Buch lesen: «Ein erlesener Todesfall»

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EIN ERLESENER TODESFALL
(Ein toskanischer Weingarten Cozy-Krimi – Buch Zwei)
FIONA GRACE
Fiona Grace

Debütautorin Fiona Grace ist die Verfasserin der LACEY DOYLE COZY-Krimis, welche bisher neun Bücher umfassen; der EIN TOSKANISCHER WEINGARTEN COZY-Krimis, die bisher zwei Bücher umfassen; und der BÄCKEREI AM STRAND COZY-Krimis, die bisher drei Bücher umfassen.

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Copyright © 2020 von Fiona Grace. Alle Rechte vorbehalten. Mit Ausnahme der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Datenabfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen verschenkt werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihr eigenes Exemplar. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist ein Werk der Belletristik. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Produkt der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jackenbild Copyright Kishivan, verwendet unter Lizenz von Shutterstock.com.

BÜCHER VON FIONA GRACE

EIN COZY-KRIMI MIT LACEY DOYLE

DER TOD KAM VOR DEM FRÜHSTÜCK (Buch #1)

FÄHRTENSUCHE IM SAND (Buch #2)

VERBRECHEN IM CAFÉ (Buch #3)

EIN VERHÄNGNISVOLLER BESUCH (Buch #4)

EIN TÖDLICHER KUSS (Buch #5)

EIN MALERISCHER MORD (Buch #6)

VERSTUMMT DURCH EINEN ZAUBER (Buch #7)

VERDAMMT DURCH EINE FÄLSCHUNG (Buch #8)

KATASTROPHE IM KLOSTER (Buch #9)

EIN TOSKANISCHER WEINGARTEN COZY-KRIMI

EIN ERLESENER MORD (Buch #1)

EIN ERLESENER TODESFALL (Buch #2)

EIN ERLESENES VERBRECHEN (Buch #3)

KAPITEL EINS

“Meins!”, rief Olivia Glass. “Ganz allein meins!”

Sie konnte die fassungslose Aufregung in ihrer eigenen Stimme hören, als sie sich dem einfachen, zweistöckigen Farmhaus näherte.

Seit gestern war alles unterschrieben, besiegelt, bezahlt und damit ihr Eigen. Hier, in diesem heruntergekommenen, aber dennoch wunderschönen Heim, in die Berge der Toskana genestelt, würde sie ihr neues Leben beginnen. Sie hatte diese Farm aus einem Impuls heraus gekauft – zusammen mit zwanzig Morgen Land – nachdem sie sich Hals über Kopf darin verliebt hatte. Olivia schätzte, dass diese Romantik eines Tages nachlassen würde, aber im Moment war sie völlig aufgekratzt, als sie zu dem Haus hinaufging und, nach einem kurzen Kampf mit der Türklinke, die Eingangstür aufschwang.

Eine Gänsehaut legte sich über ihren Rücken, als sie ihr neues Heim betrat.

Sie kickte Staubmäuse vor sich her, als sie durch den Flur schritt, an dem Handwerker am Tag vorher noch dringende Reparaturen vorgenommen hatten, und schließlich die Küche betrat. Es war ein großer Raum mit Aussicht auf die Berge, ausgestattet mit zerbrochenen Tresen, Schränken ohne Türen und Wasserhähnen, die nur sporadisch funktionierten. Die Wasserversorgung zu reparieren würde bestimmt nur eine nebensächliche Aufgabe werden.

Sie spürte, wie sich ihr Herz vor Aufregung und Angst zusammenzog. Das Haus hatte so viel Potenzial, aber war in solch einem vernachlässigten Zustand. Vor ihr lag ein Berg aus Arbeit. Olivia hatte keine Angst vor harter Arbeit, aber sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, diese hallende, zerbröckelnde Hülle voller Spinnweben in das gemütliche und funktionelle Heim zu verwandeln, das es in der Vergangenheit möglicherweise einmal gewesen war und nun wieder werden könnte.

Olivia musste niesen. Die Küche war staubig, doch im Moment konnte sie die Fenster nicht öffnen, weil die von Dreck und Rost ganz verklemmt waren. Sie entschloss, dass es besser wäre, draußen auf ihre beste Freundin Charlotte zu warten, mit der sie sich für einen Rundgang über die Farm verabredet hatte.

Als Olivia wieder in den sonnendurchfluteten Korridor trat, hielt sie plötzlich inne und starrte entsetzt auf den Neuankömmling, der soeben aufgetaucht war.

