Ein erlesener Todesfall

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„Gute Idee“, entschloss Olivia.

„Ich bin heute der Wasserträger“, stellte sich Charlotte freiwillig zur Verfügung.

Mit dem Spaten in der Hand machte sich Olivia auf den Weg den Berg hinauf.

Nach einem kurzen, flotten Marsch kam sie an dem alten Nebengebäude an.

Wie viel Abstand sollte sie zwischen den Samen lassen? Olivia dachte hastig zurück an die Reben, die sie auf La Leggenda gesehen hatte. Zwei große Schritte zwischen jeder Pflanze würde ausreichen.

Mit der Spitze des Spatens zeichnete sie ein großes Rechteck in den sandigen Boden mit seiner Fülle an wilden Kräutern und Pflanzen. Dann begann sie, kleine Beete für die Samen anzulegen und streute eine Handvoll Dünger auf jedes davon. Sie grub jedes Beet kräftig um und verspürte jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn die Spatenspitze gegen massiven Stein traf. Das konnte doch nicht möglich sein, oder? Der Boden war bestimmt eher einfach nur sehr fest.

Nach einer halben Stunde intensiven Grabens, war ihre erste Stätte bereit zum Besäen.

Als Charlotte erneut über die Bergkuppe gestiegen kam und sich während ihres nun dritten Trips den Schweiß von der Stirn wischte, begann Olivia gerade, die Samen in die frischgegrabenen und gewässerten Beete zu pflanzen.

Das war aufregend, anstrengend und furchterregend zugleich, stellte sie fest und versuchte, ihre Ängste zu verdrängen und mit positiver Energie zu ersetzen, während sie auf dem feuchten Boden kniete und die Erde festdrückte. Hieß es nicht, dass Pflanzen deine Gedanken und Gefühle spüren können? Sie würde diese Saat mit Hoffnung und Fröhlichkeit überschütten müssen.

„Und nun wachst, ihr Lieben!“, rief Olivia, und Charlotte blickte sie neugierig an.

Sie stellte sich wieder auf die Füße und klopfte sich den Dreck von den Knien ihrer Jogginghose.

„Wie wäre es, wenn wir uns von hier zurückarbeiten und ein kleines Feld mit Chardonnay in der Nähe der Ruine pflanzen und den Sangiovese danach hinter der großen Scheune?“

„Das klingt – naja, um ehrlich zu sein, klingt das sehr anstrengend“, lachte Charlotte. „Aber lass uns ans Werk gehen. Je eher die Babys in der Erde sind, umso eher können wir anfangen, Wein zu machen!“

Auf dem Weg zurück stellte Olivia überrascht fest, dass jeder Muskel ihres Körpers brannte. Dieser Weinanbau war harte Arbeit! Sie begann zu verstehen, wieso Antonio so schlank und fit war.

Sie nahm das Paket mit Sangiovese-Samen in die Hand. Auf diese freute sie sich besonders. Egal, wie die anderen Sorten gelangen, dieser einheimische Wein musste mit Sicherheit einen klaren Vorteil haben.

Sie stieg den Berg hinunter und markierte die Beete mit der Kante ihres Spatens.

Danach legte sie eine Pause vom Graben ein und lehnte sich auf den Spaten, während sie sich den schmerzenden Hintern rieb.

Als sie den näherkommenden Schatten hinter sich bemerkte, rief sie, „Diese müssen noch gegossen werden, Charlotte.“

„Müssen sie das, signora?“

Olivia ließ erschrocken ihren Spaten fallen.

Die Stimme hinter ihr war warm, tief und unverkennbar männlich.

Sie wirbelte herum und starrte in die grinsenden Augen des Mannes aus dem Eisenwarenladen.

KAPITEL FÜNF

„Was tun Sie denn hier?“, kreischte Olivia.

Ihre Empörung verdeckte ihre Verlegenheit – aber nur ganz knapp. Sie hatte sich vorgelehnt und sich gerade den Hintern massiert, als er sich ihr von hinten genähert hatte.

Und schlimmer noch, sie hatte ein riesiges Loch hinten in ihrer Hose. Olivia spürte, wie ihr Gesicht vor Demütigung rot anlief, als sie sich daran erinnerte.

Das war kein günstiger Moment für einen unangekündigten Besuch.

„Verzeihung, ich wollte Sie nicht so überrumpeln“, sagte der Mann mit einem verschwörerischen Zwinkern. „Ich kam gerade hier vorbei. Ich dachte, ich schaue mal rein und biete meine Hilfe an.“

Er beugte sich hinab und hob den Spaten auf. Hastig wirbelte Olivia herum, um ihn im Blick zu behalten. Sie wollte den Riss in ihrer Hose so gut wie möglich versteckt halten, obwohl er ihn bestimmt schon bemerkt haben musste.

