. Sie müssen die Natur so nehmen, wie sie ist, und folglich auch ihre Resultate. Mauer bleibt also Mauer … usw. usw.« Herrgott, was gehen mich aber die Naturgesetze und die Arithmetik an, wenn mir diese Gesetze und das Zwei-mal-zwei-gleich-vier nicht gefallen? Versteht sich, ich werde in eine solche Mauer mit der Stirn keine Bresche schlagen können, wenn ich tatsächlich die Kraft dazu nicht habe, aber ich werde mich mit ihr auch nicht abfinden, bloß, weil ich vor einer Mauer stehe und meine Kräfte nicht ausreichen.

Als ob eine solche Mauer tatsächlich eine Beruhigung wäre, als ob sie den geringsten Trost enthielte, einzig, weil sie Zwei-mal-zwei-gleich-vier ist. Oh, Ungereimtheit aller Ungereimtheiten! Eine ganz andere Sache ist es doch: alles verstehen, alles einsehen, alle Unmöglichkeiten und alle Mauern; mit keiner Unmöglichkeit und mit keiner Mauer sich zufriedengeben, wenn einem das Sich-Zufriedengeben zuwider ist, mittels unausweichlicher logischer Kombinationen zu den allerwiderlichsten Schlüssen gelangen über das ewige Thema, daß man sogar an der Mauer irgendwie selbst schuld ist, obgleich es sich mit größter Klarheit zeigt, daß man durchaus schuldlos ist, infolgedessen schweigend und machtlos zähneknirschend wollüstig in Trägheit verweilen in dem Gedanken, daß es nicht einmal einen Grund gibt, sich über jemanden zu ärgern; daß überhaupt kein Objekt vorhanden ist und sich wahrscheinlich nie eines finden lassen wird, daß hier eine Täuschung vorliegt, eine Falschspielerei, einfach Schlamm – unbekannt was, unbekannt wer, aber ungeachtet all der Unsicherheit und Täuschung leidet man doch, und je mehr einem unbekannt ist, um so mehr leidet man.

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0+
Umfang:
170 S.
ISBN:
9783754173169
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Bookwire
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