Zwischen ihr und der Tür, mitten auf dem pfirsichfarbenen Gipsfußboden, hockte eine riesige, haarige Spinne.

Olivia wich zurück, als sie in die Mitte des Sonnenstrahls krabbelte, der auf den Boden fiel. Sie begann, schnell und heftig zu atmen. Sie hatte eine Mordsangst vor Spinnen.

Ihr Apartment in Chicago, in dem sie in den letzten sechs Jahren gewohnt hatte, war brandneu, und sie wohnte im achten Stockwerk. Während ihrer Zeit dort hatten sich keine Spinnen bis zu ihr hochgearbeitet, daher hatte sie völlig vergessen, was für eine Angst sie vor ihnen hatte.

Doch jetzt erinnerte sie sich wieder.

Sie fand sie furchteinflößend!

Plötzlich zweifelte Olivia an der Klugheit ihrer Entscheidung, ihr sicheres, gemütliches Apartment verkauft zu haben und all ihr Geld in ein Haus voller lebensbedrohlicher Wildtiere zu investieren. Das Farmhaus war von Spinnweben überzogen. Das hieß wahrscheinlich, dass hier auch hunderte von Arachniden wohnten.

„Raus mit dir?“, versuchte Olivia es mit zitternder Stimme. Selbst ihr war klar, dass ihre Worte wenig von der benötigten Autorität widerspiegelten. Die Spinne ignorierte sie, scheinbar recht zufrieden in ihrem Fleckchen Sonne.

Unfähig, ihre Augen von dem Monster abzuwenden, griff Olivia hinter sich. Ihre Finger umklammerten ein Stück Holz, das von den Handwerkern gestern zurückgelassen wurde.

Sie könnte sie mit dem Brett anstupsen und sie somit dazu bewegen, ihr den Weg freizumachen. Dann könnte sie in aller Ruhe hinausspazieren.

Wahrscheinlich würde sie eher nach draußen hechten, gestand sie sich.

Olivia würde die Spinne nicht töten können. Das war nicht einmal eine Option, egal, wie viel Angst sie hatte. Sie könnte unmöglich ein unschuldiges, wenn auch angsteinflößendes, Wesen töten, das dieses Haus ihr Heim nannte. Sie spielte eine wichtige Rolle im Ökosystem. Welche Rolle das war, darüber war Olivia sich nicht sicher, aber sie wusste, dass es eine wichtige war.

Die Spinne brauchte nur ein wenig Überzeugung, sich zu bewegen. Nach draußen am besten, mindestens ein oder zwei Meilen weg von hier.

„Weg!“, rief sie und schüttelte eine blonde Strähne aus ihren Augen, als sie das Brett auf die Spinne zuschob.

Die Spinne kletterte auf das Brett, und Olivia ließ es schreiend fallen und sprang zurück.

„Das hatte ich nicht gemeint!“, jammerte sie.

Sie stieß mit ihrer Schulter gegen etwas Hartes. Es war das Gerüst, das die Handwerker am vorigen Tag hier zurückgelassen hatten, denn die hohen Decken hatten ebenfalls eine Reparatur nötig gehabt.

Der achtbeinige Besucher auf dem Boden hatte Olivia so hypnotisiert, dass sie das Gerüst über ihr ganz vergessen hatte.

Die Arbeiter hatten auf einem Holzbrett gestanden, das sich über die gesamte Länge des Flurs erstreckte.

Wenn Olivia auf das Gerüst kletterte, könnte sie über das Brett kriechen und an der Tür wieder hinunterklettern.

Dieser wagemutige Höhenakt würde ihr ermöglichen, die Spinne vollständig zu umgehen.

Olivia blickte das Gerüst hinauf und die Planke entlang.

Es wirkte höher, als sie es in Erinnerung hatte. Sie war kein Freund von Höhen.

Sie blickte wieder zurück zur Spinne.

Aber Höhen waren immer noch besser als das.

Olivia umklammerte das Metallgerüst und bemerkte, wie es schepperte und wackelte, als sie sich daran hinaufzog. So gefährlich kann es nicht sein, sagte sie zu sich selbst. Immerhin hatten die Handwerker den ganzen Tag darauf gearbeitet und Opern gesummt, während sie über das Brett balancierten und dabei hämmerten und bohrten.

Jetzt, wo Olivia dort oben war, war sie sich nicht sicher, wie sie das vollbracht hatten.

Auf allen Vieren kauernd legte sie eine testende Hand auf das Brett.

