Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte

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Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte
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Felix Schmidt

Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte

Roman


Erste Auflage 2022

Osburg Verlag Hamburg 2022

www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida

ISBN 978-3-95510-275-3

eISBN 978-3-95510-284-5

Für Axel Ganz

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Dank

1.

Ich habe diesem Tag gleich beim Aufstehen nicht getraut.

Der leichte röchelnde Schlaf, die quälenden Gedanken an Krankheit, die Bilder von Corona-Patienten auf den Intensivstationen schrecken mich immer wieder hoch. Um sechs bin ich schon auf den Beinen und versuche die Unruhe der Nacht mit Entspannungsübungen und einer halben Alprazolam zu dimmen. Beim Frühstück stoße ich die Teetasse um, aber das ist nichts Neues.

Als ich zum Taxistand am Adenauerplatz laufe, muss ich auf halbem Weg zurück, weil ich die Mundschutzmaske vergessen habe. »Ich muss in zwanzig Minuten in der Charité in Mitte sein«, sage ich zum Fahrer, als ich den Matsch vom Aprilschnee am Trittbrett von den Schuhen klopfe. Der Fahrer lässt einen Wortschwall auf mich nieder. Ich verstehe nur, dass ich früher hätte aufstehen sollen. Für ihre ruppige Anschnauzerei sind die Berliner Taxifahrer ja bekannt.

Dann aber manövriert er mich ortskundig an den verstopften Hauptstraßen vorbei und setzt mich vor einem Zugang der Charité ab, der wegen der Pandemie »aus Sicherheitsgründen« geschlossen ist. Ich laufe, nein ich renne von einem zum anderen Ende des Campus, der die Ausmaße eines mittleren Dorfes hat. Die Arzthelferin schaut streng auf die große Wanduhr vor dem Arztzimmer: »Sie sind aber arg verspätet.«

In kribbeliger Erwartung betrete ich das Zimmer des Professors. Es ist so weiß wie sein tadelloser Arztkittel und so karg möbliert, dass es ortlos wirkt. Das Gesicht des Arztes, der einen internationalen Ruf genießt, kenne ich nur von Fotos aus dem Internet. Jetzt verbirgt er seine freundlichen Züge hinter einer Maske, die wie ein Schalldämpfer auf seine Stimme wirkt.

Mit einem süddeutschen Akzent erkundigt er sich nach meinem Befinden. Er lässt die Blätter des Laborberichts ein paar Mal zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her gleiten, bis er die Stelle findet, die er mit einem roten Filzstift gemarkert hat.

Die Pause empfinde ich als beängstigend. In die Stille hinein empfiehlt er eine Rückenmarkbiopsie und spricht davon, dass die Blutwerte eine monoklonale Gammopathie anzeigen.

»Was ist das?«, frage ich.

»Wir müssen ausschließen, dass es sich um etwas Bösartiges handelt.«

»Krebs?«

Der Professor deutet ein Nicken an.

Kaum ist das Wort heraus, wird es dunkel vor meinen Augen. Es ist, als ginge schlagartig das Licht im Arztzimmer aus an diesem düsteren Apriltag. Eine finstere Macht krallt sich um mein Herz. Der Puls klettert bis zum Hals. Die Wörter laufen mir weg, ohne dass ich sie kontrollieren kann, als ich mit der resoluten Arzthelferin einen Termin für die Biopsie vereinbare.

Da ist es wieder, dieses Gefühl. Es ist so betagt wie ich, es ist mein lebenslanger Begleiter. Ich kenne das alles. Es ist wie das Crescendo in der Musik, steigt langsam an, erreicht einen Höhepunkt und verebbt dann wieder. Es verändert für Wochen und Monate mein Leben, wie damals, als meine Frau mich verlassen hat, oder wie jetzt, wenn das böse Wort Krebs fällt. Es ist ein diffuses Gefühl existenzieller Bedrohung, dem man hilflos ausgeliefert ist. Es ist so, als hechle ein großer bissiger Hund ständig hinter einem her. Es ist Grauen, Lähmung und Panik in einem und kommt von tief unten aus einer Seelenschicht, in die das, was man mit dem Allerweltsbegriff Angst umschreibt, nicht hinabreicht. Es ist ein Seelengefängnis. Wie nur bin ich da hineingeraten?