Welche Unterhose trug sie?

Sie glaube, heute Morgen die graue gewählt zu haben. Und die Jogginghose war auch grau, also war der breite Riss hoffentlich gut getarnt gewesen.

„Sie haben ziemlich hart gearbeitet“, sagte der Mann und blickte über die beiden Reihen aus Beeten, die sie bereits ausgehoben hatte. „Allerdings fällt mir sofort auf, dass Sie einige Dinge falschmachen. Sie haben noch nie Wein angebaut, stimmts?“

Sie machte es falsch? Wie dreist, so etwas zu sagen! Olivia fühlte Wut über seinen beleidigenden Ton in sich aufsteigen. Wie konnte man denn bitte falsch graben? Sie musste doch nur den Spaten in den Boden rammen und die Erde auflockern. Olivia hatte nicht geglaubt, dass es hier einen richtigen und einen falschen Weg gab, und außerdem war sie sehr stolz auf die säuberlichen Beete, die sie angelegt hatte.

„Ich habe schon einmal Wein angebaut“, sagte sie trotzig. Was auch stimmte. Sie hatte gerade etwa hundert Samen an anderen Stellen auf ihrem Grundstück gesät. Nach beinahe drei heißen, ermüdenden Stunden harter Arbeit war sie ein erfahrener Experte.

„Das glaube ich nicht.“ Der stachelhaarige Mann hatte ihren Schwindel bemerkt. „Ich sehe bereits, was Sie falschmachen. Sie sind eine Anfängerin, die nichts weiß und alles erst ordentlich lernen muss. Soll ich Ihnen zeigen, welchen großen Fehler Sie gemacht haben? Bevor Sie all Ihr Geld verschwenden, dass Sie ausgegeben haben?“

Er hielt noch immer den Spaten fest, und das auf eine Art, die ihr sagte, dass er ihn nicht willig zurückgeben würde, und sein Lächeln gefiel ihr gar nicht. Es war, als lachte er sie aus, genau wie der Tonfall seiner Stimme. Er war wahrscheinlich hierhergefahren, damit er ihr wegen ihres Vorhabens seine chauvinistische Art aufdrücken und sich ein wenig aufspielen konnte.

Er schritt zügig auf die andere Seite ihres Mini-Weinbeets, und Olivia wirbelte herum, bewusst, dass sie ihm weiterhin zugewandt bleiben musste.

Hatte sie heute Morgen wirklich die graue Unterwäsche angezogen? Jetzt, wo sie daran zurückdachte, fiel ihr auf, dass die ganz hinten in der Schublade gewesen war, und sie hatte es eilig gehabt, als sie sich angezogen hatte.

Sie wünschte, sie könnte sich erinnern. Ihre Unfähigkeit sich zu erinnern, zusammen mit dem Schock über diesen unerwünschten Besuch, ließen ihr Gesicht glühen. Sie war sich sicher, dass er das auch bemerkt hatte. Olivia gewann den Eindruck, dass dieser unsympathische Mann, dessen Frisur für seine missratene Persönlichkeit viel zu gut aussah, keinen Trick unversucht ließ.

„Geben Sie mir den Spaten zurück“, forderte sie, plötzlich unfähig, sich mit dieser komplexen Situation auch nur noch eine weitere Minute auseinanderzusetzen.

„Darf ich es Ihnen denn jetzt zeigen?“, fragte er, offensichtlich zufrieden, dass sie sich endlich mit seiner Art zu denken abgefunden hatte.

Doch Olivia wollte das ebensowenig. Sie wollte das sogar noch weniger. Zuzusehen würde beinhalten, dass er hinter ihr stünde, während sie sich vorbeugte. Sie konnte die abendliche Brise förmlich spüren, wie sie durch den gigantischen Riss in ihrem Hosenboden strich.

Sie beschloss schließlich, dass sie diesen Mann auf keinen Fall hierhaben wollte. Er hatte weder einen Termin vereinbart noch um Erlaubnis gebeten, ihren brandneuen Weingarten zu betreten. Er war ihr gegenüber beleidigend und fordernd und deutete an, dass sie eine hoffnungslose Weinfarmerin war. Doch am schlimmsten war allerdings, dass er vermutlich ihre Unterhose gesehen hatte!