Es schwankte beunruhigend, und Olivia stieß ein erschrockenes Quieken aus.

Sie war jetzt vierunddreißig. Sie wollte gerne noch ihren fünfunddreißigsten Geburtstag erleben! War diese Idee zu leichtsinnig?

„Kein Zurück mehr“, trieb sie sich selbst an und legte auch ihre andere Hand auf das wackelige Brett. Das Gerüst auf der anderen Seite schien meilenweit entfernt zu sein.

Von ihrem Blickwinkel aus konnte sie sehen, wie das Licht durch das Farbglas über der hölzernen Eingangstür fiel. Sie waren von Staub überzogen, aber von hier konnte sie das bezaubernde Design sehen und sich vorstellen, wie herrlich die blauen, gelben, roten und grünen Scheiben aussehen würden, wenn sie erst einmal geputzt und poliert waren und die Morgensonne durch sie hindurchfiel.

Ermutigt von diesem positiven Gedanken kroch sie die Planke entlang.

„Iiik“, flüsterte sie. Das Brett war so schmal, dass sie nur mit Mühe ihr Gleichgewicht halten konnte, und es schwankte, als sie sich voranarbeitete, was ihr einen flauen Magen bescherte.

Was, wenn sie abstürzte und auf die Spinne fiel?

Obwohl sie hoch oben war, konnte sie sie noch immer sehen.

Wie sie auf sie wartete.

Olivia schnaubte besorgt bei dem Gedanken und klammerte sich an das Brett, während sie noch einige Zentimeter weiter vorankroch. Wer hätte gedacht, dass der Kauf eines Farmhauses zu solch einem risikofreudigen Verhalten führen würde? Sie hatte mit stundenlangem Putzen und Schrubben gerechnet, wenn sie die staubige und zerfallene Küche renovieren würde – welche zwar heruntergekommen, aber geräumig war, mit Tresen auf zwei Seiten und einer glorreichen Aussicht auf die Berge durch das größte der Fenster. Sie stellte sich einen Holztisch und Stühle in der Mitte vor und einen großen, neuen, glänzenden Ofen und die abgenutzten, kaputten Tresen ersetzt mit hellen, glänzenden Granitplatten und Töpfen mit Kräutern entlang der Fensterbänke.

In ihrer Vision würde sie das oben gelegene Schlafzimmer wieder auf Vordermann bringen, welches sowohl ein wundervolles Panorama über das Tal als auch ein großes Badezimmer mit einer riesigen Wanne, aber noch ohne Dusche, bot. Sie stellte sich die Wände in einem warmen Cremeton vor, mit gelben Vorhängen und rechts neben dem Fenster, ihr Bett an der gegenüberliegenden Wand mit einem großlinks en Gemälde darüber.

Sie hatte allerdings nicht erwartet, auf allen Vieren in schwindelerregenden Höhen über eine schmale, instabile Planke zu kriechen, um eine der größten und unberechenbarsten Spinnen zu umgehen, die sie in ihrem Leben je gesehen hatte.

Ihre Renovationspläne machten nicht die Fortschritte, die sie sich erhofft hatte.

Olivia machte sich langsam Sorgen darüber, dass ihr die Zeit davonrannte. Die Villa, die Charlotte ursprünglich gemietet hatte, war nur bis Ende des Sommers gebucht. Sie wusste nicht, ob ein paar kurze Monate ausreichen würden, um dieses hübsche, aber heruntergekommene Haus in ein auch nur annähernd bewohnbares Heim zu verwandelt, vor allem, wenn sie das Gelände jedes Mal verlassen wusste, sobald eine Spinne auftauchte. Das würde ihr gehörig Sand ins Getriebe streuen.

Olivia blickte auf, als sie hörte, wie sich von draußen schnelle Schritte näherten – was die Planke erneut zum Schwanken brachte.

„Sorry, dass ich spät bin“, rief Charlotte. „Ich wurde in der Villa aufgehalten. Die Hausmeister waren da, um den Springbrunnen draußen zu reparieren. Ich habe mir gedacht, du solltest hier auch eine installieren.“

„Hallo!“, rief Olivia nervös von oben herab. „Nicht reinkommen! Es ist gefährlich! Warte an der Tür!“

Charlotte steckte ihren Kopf durch die Tür und blickte überrascht zu Olivia hinauf.

Olivia starrte zurück – weit nach unten, denn Charlotte war ziemlich klein – in das runde Gesicht ihrer Freundin, von rotgesträhntem Haar umgeben und mit großen, erstaunten Augen.