Ein paar Tage später nehme ich dieses Gefühl aus dem Arztzimmer mit auf die Reise, dorthin, wo es vermutlich herkommt: in meine Kindheit. Ich will es zuordnen, Licht in die Zeit bringen, als sich der Alb auf meine Brust gesetzt hat. Ich will das Erbgut sequenzieren, um festzustellen, was ich vom Elternhaus mitbekommen habe. Während ich den Koffer packe, keimt die Hoffnung in mir auf, dass es eine Reise werden könnte, die zu mir hinführt.

2.

Es ist endlich warm geworden. In der vergangenen Nacht war mit Blitz und Donner ein Wolkenbruch niedergegangen. Jetzt sticht die Sonne wieder vom hohen Himmel, die Straße dampft. Es wird ein schöner Frühlingstag werden. Auf dem Weg zum Bahnhof muss der Taxifahrer immer wieder großen Pfützen ausweichen, die noch vom nächtlichen Guss geblieben sind. Der Großraumwagen im ICE nach Basel ist fast leer. Dennoch mahnt der Schaffner, den Mund-Nasen-Schutz anzulegen. Ich esse das Fischbrötchen zu Ende, das ich am Bahnhof bei »Back und mehr« gekauft habe, bevor ich die Maske aufsetze.

Ich lehne das Gesicht gegen die kalte Scheibe, blicke auf die schroff aufragenden Fassaden der Stadt. Bald franst die Metropole aus und geht in die flache Graslandschaft über. Nur die aufgeplusterten weißen Frühlingswölkchen reisen mit. Die Nervosität der letzten Tage verfliegt mit jedem Kilometer. Sie weicht den Überlegungen darüber, was ich in meinem Heimatort, der Kleinen Stadt am Rhein, vorhabe.

Ich kehre in Gedanken in jene Kinder- und Jugendtage zurück, in denen sich etwas Zerstörerisches in das Familienleben eingeschlichen hatte, das seither in meinem Unterbewusstsein weiterlebt. Im Laufe der sieben Jahrzehnte, die seither vergangen sind, hat vieles in der Distanz eine andere Farbe angenommen. Die Erinnerung ist ja oft nur eine Annäherung, treibt seltsame Blüten. So mischen sich in das reale Geschehen Bilder ähnlicher Schicksale, von denen ich nur gehört habe. Doch auch das dient dazu, das Milieu von damals zu erhellen.

Nach über sieben Stunden Fahrt quer durch Deutschland steige ich in Freiburg im Breisgau aus dem Zug. Ich gehe den Bahnsteig entlang, das Fahrgeräusch dröhnt noch in meinen Ohren. Nach einem prüfenden Blick erkenne ich den Freund aus Jugendtagen sofort, trotz des Barts, der jetzt um sein Kinn gewachsen ist. Er steht, wie verabredet, am Zeitschriftenkiosk, immer noch von gleicher kräftiger Statur und so versonnen wie einst. So selbstversunken habe ich ihn auch in Erinnerung. Ich habe ihn bestimmt seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte sich angeboten, mich abzuholen und in die Kleine Stadt am Rhein zu bringen, wo ich im »Gasthof zum Engel«, der sich jetzt ein wenig großspurig Hotel nennt, ein Zimmer für vierzehn Tage gebucht habe. Der alte Freund freut sich sichtlich über das Wiedersehen.

Als wir im Auto sitzen, erzählen wir einander, wie es uns in den letzten Jahrzehnten ergangen ist. Er hatte Karriere gemacht, war Rektor des Gymnasiums in der Kreisstadt geworden, nicht nur weil er den Konkurrenten um die Stelle einen Gedankensprung voraus war, sein Engagement in einer Partei scheint ihm dabei dienlich gewesen zu sein. Nun sei er aber schon einige Jahre im Ruhestand. Er sei lange nicht damit zurechtgekommen, morgens nicht mehr in den Schuldienst zu dürfen. Mit einigem Behagen spricht er davon, dass er aber immer noch als Nachhilfelehrer in Anspruch genommen werde. »Das macht Freude und bringt ein wenig Geld in die Familienkasse.« Er hat seine Jugendfreundin geheiratet und mit ihr zwei Töchter aufgezogen.

Wir schlängeln uns auf einer serpentinenreichen Straße durch sattgrüne Matten und Weinberge, die schon im Saft stehen und am Horizont in einen dunklen Tannenwald übergehen – Augentrost für einen Menschen, der seit Monaten auf nichts anderes als das Berliner Fassadengrau geblickt hat.