„Ich möchte, dass Sie gehen“, verlangte sie, trat vor und entriss ihm den Spaten. „Ich brauche Ihre Hilfe im Moment nicht, oder eher gesagt, auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Ich arbeite für ein Weingut und weiß, was ich tue. Wir kommen ganz gut allein zurecht. Sie stören mich, und Sie verschwenden Ihre Zeit. Ich muss den Anbau zu Ende bringen, bevor es dunkel wird, denn ich und meine Freundin sind am Verhungern und brauchen dringend eine Pizza und ein Glas Wein.“

Zu ihrem Erstaunen blickte der Mann einen Moment lang verletzt drein, als hätte er eine solch unmissverständliche Zurückweisung nicht erwartet.

Dann zuckte er mit den Achseln.

„Ich heiße Danilo“, sagte er. „Ich würde Sie auch gern nach Ihrem Namen fragen, aber ich glaube, dies ist nicht der rechte Moment für derartige Bekanntmachungen. Hier ist meine Visitenkarte. Rufen Sie mich an, wenn Sie meine Hilfe brauchen.“ Er zwinkerte ihr erneut zu, und Olivia fragte sich, ob sie sich den kurzen, verletzten Ausdruck in seinen Augen nur eingebildet hatte. „Ich bin mir sicher, dass wir uns bald wiedersehen!“

Sie fühlte wieder dieses Brodeln in sich. Der hatte Nerven! Er konnte einfach nicht aufhören anzudeuten, dass sie unfähig war.

Zögernd nahm sie ihm die angebotene Karte ab. Als der Mann sich umdrehte, um zu gehen, bog Charlotte gerade mit der Gießkanne ums Haus.

Sie sah, wie Danilos Augenbrauen bei dem Anblick in die Höhe schossen, und merkte, wie er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, als er zusah, wie ihre Freundin den kleinen, grünen Behälter den Hügel hinunterschleppte.

„Guten Abend, Ladys. Buena sera. Genießen Sie Ihre Pizza und Ihren Wein.“

Er schlenderte lässig durch das Tor und kletterte in seinen weißen Truck, den er neben der Straße geparkt hatte.

Kurz darauf röhrte der Wagen davon.

Olivia konnte nicht anders. Sie musste es einfach tun.

Sie riss an dem Gummibund ihrer Jogginghose und warf einen Blick auf ihre Unterwäsche. Dann verzog sie das Gesicht, schloss die Augen und wünschte sich, die letzten zehn Minuten ungeschehen machen zu können. Sie hatte sich heute Morgen für das grellorangene Unterhöschen entschieden, so grell, dass es beinahe leuchtete.

 

Es musste wie ein schillernder Sonnenuntergang durch eine graue Wolkendecke hindurch ausgesehen haben. Es gab nicht den geringsten Zweifel, dass Danilo das bemerkt hatte. Kein Wunder, dass er so breit gegrinst hatte.

„Uff!“, stöhnte Olivia.

Sie riss sich zusammen und versuchte, das Gefühl seines Blicks zu verdrängen.

„Was sollte das Ganze?“, fragte Charlotte. „War das der Mann aus dem Eisenwarenladen, und hat er versucht, unseren Anbauprozess zu dirigieren?“

Olivia nickte verbissen.

„Ich wusste ja nicht, dass aufdringliche Einheimische hier zum Tagesgeschäft gehören. Als hätte ich ungebetene Hilfe nötig!“

Charlotte blickte sie erstaunt an.

„Pflanzen ist auch nur einfaches Gärtnern, nicht wahr? Er wollte sich ganz klar bloß aufspielen.“

„Genau“, stimmte Olivia zu.

Doch insgeheim wurde Olivia gerade von Zweifeln zerfressen. So sehr sie auch versuchte, ihre Gedanken zu verdrängen, so fragte sie sich doch, was passieren würde, wenn sich ihre erste Ernte zu einem einzigem Debakel entwickeln würde.

„Bitte wachst“, flehte sie die Samen an, wohl wissend, dass sie gerade womöglich die schlechten Schwingungen ihrer Sorgen und Verzweiflung aufsaugen würden.

Diese Beete waren von der Straße aus sichtbar. Danilo konnte also jederzeit in seinem staubigen, weißen Truck daran vorbeifahren und sich ihre Fortschritte, oder auch das Fehlen derselbigen, ansehen.

Olivia ertrug den Gedanken daran nicht, wie peinlich es wäre, wenn sie ihn anrufen und ihn um den Rat bitten müsste, den er so zuversichtlich angeboten hatte.

Sie hoffte, dass die Saat schnell aufgehen würde, damit Danilo über ihr Gedeihen staunen können und er erkennen würde, wie unhöflich und unangebracht seine Kritik gewesen war.

In diesem Moment klingelte Olivias Telefon.