„Was um alles in der Welt tust du da oben?“, fragte Charlotte ungläubig.

„Dort ist eine riesige Spinne“, erklärte Olivia mit vor Angst zitternder Stimme.

„Ich sehe nichts.“ Charlotte blickte den Flur entlang.

„Da!“ Ihr Leben riskierend nahm Olivia eine Hand von der Planke, um auf das Tier zu zeigen.

„Ach, da. Das kleine Ding?“ Charlotte klang überrascht. „Soll ich es für dich rausscheuchen?“

Sie marschierte in den Flur, und Olivias Herzschlag legte einen Gang zu.

„Sei vorsichtig“, quietschte sie.

Charlotte ging unerschrocken auf die Spinne zu.

„Raus mit dir!“, befahl sie mit strenger Stimme. „Du jagst meiner Freundin eine Heidenangst ein.“

Sie klatschte in die Hände, und die Spinne krabbelte gehorsam nach draußen.

Als sie durch die Tür verschwand, bemerkte Olivia zu ihrem Erstaunen, dass sie geschrumpft zu sein schien. Jetzt, wo Charlotte hier war, war sie nur noch halb so groß wie zuvor.

Charlotte schüttelte den Kopf und lachte.

„Olivia, du bist die einzige Person, die ich kenne, die lieber auf einem himmelhohen Gerüst den Tod in Kauf nimmt, anstatt an einer Spinne vorbeizugehen. Ich weiß noch, wie sehr du in der Schule Angst vor Spinnen hattest, aber ich dachte, aus der Angst wärst du herausgewachsen.“

Olivia rieb sich Staub aus ihren blauen Augen.

„Ich glaube, es ist sogar noch schlimmer geworden“, gab sie zu.

Charlotte sah sich draußen um.

„Sie ist weg“, versicherte sie Olivia. „Sie sucht sich jetzt wohl ein neues Zuhause, wo es ruhiger ist. Vielleicht richtet sie sich in diesem Ranken an den Seitenwänden ein. So, heute ist Erkundungstag. Sind wir bereit?“

„Und wie!“

Olivia trat aus dem warmen, staubigen Haus und sog dankbar die frische Luft ein. Sie konnte eine Spur von Abenteuer in der Brise ausmachen. Heute war der Tag, an dem sie jeden Quadratmeter ihres neuen Grundstücks erkunden und die Geheimnisse entdecken würde, die sich dort versteckten.

Zu Olivias Erstaunen war die Geschichte der alten Farm noch immer ein Mysterium, und sie hatte nur wenig darüber erfahren können, wer hier einst gewohnt hatte und zu welchem Zweck die ehemaligen Besitzer die hügeligen zwanzig Morgen genutzt hatten.

Heute hatte sie den Vormittag von ihrer Arbeit in der Probierstube von La Leggenda freibekommen, dem Weingut, auf dem sie als Sommelière arbeitete. Sie und Charlotte hatten entschieden, dass sie die Zeit dazu nutzen würden, das wilde, überwucherte Gelände auf der Suche nach Anhaltspunkten und Beweisen über die vorigen Besitzer genauestens zu durchkämmen.

Olivia konnte kaum erwarten, welche Geheimnisse sie womöglich aufdecken würden.

KAPITEL ZWEI

Als sie und Charlotte das Farmhaus hinter sich zurückließen, drehte Olivia sich um, um einen Blick darauf zu werfen, und sie wurde von Glück erfüllt. Es hatte vielleicht etliche Reparaturen bitter nötig, aber dieses bescheidene, zweistöckige Gebäude mit den geschwungenen Fenstern und soliden Steinwänden, die bronzen in der Morgensonne glühten, war sowohl elegant als auch robust. Es musste mindestens hundert Jahre alt sein, schätzte sie und wünschte sich, dass sie mehr über seine Geschichte erfahren könnte.

Wer hatte es gebaut, und wer hatte hier gewohnt? Wie war das Leben dort gewesen? Welche Romanzen und welcher Herzschmerz, welche Hoffnungen und Träume, hatten sich unter den ockerfarbenen Ziegeln und im Schatten der Korkeichen und Olivenbäume abgespielt?

Sie wandte sich ab und blickte hinaus über die Berge.