 

Mir kommt der immer wiederkehrende Satz des Vaters in den Sinn: »Wer im Garten Eden lebt, braucht keinen Urlaub.« Damit hat er die Bitte der Familie abgewehrt, doch einmal in die Sommerfrische zu fahren, möglichst ans Meer. Er war richtig verärgert gewesen, wenn die Sprache auf das Thema Urlaub kam. Sträubte sich da etwas ihn ihm, das wir nicht kannten und nicht wissen sollten? Ein dunkler Fleck in seinem Leben? Ich habe es nie herausbekommen.

Als Handwerksbursche war der Vater jahrelang auf Wanderschaft gewesen. »Ich habe die Welt gesehen«, hat er von sich behauptet. In Wahrheit hatte er nur Deutschland und Österreich durchstreift. Die Postkarten mit Grüßen in Frauenhandschrift, die ich nach seinem Tod in einem Schuhkarton verborgen gefunden habe, sind Zeugnisse seines Draufgängertums. Da muss er erstklassig gewesen sein.

Als er dann sesshaft wurde und eine aus der Postkartensammlung geheiratet hatte, die Mutter, gingen seine Ausflüge über sein Blickfeld tatsächlich nicht mehr hinaus.

»Daheim ist es am schönsten«, war ein anderer seiner Lebenssprüche gewesen. Er meinte damit den Obstgarten mit dem alles überragenden Kirschbaum hinter dem Haus, in dem die Familie am Sonntagnachmittag Kaffee getrunken und den Marmorkuchen aus Rührteig gegessen hat.

Das alles wird an diesem hellen Apriltag wieder lebendig, als ich mit dem Freund an den Bauernhöfen mit den herabgezogenen Schindeldächern und dem Blumenschmuck vorbeifahre, der wie ein Garten über dem Fenstersims hängt. Das Abendrot, das uns die letzten Kilometer begleitet hat, ist verblichen, es dämmert, während wir das Ziel erreichen. Der »Gasthof zum Engel« sieht immer noch so aus wie früher, als die Kleine Stadt am Rhein kaum viertausend Einwohner zählte. Mittlerweile haben sich um den alten Stadtkern viele Reihenhäuser gruppiert und mittelständische Industriebetriebe angesiedelt. Die Kleine Stadt hat es so auf über zwölftausend Einwohner gebracht.

Dort, wo die Landschaft terrassenförmig in die Vorberge des Schwarzwaldes aufsteigt, funkelt nun das Weiß neuer Villen, die sich örtliche Fabrikanten und Professoren aus der nahen Universitätsstadt gebaut haben, wie mir der Freund sagt.

Er nimmt mir Koffer und Tasche ab und trägt sie in den Gasthof. Er schnauft dabei vor Anstrengung. Ich sehe ihn von der Seite an und bemerke, dass einem Menschen auch die Jahre im gemächlichen Schuldienst zusetzen können.

»Wenn du mich brauchst, ruf mich an, ich kann in fünfzehn Minuten da sein.«

Während meine Personalien aufgenommen werden und die Aufenthaltsberechtigung geprüft wird, schaue ich mich in der mit dunklem Holz getäfelten Gaststube um. Sie kommt mir gemütlicher vor als früher, das mag an den mildes Licht spendenden Wandlampen liegen. Der Raum ist fast leer.

»Die Pandemie«, sagt der Mann an der Rezeption, der meinen Blick verfolgt hat. »Wir dürfen nur Gäste aufnehmen, die nachweisen können, dass sie beruflich im Ort zu tun haben.«

»Wie ich.«

Das Zimmer Nummer zwei, das er mir zuweist, ist mit einer heiteren französischen Tapete ausstaffiert, die die Geschichte eines Schäfers und einer Schäferin erzählt, es hat ein eigens Bad, das es vor Jahren, als ich zum letzten Mal hier war, noch nicht gab. Ich packe rasch mein Waschzeug aus, wasche mir zwanzig Sekunden lang die Hände, wie man es in diesen Zeiten tun sollte. Dann mache ich mich auf den Weg zum Elternhaus. Es sind nur zehn Minuten zu Fuß. Ich habe es nicht eilig und gebe den Gedanken und Bildern nach, die sich mir aufdrängen. Es ist eine mir immer noch vertraute Gegend mit Menschen, die genau so aussehen wie vor vielen Jahren, als ich im Gymnasium die Schulbank drückte und an dem ich jetzt vorbeilaufe, nicht ohne Respekt, wie damals. Es sind jetzt nur noch drei Minuten zum Elternhaus. Das weiß ich von früher.