Sie wühlte in ihrer Tasche. So spät am Abend war es bestimmt jemand aus den Staaten, die zeitlich einige Stunden zurücklagen.

Es war ihre Mutter.

Olivia seufzte.

Sie hatten sich schon seit über einer Woche nicht mehr gesprochen. Sie hoffte, dieses Gespräch würde ihr nicht zu viel von ihrer Pizzazeit rauben. Da ihre Mutter nicht dafür bekannt war, kurze Unterhaltungen zu führen, beschloss Olivia, nach oben ins Schlafzimmer zu laufen und sich umzuziehen, während sie sprachen.

„Hallo, Mum“, sagte sie und machte sich auf den Weg zum Farmhaus.

„Olivia!“ Ihre Mutter klang besorgt. „Du hast versucht, mich am Wochenende anzurufen.“

Olivia konnte sich ihre zarte, nervöse Mutter vorstellen, wie sie in ihrem sonnendurchfluteten Wohnzimmer in ihrem Sessel mit Blumenmuster kauerte, während ihr Vater auf dem Sofa gegenüber las. Olivia wusste, dass ihr Vater nur dann seine Augen von den Seiten nahm, wenn die Stimme ihrer Mutter eine bestimmte Tonlage erreichte.

„Ja, das habe ich. Du hattest gesagt, dass du gerade Auto fährst und dass ich wann anders anrufen sollte.“

„Ich muss dir dringend sagen, dass dein E-Mailkonto gehackt wurde.“

„Wirklich?“ Olivia spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte, während sie die Treppe hinaufflitzte. Das war das Letzte, das sie jetzt gebrauchen konnte.

„Ja. Du musst das sofort melden.“

Olivia stellte ihr Telefon auf Lautsprecher und schälte sich aus ihrer Hose. Eigentlich sollte sie sie besser wegwerfen. Oder zumindest den Riss nähen lassen. Vielleicht gab es eine Schneiderei im Dorf. Allerdings war es ihr peinlich, solch eine schlottrige Hose zum Ausbessern wegzugeben.

Am einfachsten wäre es, sie hierzubehalten, so zerrissen und bequem, wie sie war.

„Woher weißt du das?“, fragte sie.

Ihre Mutter kündigte die Bombe auf äußerst  dramatische Weise an.

„Die Hacker haben mich angeschrieben, mit deinem Namen, und etwas Absurdes behauptet. Sie haben gesagt, dass du eine Farm in Italien gekauft hast.“

Olivia blinzelte.

„Ähm, Mum – “

Aber Mrs. Glass ignorierte sie und fuhr wie eine Dampfwalze einfach unbeirrt fort.

„Sie haben nicht direkt nach Geld gefragt, aber es war einfach für jemanden so weltbewandert wie ich zu erkennen, dass sie das Fundament dafür in ihrer nächsten Mail legen werden. Das nennt man Phishing, Schatz.“

Olivia hörte, wie ihr Vater etwas im Hintergrund murmelte.

„Oh. Es ist kein Phishing, Herzchen, es ist ein 419-Scam. Das ist es, was die Hacker gemacht haben. Ist das etwas Ernsteres, Andrew?“

Sie schwieg wieder, während Olivias Vater antwortete.

„Es ist anscheinend das Gleiche, nur anders. Aber egal, Schatz, du wurdest gephisht. Ich meine ge419t, und so solltest jeden in deiner Kontaktliste sofort informieren. Sie haben das wahrscheinlich an die gesamte Datenbank geschickt! Es war keine gutgeschriebene Mail, und sie stammte definitiv von jemandem, der nicht gut Englisch spricht, aber trotzdem, einige deiner naiven Freunde könnten es durchaus glauben.“

Olivia verdrehte die Augen, als sie sich ihren Rock anzog und wieder in ihre staubigen Sandalen schlüpfte.

„Mum, das war ich. Ich habe diese Mail geschrieben, und es stimmt. Ich habe in Italien eine Farm gekauft. Du warst beschäftigt und hattest keine Zeit zum Reden, also habe ich dir die Details geschrieben.“

Olivia merkte, wie sie anfing zu plappern, um die plötzliche, geschockte Stille am anderen Ende zu füllen.

„Sie ist echt hübsch. Ich stehe sogar gerade im Schlafzimmer. Und jetzt gehe ich die Treppe hinunter. Das Haus ist ein wenig vernachlässigt, aber die Struktur ist sehr solide, und es steht auf zwanzig Morgen, wie ich dir in meiner Mail geschrieben habe. Ich werde hier Wein anbauen! Ich habe vor, nächstes Jahr mein eigenes Weinlabel zu starten.“

„Dein was?“, antwortete ihre Mutter heiser.