Sie konnte sich glücklich schätzen, diese beinahe schwindelerregend schöne Aussicht von diesem hochgelegenen Grundstück in der Toskana ihr Eigen zu nennen. Der dramatische Fernblick änderte sich jede Stunde, wenn sich die Sonne und die Schatten bewegten. Gerade ergoss sich das Morgenlicht über die fernen Hügel und betonte den Flickenteppich aus Weinfeldern, Weizenfeldern, Wäldern und Wiesen in Tönen aus Gold und Grün. Ein Gefühl von Fassungslosigkeit überkam sie, dass das nun ihre Heimat war, die Aussicht, die sie nun, da sie hier wohnte, jeden Tag genießen würde.

Der Nachteil, ein so weit oben gelegenes Grundstück in einer hügeligen, trockenen Gegend der Toskana zu besitzen, war der steinige Boden. Es war wahrscheinlich nicht der beste Ort, den man kaufen konnte, wenn man sich das Ziel gesetzt hatte, Wein anzubauen und sein eigenes Label zu starten.

Das war Olivias verrücktes Lebensziel, das mit nichts anderem als einem wilden Traum begonnen hatte. Nach einem unschönen Ende ihrer Beziehung mit ihrem Freund Matt in Chicago hatte Olivia ihren Job als Accountmanagerin in einer Werbefirma gekündigt und Charlottes Einladung angenommen, den Sommer mit ihr in der Toskana zu verbringen. Sie hatte einen neuen Job bei La Leggenda angenommen, die zum Verkauf stehende Farm entdeckt und aus einem Impuls heraus entschieden, ihr gemütliches Apartment in Chicago zu verkaufen und all ihr Geld in ihr neues Leben zu investieren.

Sie hatte nicht die geringste Idee, ob sie das Zeug zur Weinfarmerin hatte oder ob dieses Land überhaupt fruchtbar war.

Trockener Boden produzierte die besten Trauben. Dieser Fakt gab ihr Hoffnung.

Allerdings mussten diese Trauben erst angebaut werden, und das war ein einschüchternder Ausblick.

Olivia machte sich eine mentale Notiz, dass sie während ihrer Wanderung nach geeigneten Orten für den Anbau von Wein Ausschau halten würde.

„Hiermit erkläre ich unseren Erkundungstag für eröffnet“, sagte sie. „Lass uns als erstes am Zaun entlang gehen.“

Sie machten sich auf den Weg, rutschten und kletterten den steilen, steinigen Hügel hinab, bis sie die Grenze der Farm erreichten. Sie war von einem niedrigen Zaun umgeben – eine mickrige Umzäunung aus zwei Drähten, den man mit Leichtigkeit überschreiten konnte. Das war nicht genug, um eine Ziege damit zu beeindrucken. Das könnte ein Problem werden, denn Olivia hatte eine Ziege adoptiert.

Naja, um genau zu sein, hatte die Ziege Olivia adoptiert.

Erba, eine weiße Ziege mit orangenen Flecken, gehörte eigentlich zum Weingut, auf dem Olivia arbeitete, aber das Tier hatte Gefallen an ihr gefunden und hatte sich angewöhnt, ihr jeden Abend nach Hause zu folgen.

Erba folgte ihr auch sonst überall hin, und als Olivia den Zaun erreichte, war sie nicht überrascht, eine kleine Ziege, die gerade noch an einer Geranie geknabbert hatte, begeistert auf sich zuspringen zu sehen.

„Komm mit, Erba, lass uns sehen, ob wir unterwegs nicht ein paar wilde Kräuter für dich finden“, forderte Olivia sie auf und kraulte ihr den zotteligen Kopf. Erba war das italienische Wort für „Kräuter“, und Olivia musste zugeben, dass man ihr diesen Namen zurecht verpasst hatte.

„Konntest du irgendetwas über die Farm rausfinden?“, fragte Charlotte, als sie auf das nächste Gebäude zugingen – eine große, massive Scheune, nur einen Katzensprung vom Haus entfernt.

„Nein“, gestand Olivia. „Es ist und bleibt ein Geheimnis. Ich hatte gehofft, Gina, die pensionierte Dame, die mir das Grundstück verkauft hat, würde mehr wissen, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung.“

Die Unterhaltung, die Olivia mit der farbenfrohen, älteren Dame gehabt hatte, die in ihrem winzigen Fiat vorgefahren war, um ihr die Schlüssel zu überreichen, hatte sie überrascht. Sie hatte einen vollständigen Bericht über die Vergangenheit der Farm erwartet, aber Gina hatte ihr lediglich erzählt, dass sie das Grundstück von einem entfernten, verstorbenen Cousin geerbt hatte, der es vor einigen Jahren wiederum von einem Freund erstanden hatte, und sie wusste nichts weiter über ihren Hintergrund.