Der Großvater, den ich nur von einem Bild kenne, das auf dem Vertiko im Wohnzimmer stand und einen gedrungenen Mann zeigte, dessen rundem Gesicht man den Lebensgenuss ansah, hat das dreistöckige Gebäude um die Jahrhundertwende auf einem großen Grundstück in einfachem Stil erbaut, um nicht zu sagen in keinem Stil. Der Vater hat den grauen Kasten gründlich renoviert, mit Wetterfarbe geweißelt und die Küferwerkstatt, die den Obstgarten vom Haupthaus trennte, um einige Zubauten erweitert. Das Geschäft mit den Weinfässern scheint in jenen Tagen gut gelaufen zu sein, die Nachfrage muss größer gewesen sein als das Angebot. Deshalb konnte er auch einige Gesellen einstellen, eine neue Bandsäge und ein zeitgemäßes Hobelwerk kaufen, wofür er bei der Vereinsbank-Filiale, die ein Verwandter leitete, einen Kredit aufgenommen hat, den er bereits nach fünf Jahren getilgt hatte. Der Vater muss ein scharfer Rechner gewesen sein.

Auf diese Leistung, überhaupt auf sein Handwerkertum, auf seinen Meisterbrief vor allem, war er noch stolz, als die Zeit ihm schon den Rücken gekrümmt hatte, die Lebensperspektive vermasselt war und er unter dem hochragenden Kirschbaum dahindämmerte: Um ihn herum hatte er einst den stattlichen Gemüsegarten angelegt, der alles hergab, was in der Küche gebraucht wurde. Für den täglichen Bedarf wurde ja nur das Allernötigste gekauft.

Siebenundachtzig Jahre sind vergangen, seit ich in diese Welt hineingeboren wurde. Ich bin um vieles älter geworden als der Vater. So lange hat es gebraucht, um über das schreiben zu können, was sein Schicksal war und in meinem Leben ein Angstgefühl hinterlassen hat.

3.

Eigentlich wollte ich gar nicht aus der Mutter in die Welt schlüpfen.

Es war fünf Uhr morgens an einem Donnerstag, als die Wehen einsetzten und die Hebamme geholt wurde. Aber weder sie noch die Großmutter schafften es, mich aus der dunklen Höhle im Bauch der Mutter zu zerren. Doktor Gutenberg, der Hausarzt, wurde alarmiert. Er hatte eine Praxis nur ein paar Häuser weiter und kam auf Zuruf. Dem Doktor gelang es, mich mit einiger Mühe und einer Zange ans Licht des schon sonnigen Apriltages zu holen.

Ich war nicht das rosige Baby, das erwartet worden war. Ich war blau – wie der Vater, der offenbar vorzeitig einen zu großen Willkommensschluck aus der Schnapsflasche genommen hatte und nun am Türrahmen lehnte und dumme Fragen stellte, bis die Großmutter ihn aus dem Zimmer warf. Weil ich mich weigerte, richtig zu atmen, schüttelte und tätschelte sie mich, redete leise auf mich ein, flehte mich an: »Komm, komm.« Schließlich hob sie mich in die Höhe, schwenkte mich durch die Luft, und endlich kam der erste Schrei. So hat sie es mir einmal erzählt. Ihre wärmenden Hände haben mir auch in späteren Jahren die Liebe und den Halt gegeben, die ich von den Eltern nicht bekam.

Aber Familie ist Schicksal. Auf die Entscheidung, zu wem wir gehören, haben wir keinen Einfluss.