Olivia war sich sicher, dass sie ihr die Fakten gerade deutlich vermittelt hatte und dass die Telefonverbindung kristallklar war. Sie hatte nur Schwierigkeiten, alles zu verarbeiten.

„Mein eigenes Weinlabel“, wiederholte sie, nur für alle Fälle.

„Ich kann das nicht glauben“, flüsterte ihre Mutter. „Olivia, das ist doch Irrsinn.“ Als sie fortfuhr, klang sie zunehmend misstrauisch. „Hast du etwa falschen Umgang? Hat man dich einer Gehirnwäsche unterzogen, oder bist du von einer Sekte gekidnappt worden, die mit deinem Geld ihre Machenschaften finanziert? Wenn du Hilfe brauchst, mein Engel, dann sag nur das Wort – das Wort – lass mich kurz überlegen, welches Wort man unauffällig in ein Gespräch einbauen kann. Das Wort ‚Wasser‘ wird reichen! Benutze es ganz deutlich in deiner Antwort an mich, und ich werde sofort die Behörden verständigen.“

Olivia erreichte den Fuß der Treppe.

„Können wir los?“, fragte Charlotte, die sich von ihrem Schneidersitz auf der Veranda hochrappelte.

„Ja“, antwortete Olivia ihrer Freundin schnell. Sie musste dieses nervige Gespräch endlich beenden und ihrer Mutter auf Widersehen sagen. Das Abendessen rief, und im Moment, nach diesem Tag, rief es besonders laut.

Olivia blickte hinab auf den frisch gepflanzten Weingarten.

„Oh, wir sollten die Gießkanne wegräumen. Die Samen brauchen erst mal kein Wasser mehr“, fügte sie schnell an Charlotte gerichtet hinzu, als sie den hellgrünen Farbfleck auf dem sandigen Beet bemerkte.

Olivias Mutter schrie auf.

„Das Codewort! Ich wusste es! Andrew, Olivia ist von einer Sekte einer Gehirnwäsche unterzogen worden, die sie gezwungen hat, eine Farm in der Toskana zu kaufen, die sie nun als Hauptquartier nutzt! Wir müssen dieses Telefonat sofort zurückverfolgen und ihr Hilfe verschaffen! Arbeitet das FBI auch in Italien?“

„Mum, mir geht’s gut!“, protestierte Olivia. „Ich muss los. Ich brauche keine Hilfe, und ich bin auch in keiner Sekte. Ich bin gerade auf dem Weg in ein Restaurant. Ich rufe dich morgen an. Hab dich lieb! Hab dich lieb, Dad! Alles ist gut! Versprochen!“

Sie hing auf und hoffte, dass ihre Worte überzeugend genug gewesen waren.

Sie traute es ihrer Mutter zu, das ganze FBI in die Toskana zu beordern, um Olivia von einer imaginären Sekte zu retten.

KAPITEL SECHS

Am nächsten Morgen wurde Olivia um halb sechs von ihrem Wecker geweckt.

Sie sprang aufgeregt aus dem Bett und blickte durch das große Fenster der Villa hinaus auf den Sonnenaufgang. Was für ein glorreicher Morgen! Die Luft war frisch und kühl, und die Schatten der Bäume breiteten sich über den tiefgrünen Wiesen aus. Dahinter erstreckten sich die Berge und Felder im nebligen Morgenlicht bis hin zum fernen Horizont.

Da der Verkostungsraum seine Pforten erst am Vormittag öffnete, hatte sie sich angewöhnt, bis acht Uhr auszuschlafen. So früh am Tage schon wach zu sein fühlte sich wie ein Abenteuer an.

Heute war der Tag des Ausflugs nach Pisa mit Marcello. Geschäftstrip, korrigierte sich Olivia hastig. Kein Ausflug, das durfte sie nicht vergessen. Geschäftstrip.

Es wird bestimmt ein langer, anstrengender Tag, redete sie sich streng ein. Sie würde professionell und aufmerksam sein müssen, um zu lernen, was sie nur konnte, selbst wenn die Unterhaltungen mit seinen Kollegen und Kunden auf Italienisch stattfinden würden.

Obwohl es ein Geschäftstrip war, hoffte sie, dass sie vielleicht die Chance haben würden, sich den Schiefen Turm von Pisa ansehen zu können, auch wenn es nur ein kurzer Blick von der Straße aus sein würde. Das war einer der Orte, den sie schon immer mal sehen wollte. In Gesellschaft von Marcello wäre es natürlich noch tausend Mal besser.