Gina und ihr Mann hatten die Farm nur einige Male besucht, weil ihr Mann durch seine Handtaschenfabrik stets vielbeschäftigt war. Sie hatten überlegt, hier ihr Rentenalter zu verbringen, aber letzten Endes hatten sie entschlossen, in ihrem Haus in Florenz zu bleiben, nahe bei ihren Familien und Freunden.

„Vielleicht finden wir unterwegs ein paar Hinweise“, sagte Olivia.

Sie hoffte, dass die Scheune ihnen erste Anhaltspunkte liefern würde.

Das erste Mal, als sie einen Blick hinter die hohen Steinwände geworfen hatte, hatte sie gedacht, dass das das perfekte Hauptquartier zur Weinherstellung sein würde. Zwar war der Boden an einigen Stellen eingebrochen und die Türen waren schon lange nicht mehr vorhanden, aber sie stellte sich vor, dass einige glänzende Stahlkessel und Eichenfässer entlang der Innenwände ihr wieder zu altem Glanz verhelfen würden.

Das Sonnenlicht, das durch die große Lücke fiel, an der einst die Türen gewesen waren, deutete an, dass die Scheune offensichtlich schon jahrelang leer und verlassen war. In der hinteren Ecke lag ein Haufen aus Bauschutt. Olivia würde den irgendwann hinausschaffen müssen oder jemanden beauftragen, es für sie zu tun, denn es schienen ein paar schwere Steine dabei zu sein.

Sie war enttäuscht, dass sie in der Scheune keine weiteren Informationen fanden.

„Meinst du, sie hatten einst Vieh hier drin?“, fragte Charlotte perplex.

Wenn ja, wieso gab es dann keine Anzeichen dafür? Es gab definitiv keine sichtbaren Zäune auf der Farm, ganz zu schweigen von gutem Weideland für Tiere.

Erba sprang über den niedrigen Drahtzaun und steuerte entschlossen einen wilden Rosenbusch an, der auf der anderen Seite wuchs.

„Vielleicht Hühner?“, wagte Olivia einen Vorschlag. Hühner waren durchaus möglich. Vielleicht war diese Scheune einst ein sicherer Schlafplatz für die Nacht gewesen.

Sie ließen die Scheune hinter sich und folgten dem Zaun auf einen grasbewachsenen Bergkamm und dann weiter den Hügel hinauf. Olivia war wie verzaubert von einem versteckten Hain mit Wacholderbüschen in einer Krümmung der Hügel, die Sträucher voll von den unverwechselbaren, violetten Beeren, und der großen, markanten Flaumeiche, die den Blickfang der Bergkuppe bildete.

Am hinteren Ende der Farm entdeckten sie ein scheinbar sehr altes, zerfallenes Bauwerk mit nur mannshohen Wänden und ohne die geringste Spur eines Dachs. Olivia fragte sich, ob das vielleicht einst das ursprüngliche Farmhaus gewesen war, das man aufgegeben hatte, als es langsam verfallen war, und man danach ein neues an der sonnigeren Seite des Hanges gebaut hatte. Sie untersuchte es nicht genauer, aus Angst, dass alle evakuierten Spinnen sich vielleicht in dieser gemütlichen Ruine eingerichtet hatten.

Hinter dem Farmhaus wuchsen ein paar Haselnusssträucher mit einer reichen Auslese an reifenden Nüssen an ihren schlanken Ästen. Olivia liebte Haselnüsse. Sie war angetan von dem Gedanken, dass sie jederzeit einen Spaziergang zu dieser Seite der Farm unternehmen und einige zum Frühstück pflücken konnte, sobald sie reif waren.

Sie folgten dem Zaun, der bald an den ruhigen, sandigen Weg grenzte und dann wieder zurück zum Farmhaus führte. Obwohl es ein toller Tag gewesen war, um die hier wachsenden Bäume zu bestaunen, musste Olivia zugeben, dass die Tour ihnen wenig sonstige Hinweise geliefert hatte.

Doch da stieß Charlotte einen begeisterten Schrei aus und deutete auf ein halb verstecktes Gebäude in einer Ansammlung von Hagedornbüschen voll weißer Blüten.

„Da oben ist noch ein Gebäude. Schau!“

Ein Blick auf die Farbe der Steinmauern sagte Olivia, dass dieses Gebäude vermutlich zur selben Zeit errichtet worden war wie die alte Farmhausruine.