Die Geschehnisse der frühkindlichen Tage, an die ich mich entsinne – oder waren es die Erzählungen der Großmutter von den Geschehnissen, an die ich mich erinnere –, waren mit Lärm und Geschrei verbunden. Es war tief in der Nacht, als mich das Klirren von Glas und Geschirr aufweckte, das zerschmettert wurde. Mein Bett stand in einem kleinen Zimmer, das an die Küche angrenzte. Von dort kam das Klirren. Die Stimmen, die in den kurzen Pausen zwischen den Aufschlägen gegeneinander kämpften, waren mir vertraut: das Geschrei des Vaters und das Schluchzen der Mutter. Ich war viereinhalb Jahre alt, und es war das erste Mal, dass ich einen der vielen Jähzornausbrüche des Vaters erlebte, mit denen er die Familie immer wieder in Schrecken versetzte und mir große Angst einjagte. Mein kleiner Bruder, der ohne jede Schwierigkeit zwei Jahre zuvor geboren worden war und neben mir schlief, bekam von dem verstörenden Radau nichts mit. Auch später hat ihn der Unfriede in der Familie nicht sonderlich berührt, er konnte die Querelen von sich abschütteln. Er hatte einen günstigen Wind in seinem Lebenssegel.

Wochen später klirrte und brüllte es wieder in der Nacht. Der Lärm kam jedoch nicht aus der Küche. Er kam vom Nachbarhaus, von Männern in Uniformen – heute weiß ich, dass es braune waren –, die mit Brechstangen und Vorschlaghämmern Scheiben und Türen einschlugen. Es war das Haus einer vielköpfigen Familie, zu der die gutnachbarliche Beziehung eine Selbstverständlichkeit war.

Die Schreie des Vaters über die Straße hinweg, »Aufhören! Aufhören!«, gingen im Gejohle und im Zerstörungsrausch der Horde uniformierter Männer unter. Er hatte Glück, dass er nicht gehört wurde. Immerhin hatte er, wie mir später klar wurde, Zivilcourage bewiesen, denn er wusste genau, wogegen er protestierte.

Als er am Morgen danach im Volksempfänger die Nachrichten hörte, erfuhr er, dass im ganzen Deutschen Reich bei Einbruch der Dunkelheit die Geschäfte der Juden von SA-Leuten geplündert, ihre Häuser zum Teil zerstört und sie selbst eingesperrt worden waren. So hat er es der Mutter und der Großmutter erzählt. Im Großdeutschen Rundfunk hatte das sicher anders geklungen. Nun musste er sich auch nicht mehr darüber wundern, dass jüdische Nachbarn, mit denen er befreundet war, die Kleine Stadt am Rhein schon vor Wochen verlassen hatten, ohne sich von den Nachbarn zu verabschieden.

Die Synagogen brannten noch, als am zehnten November 1938 in den evangelischen Kirchen Luthers Geburtstag gefeiert wurde. Ich war mit meinen viereinhalb Jahren noch zu jung, um diese frühen Eindrücke richtig zu deuten. Das Klirren des Geschirrs in der Küche und das Splittern der Scheiben in der damals sogenannten Reichskristallnacht flossen ineinander und vermischten sich mit dem Bild der Großmutter, die, als draußen der Pogrom tobte, Perlen, die an einer Schnur aufgereiht waren, durch Daumen und Zeigefinger schob und dazu vor sich hinmurmelte.

Später, als ich schon begreifen konnte, dass man mit Gebeten Schaden abzuwenden versucht, bläute sie mir ein, der Rosenkranz sei die beste Medizin gegen die Zumutungen des Lebens und die wichtigste Waffe gegen das Böse. Mein Seelenfrieden war, wenn ich den Rosenkranz mit ihr betete, meist wiederhergestellt, noch bevor die neunundfünfzig Perlen am Schnürchen durch meine Finger geglitten waren. Beim zweiten oder dritten der zehn Ave-Marias war ich bereits eingeschlafen.

Als ich einmal starke Bauchschmerzen hatte und auch der zweimal gebetete Rosenkranz keine Wirkung zeigte, empfahl sie mir, stattdessen beide Ohren mindestens eine Minute lang mit den Händen zu massieren – ein Vorschlag, den heute sogar Mediziner machen. Sie war nicht nur fromm, sondern auch pragmatisch. Sie hat mir nicht nur das Beten beigebracht, sie hat mir auch gezeigt, wie man mit Messer und Gabel isst und sich den Hintern richtig abwischt.

Damals in der Nacht, als in der elterlichen Küche die Scherben klirrten, hat mein kindliches Gemüt ersten Schaden genommen. Vage spürte ich, dass die häusliche Eintracht einen Riss bekommen hatte. Es waren sicher Angsttränen, die ich weinte, als mich die Großmutter, die den tobenden Vater nicht beruhigen konnte, aus dem Bett holte und zu sich in ihre Wohnung nahm. Dort blieb ich, bis sie starb. Sie war ins oberste Stockwerk gezogen, als der Vater geheiratet und das Geschäft übernommen hatte. In diesem Rückzugsgebiet hat sie, so gut sie konnte, ausgeglichen, was die Eltern mir an Liebe nicht geben konnten.