Olivia ermahnte sich streng, nicht zu aufgeregt zu sein. Das war ein geschäftlicher Ausflug, und sie musste es locker angehen.

Sie verließ das luftige Schlafzimmer und betrat das luxuriöse, anliegende Badezimmer. Sie duschte, stylte ihr schulterlanges, blondes Haar und nahm noch ein paar letzte Änderungen an ihrem Outfit vor, das sie am Abend zuvor herausgesucht hatte. Sie tauschte die schicken, hochhackigen Schuhe, die ihre erste Wahl gewesen waren, gegen Sommersandalen mit niedrigeren Absätzen, in denen sie leichter laufen konnte. Das türkise, knielange Kleid war perfekt, aber sie würde dazu ihre beigefarbene Lederjacke anziehen, welches mehr italienischen Flair ausstrahlte als die weiße Baumwolljacke, die sie sich gestern ausgesucht hatte.

Außerdem packte sie noch sowohl einen Notizblock und einen Stift als auch ihr Handyladegerät in ihre Handtasche. Und natürlich Lippenstift, Lipgloss und Parfüm, falls sie sich unterwegs noch einmal frisch machen musste.

Zum Beispiel bevor sie und Marcello zusammen zu Mittag essen würden.

Hör auf, sagte Olivia sich. Wahrscheinlich würde ihr Mittagessen aus einem schnellen Sandwich im Auto bestehen.

Sie blickte aus dem Fenster und bemerkte Erba, die von den Obstbäumen der Villa, wo sie sich an den herabgefallenen Granatäpfeln sattgegessen hatte, nun zielsicher auf das Haus zusteuerte. Gewöhnlich genoss Erba die zarten Sonnenstrahlen morgens auf der Fensterbank von Olivias Schlafzimmer, und sie hatte sich bereits an den ungewöhnlichen Anblick der sich sonnenden Ziege gewöhnt, wenn sie nach dem Aufwachen ihre Vorhänge zurückzog.

„Wir gehen heute früher zur Arbeit“, warnte sie Erba.

Nach einem letzten Check, dass sie auch alles hatte, was sie brauchte, eilte Olivia in die Küche. Von allen Räumen in der Villa liebte sie diesen am meisten. Der große, auffällige Wandfries mit zahllosen Trauben bedeckte eine der gekachelten Wände, und die Tontöpfe mit den Kräutern auf dem Fenstersims verströmten einen himmlischen Duft nach Rosmarin, Basilikum und Thymian. Am besten gefiel ihr an diesem Raum mit den angenehm warmen Farbtönen natürlich die große, rot- und chromfarbene Kaffeemaschine, die auf der Anrichte thronte.

Schnell verhalf sich Olivia zu einem doppelten Cappuccino und trank ihn, während sie aus dem Fenster auf den gefliesten Hof blickte, wo noch mehr Kräuter und Sträucher entlang den Steinmauern wuchsen. Genau so einen Hof wollte sie auch vor ihrer Farmhausküche haben. Vielleicht konnte sie die Fliesen sogar selbst verlegen. Sie liebte den Anblick. Alle Abschnitte mit Thymian und Katzenminze waren säuberlich voneinander abgegrenzt.

Genug geträumt, sagte sich Olivia, trank ihren Kaffee aus und schnappte sich ihre Handtasche.

„Komm, Erba“, rief sie, während sie durch den Flur nach draußen trat und vorsichtig die imposanten Türen hinter sich schloss. „Gassi!“

*

Um zehn vor sieben erreichte sie La Leggenda. Marcello war draußen bereits dabei, Wasserflaschen in eine Kühlbox und diese in den Kofferraum des SUVs zu laden. Sein dunkles Haar war frisch geschnitten und seine wirren Fransen fielen ihm jetzt nur noch bis zu den Augenbrauen. Er trug ein anthrazitfarbenes Hemd und eine schicke Jeans.

„Wir nehmen ein Geschenk mit“, erklärte er lächelnd. „Du siehst heute Morgen zauberhaft aus. Ich freue mich auf unseren Tag.“

 

„Ich mich auch“, sagte Olivia, durch sein Kompliment förmlich zum Glühen gebracht.

Er küsste sie auf beide Wangen, und sie spürte, wie ihre Knie sowohl durch diese Nähe als auch wegen des würzigen Aftershaves, das sie an seinen kräftigen, kantigen Wangenknochen erschnupperte, beinahe nachgaben.

Zum Glück hatte sie sich an diesen Effekt, den Marcello über sie hatte, bereits gewöhnt, und ihr rasendes Herz brauchte nicht lange, um wieder zu seiner normalen Geschwindigkeit zurückzukehren.