Sie stiegen hastig den steilen Berg hinauf. Olivia hatte ein gutes Gefühl bei diesem kleinen, quadratischen, von Bäumen verdeckten Gebäude. Sie hatte sich nie träumen lassen, dass es existierte, und war sich sicher, dass sie dort etwas Aufregendes finden würden.

Sie bahnte sich ihren Weg über den sandigen Untergrund und atmete den Duft der wilden Lavendelbüsche ein, die über ihre Beine strichen. Als sie sich dem Gebäude näherten, sah sie ein kleines Fenster, eher ein Luftschacht, hoch oben in der Steinwand.

Olivia legte eine Hand auf die kühle Mauer. Der Bau, in eine Bucht des Hügels genestelt, ohne ein einziges großes Fenster, ließ vermuten, dass es einst als sicheres Lager genutzt worden war. Wenn sie recht hatte, konnte vielleicht noch immer etwas im Innern zu finden sein.

Mit angehaltenem Atem umrundete sie es.

Da war sie. Ihr Herz schlug schneller, als sie die Holztür erblickte.

Obwohl die Oberfläche abgesplittert und verwittert war, sah die geschlossene Tür dick und solide aus.

Sie konnte nicht erwarten zu sehen, was sich dahinter befand.

„Endlich ein Fund!“, rief sie.

„Oh, ich bin so froh, dass wir endlich Ergebnisse erzielen“, jubelte Charlotte neben ihr und starrte auf die stabile Holztür.

Olivia atmete tief durch.

„Das ist es also. Jetzt werden wir das große Rätsel lösen.“

Sie drückte die Klinke herunter, und ihr Herz raste, als sie sich fragte, was sie wohl dahinter finden würden.

Doch dann stöhnte sie enttäuscht.

Die Tür war fest verschlossen.

*

Als sie am Mittag zur Arbeit ging, erwischte sich Olivia wieder und wieder dabei, wie ihre Gedanken zu dem geheimnisvollen Raum zurückwanderten. Was befand sich darin, und wie konnte sie hineingelangen, wenn selbst die Fenster zu klein waren, um hindurchzuklettern?

Sie wünschte, sie hätte mehr Zeit gehabt, um nach einem Eingang zu suchen.

Eine Option wäre, die Tür einzuschlagen, aber Olivia wollte nur ungern etwas in solch perfektem Zustand zerstören, vor allem, da die Tür ein Schlüsselloch besaß. Sie würde sie lieber unbeschädigt lassen und weiter hoffen, dass sie eines Tages den Schlüssel finden würde.

Vielleicht war er in der alten Ruine versteckt, inmitten eines Spinnennetzes?

Oder vielleicht musste Olivia ihre Vermutung über die alte Farmhausruine revidieren, jetzt, nachdem sie gesehen hatte, in welch perfektem Zustand sich dieser Lagerraum befand. Vielleicht war es einst einem Feuer zum Opfer gefallen oder ein Baum war darauf gefallen oder es hatte eine andere Katastrophe gegeben, die es zum Teil zerstört hatte. In dem Fall hatten die Farmer es vielleicht weiterhin benutzt, nachdem sie in das neue Haus gezogen waren.

Sie beschloss, die Umgebung abzusuchen und ein Auge nach dem Schlüssel offenzuhalten, wenn sie aufräumen und das Farmhaus saubermachen würde. Er würde sicherlich irgendwann auftauchen.

Olivia verdrängte ihre Gedanken. Sie konnte nicht weiter über das Rätsel ihres neuen Heims grübeln, wenn ihr ein anstrengender Tag auf dem berühmten Weingut La Leggenda bevorstand.

Während sie die ruhige, mit Zypressen gesäumte Straße entlangging, gestand sich Olivia, dass ihr derzeitiger Titel als Sommelière ihren Kenntnisstand noch immer weit überstieg.

Sie hatte sich aus einem Impuls heraus vor einigen Wochen in der Weinkellerei beworben und war für die Sommersaison als Assistentin angestellt worden. Nach einer bizarren Wende, bei der der damalige Sommelier umgebracht worden war und Olivia geholfen hatte, den Mordfall zu lösen, hatte sie schließlich das Angebot, seinen Job zu übernehmen, angenommen.

Sie besaß all den Enthusiasmus, der für die Position vonnöten war. Ihr fehlte es lediglich an Wissen. Seit sie ihre neue Stelle angetreten hatte, hatte Olivia das Gefühl, dass es ihr an mindestens zehn Jahren an Erfahrung fehlte, die sie in genauso vielen Tagen aufholen musste, um ihrem großzügigen Gehalt, das man ihr zahlte, gerecht zu werden.