Sie trat in die Verkostungsstube, griff sich die letzten beiden Flaschen von der Theke und verstaute sie in der eigens dafür angefertigten, gepolsterten Kühlbox.

Eine Minute später fuhren sie bereits durch das elegante Tor des Weinguts.

„Unsere Reiseroute wird sehr malerisch, denn wir werden die ruhigeren Straßen nehmen“, erklärte Marcello und drehte die Musik ein wenig auf, sodass die sanften Klänge einer Oper – welche bei Olivia ein Schauder aus romantischer Vorfreude hervorriefen – eine melodische Untermalung boten. „Wir fahren zu einem Weingut, und ich hätte gern deine Meinung darüber.“

Ihre Meinung? Über ein Weingut? Olivia fühlte sich geschmeichelt, doch zugleich überkam sie auch Panik. Aus welcher Perspektive? Was hatte sie hinsichtlich fachlicher Expertise schon zu bieten?

Sie war froh, dass sie zuhause diesen starken Kaffee getrunken hatte. Zumindest war sie nun hellwach, und ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren, während das Auto die schmale, mit Zedern gesäumte Teerstraße in Richtung der strada principale – der Hauptstraße auf dem Weg nach Pisa – entlangfuhr.

Doch bevor sie diese erreichten, bog Marcello rechts ab und beschleunigte auf einer gewundenen Straße, die sich die Berge hinaufwand, jede Kurve eine neue, bezaubernde Aussicht enthüllend.

Olivia erblickte einen dunklen, geheimnisvollen Wald versteckt in einem tiefen, schattigen Tal. Auf einem grünen Hügel stand ein riesiges Schloss mit einem mäandernden Fluss, der einen behelfsmäßigen Schlossgraben rundherum bildete, und Fahnen, die auf den Zinnen wehten.

Olivia hatte gedacht, ihr würde es schwerfallen, eine unangenehm höfliche Konversation während er Fahrt aufrechtzuerhalten, doch die Opernmusik erfüllte sowohl das Auto als auch ihr Herz, und sie konnte die Landschaft atemlos bestaunen, ohne sich verlegen zu fühlen.

Bevor sie sich versah, bremste Marcello das Auto auch schon ab und bog auf eine sandige Straße ab. Eine Meile später fuhr der SUV durch eine schmale Lücke in einem Drahtzaun.

An dem rechten Holzpfahl hing ein Schild. Was stand da? Olivia reckte ihren Hals, aber die Farbe war bereits so verblichen, dass sie die Aufschrift nicht entziffern konnte.

Dies hier war um so vieles anders als alle Weinfarmen, die sie bisher besucht hatte. Hielten sie vorher erst noch woanders an, oder was passierte hier?, fragte sie sich rätselnd.

Die Zufahrt war von Büschen und Grünzeug überwachsen, doch leuchtend bunt von Wildblumen und Schmetterlingen. Am Ende befand sich eine Lichtung, gerade mal groß genug für zwei Fahrzeuge. Ein schlichter, älterer Truck in ausgebleichtem Blau parkte bereits dort.

Jenseits der Lichtung stand ein kleines Steingebäude.

„Salve, Franco!“, rief Marcello, als er aus dem Auto stieg.

Salve!

Ein schlanker, grauhaariger Mann trat aus der Tür.

„Willkommen, willkommen“, begrüßte er sie und breitete dabei seine Arme aus.

Er und Marcello umarmten sich herzlich.

Dann nahm er Olivias Hand und beugte sich zu ihrem Erstaunen und Entzücken hinunter, um sie zu küssen.

„Willkommen, signorina“, begrüßte er auch sie schwärmerisch, und seine dunklen Augen leuchteten in seinem zerfurchten, gebräunten Gesicht.

Marcello hob die Kühlbox mit dem Wein aus dem Auto, und sie traten gemeinsam durch die verwitterte Eingangstür.

Olivia folgte Franco hinein und schnappte begeistert nach Luft.

Das Innere des Hauses war kein bisschen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie fühlte sich, als beträte sie eine andere Welt.

Es war überhaupt kein Haus. Innen sah man, dass das Gebäude, das von draußen so klein wirkte, viel größer war als erwartet – geräumig und mit hohem Dach.

Es war eine rustikale, aber produktive Weinherstellungsanlage.

Im Inneren brummte es vor Betriebsamkeit. Zwei Arbeiter hievten gerade ein langes Rohr in eines der Eichenfässer, die die hintere Wand säumten. Auf der anderen Seite gab es drei große Kessel. Es waren keine glänzenden, brandneuen wie die auf La Leggenda. Diese wirkten älter, abgenutzter, aber gut gepflegt und einsatzbereit.