Sie wusste, dass ihre Rolle zurzeit eher der einer Probierstubenbotschafterin entsprach, da es ihre Aufgabe war, die Gäste willkommen zu heißen und die Weinverkostung und die Verkäufe zu verwalten – letztere waren substanziell höher als im letzten Jahr, was bewies, dass sie in diesem Bereich besonders glänzte. Aber sie arbeitete so schnell sie nur konnte daran, sich all das Wissen anzueignen, das sie brauchte, um als vollwertige Sommelière gelten zu können, und lernte sogar abends noch. Naja, zumindest an manchen Abenden. Immerhin war Charlotte zum Urlaub hier, und sie landeten zwei bis drei Mal pro Woche abends in örtlichen Restaurants. Aber an allen anderen Abenden versuchte sie ihr Bestes.

Ihr Herz wurde ihr um einiges leichter, als sie La Leggenda vor sich erblickte. Sie hatte einen solch wundervollen Arbeitsplatz. Die eleganten Gebäude des Weinguts, erbaut aus honigfarbenem Stein, wirkten wie ein lebender Teil der grün-goldenen Landschaft, in der sie erbaut worden waren. Als sie die gewundene Zufahrt entlangging, überkam sie eine Woge aus Stolz darüber, dass sie nun ein kleiner Teil dieses historischen Ausflugsziels war.

„Guten Morgen, Olivia.“

Ihr Herz wurde ihr noch leichter, als sie den Besitzer der Weinkellerei, Marcello, an den Eingangspforten erblickte. La Leggenda war ein Familienbetrieb in der zweiten Generation, welcher heute im Besitz und unter Management von Marcello, vierzig Jahre alt, seiner jüngeren Schwester Nadia und seinem jüngeren Bruder Antonio war.

„Buon giorno“, grüßte sie zurück.

Er unterschrieb gerade einen Lieferschein, aber er legte das Blatt Papier zur Seite und kam mit einem Lächeln, das seine Augen aufleuchten ließ, auf sie zu und küsste sie zur Begrüßung auf die Wangen.

Olivia spürte, wie sie rot anlief. Sie hatte aufgegeben, gegen diese automatische Reaktion auf Marcellos Anwesenheit anzukämpfen. Er war nicht nur groß, dunkelhaarig und umwerfend gutaussehend, mit markanten Wangenknochen und Augen, tiefblau genug, um darin zu ertrinken, sondern sie hatte auch das Gefühl, dass da ein Funke zwischen ihnen sprühte.

Marcello verhielt sich jedem gegenüber charmant, aber Olivia spürte, dass er ihr besonders viel Aufmerksamkeit schenkte. Sie bildete sich das nicht nur ein. Definitiv nicht! Auch andere hatten das bereits bemerkt und sie schon mehrmals darauf hingewiesen.

Außerdem bestätigte ihr ihre Intuition, dass sie recht hatte.

Sie hatte vor, direkt in den Verkostungsraum zu gehen und alles für den anstehenden Arbeitstag vorzubereiten, aber zu ihrem Erstaunen legte Marcello ihr seine warme Hand auf die Schulter.

„Olivia, kannst du eine Minute warten? Ich möchte dich etwas fragen.“

„Na klar! Sicher doch!“

Verschiedene Szenarien schossen ihr durch den Kopf, angefangen mit einer Verabredung zu einem Kaffee. Es wird aber keine Einladung zum Kaffee sein, sagte sich Olivia streng. Sie hatte das Gefühl, dass sich Marcello persönliche Schranken auferlegt hatte, was das Ausgehen mit Mitarbeitern des Weinguts anging. Vermutlich wollte er nur einige Änderungen im Verkostungsmenü mit ihr besprechen.

Sie sollte sich besser einen neuen Wein überlegen, dachte Olivia panisch. Da gab es diesen besonderen Chardonnay, den die Kellerei erst kürzlich herausgebracht hatte, den man bereits als einen möglichen Medaillengewinner pries. Der wäre ein geeigneter Neuzugang.

€2,89
Altersbeschränkung:
18+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
04 Januar 2021
Umfang:
272 S. 4 Illustrationen
ISBN:
9781094343112
Download-Format:
Zweite Buch in der Serie "Ein Toskanischer Weingarten Cozy-Krimi"
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