Olivia sog das Aroma ein, das ihr mittlerweile so vertraut war, den anregenden Duft von gereiftem Holz und gärendem Wein. Dieser Geruch verschaffte ihr jedes Mal aufs Neue einen aufregenden Nervenkitzel.

„Kommt, kommt“, forderte Franco sie auf. „Hier entlang.“

Der Boden war schlichter, abgelaufener Putz mit gelegentlichen Unebenheiten, als wäre er in Schichten gegossen und per Hand geglättet worden. Olivia fragte sich, ob dieser Betrieb einst aus Francos eigener, leidenschaftlicher Handarbeit entstanden war.

Hier gab es keine dramatisch großen Türen oder breite, helle Fenster wie auf La Leggenda, aber als Olivia durch eines der bescheidenen, schmalen Fenster sah, erblickte sie Reihen von Reben, die sich über den Hügel und hinunter ins Tal erstreckten.

„Unser Verkostungsraum entspricht nicht eurem Standard“, entschuldigte sich Franco, als sie ihm in ein kleines Nebengebäude folgten, das an das Haupthaus grenzte. Hier stand ein großer Eichentisch mit vier Stühlen, eine altmodische Anrichte und eine Vitrine mit polierten Gläsern.

„Lasst mich euch unsere Kinder vorstellen!“, verkündete Franco.

Olivia war nicht sonderlich überrascht, als er die Tür in der Anrichte öffnete und andächtig einige Weinflaschen hervorholte. Sie hatte bereits erahnt, dass diese Farm Francos Leidenschaft und Herzblut war.

„Unser Daily Chianti“, verkündete er, zog den Korken aus der Flasche und griff nach drei Gläsern. „Er braucht einen besseren Namen, ich weiß.“

Es war schon eine Weile her, dass Olivia an der Empfängerseite einer Weinverkostung gesessen hatte. Sie war es gewohnt auszuschenken, nicht das Glas zu halten, den Wein zu schwenken und das Bouquet einzuatmen, bevor sie einen Schluck nahm.

Welch ein Genuss!

„Er ist wunderbar“, rief sie und hoffte, dass sie mit ihrem Ausspruch nicht zu vorschnell gewesen war. Hätte sie warten sollen, bis der ältere Mann ihnen den Wein erklärt hatte oder bis Marcello seine Meinung als Erster anbot?

Aber Marcello lächelte und nickte zustimmend, als Franco freudig in die Hände klatschte.

„Weiter!“, forderte Marcello sie auf.

„Er ist weich und hat einen ausgeglichenen Geschmack. Es ist die Art von Wein –“ Olivia suchte nach den richtigen Worten. „Mit dem man sich leicht identifizieren kann. Man muss kein Experte sein, um ihn genießen zu können. Ich könnte ihn all meinen Freunden anbieten, und alle würden ihn lieben, auch wenn sie normalerweise keine Weintrinker sind.“

„Genau!“ Franco strahlte. „Das war unsere Absicht bei diesem Wein. Und jetzt, unsere Daily Melange.“

Olivia probierte auch diesen Wein und genoss ihn genauso sehr wie den ersten. Sie war sich der Geschmacksnoten, die sie herausschmecken konnte, beinahe sicher und war stolz über den Fortschritt, den sie gemacht hatte, seit sie angefangen hatte, auf La Leggenda zu arbeiten. Aber sie war zu nervös, vor Marcello einen Fehler zu machen. Zum Glück übernahm er diesmal die Führung.

„Ein temperamentvoller Geschmack von reifen Beeren“, beglückwünschte er Franco. „Ein Hauch von Pflaume und Kirsche. Ich vermute, deine Mischung beinhaltet einen Teil qualitativ hochwertigen Merlots.“

„Du hast natürlich recht.“ Franco grinste. „Und jetzt unser Trebbiano“, sagte er stolz.

Er schüttete den Weißwein in die drei Gläser.

Olivia nahm einen Schluck.

„Oh, wow, das ist noch so ein Wein, zu dem man leicht Bezug findet. Trocken, aber voller Frucht und Geschmack. Ich kann mir vorstellen, dass der einfach zu jedem Essen passt“, schwärmte sie.

Marcello nickte zustimmend. „Genau. Der Trebbiano ist leicht zu trinken und einer der beliebtesten Weine, die man in Italien begleitend zum Essen trinkt. Es gibt kein Restaurant, auf dessen Weinkarte man keinen Trebbiano findet, und deine sind auf einigen davon, nicht wahr, Franco?“

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