Die Großmutter war eine kleine zierliche Frau mit einem gütigen Gesicht und klaren Augen. Sie war eine auf naive Art tiefreligiöse Katholikin, die sicher das Vaterunser rückwärts beten konnte. Selbst bei Anlässen, bei denen man es nicht vermutete, hatte sie ein Gebet auf den Lippen. Ich habe einmal beobachtet, wie sie den Hühnern, die im großen Obsthof umherliefen, ein Vaterunser vorbetete. »Man muss den Herrgott bei allem, was man tut, vor sich haben«, hat sie mich belehrt, als ich sie darauf ansprach.

Immer deutlicher empfand ich, dass mich mit ihr mehr verband als mit den Eltern. Ich war froh, sie als Verbündete zu haben, wenn es sein musste auch gegen den Vater. Ich schlief neben ihr im Bett, bis ich mein eigenes Zimmer, eine Mansarde, bekam. Wenn ich Sorgen hatte, schlechte Noten aus der Schule brachte oder im Kaufmannsladen beim Klauen erwischt worden war, suchte ich Trost bei ihr. Mutter und Vater sah ich eigentlich nur bei den Mahlzeiten – und auch bloß, weil die Großmutter mit am Tisch saß. In meiner Erinnerung ging sie immer leicht vorgebeugt, den Rücken gekrümmt, vielleicht trug sie immer noch an der Schinderei auf den Feldern und in der Werkstatt ihres Mannes, und an der Last der Schicksalsschläge.

 

Auf einem unserer Spaziergänge über den Friedhof zeigte sie mir das Grab ihrer Zwillinge, die im Alter von sechs Jahren an einer Gehirnhautentzündung verstorben waren. Wenn die Großmutter von den Toten, von Krankheit und Unglück sprach, waren immer Trauer im Ton und Tränen in den Augen. Manchmal, wenn sie von den schweren Tagen der Vergangenheit erzählte, stemmte sie die Hände in die Seiten ihres schmächtigen Körpers, als wollte sie sich mit dieser Geste nachträglich noch gegen die Schicksalsschläge zur Wehr setzen.

Als ich eines Abends vom Milchholen in der Milchzentrale der Kleinen Stadt zurückkam, stand sie, die Hände fest an die Lenden gepresst, als wolle sie sich gegen etwas abschirmen, in ihrer geblümten Schürze in der Küche vor dem Radio, der Vater neben ihr. Er hatte die Hand hinter das rechte Ohr geschoben, damit er besser verstehen konnte, was gesagt wurde. Es war die Stimme Adolf Hitlers, die den Einmarsch der deutschen Truppen in Polen bekanntgab. »Jetzt geht der Schrecken wieder los«, sagte sie. Sie hatte den Ersten Weltkrieg erlebt. Soeben hatte der Zweite begonnen.

Mit dem Namen Hitler konnte ich schon etwas anfangen. Der Vater hatte ihn öfter erwähnt und mir mit einem abfälligen Zungenschlag erklärt, dass er der Reichskanzler sei und der Führer einer Partei, die sich NSDAP nenne. Offensichtlich mochte er sie nicht.

Es war der erste September 1939. In der Kleinen Stadt am Rhein war es ein nieseliger Tag, der mit schwerem Regen in die Nacht überging. »Ich habe mir gedacht, dass der Hitler einen Krieg anfangen wird«, sagte die Großmutter.

Am selben Abend warf mich der Vater aus der Küche, als ich ihn in einer merkwürdigen, geradezu lächerlichen Pose ertappte. Er saß auf einem Stuhl und hatte ein Tischtuch über seinen nach vorne gebeugtem Kopf gehängt, als würde er aus einer Schüssel heiße Kamillendämpfe inhalieren. Dabei schien es, als redete er mit sich selbst, bis ich merkte, dass die Sätze aus dem Radio kamen. Als ich ihn anstupste, tauchte er kurz unter dem Tuch auf und schrie: »Geh raus«, ganz so, als hätte ich ihn bei etwas erwischt, das man nicht tut. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis mir klar wurde, dass er die in deutscher Sprache gesendeten Nachrichten der britischen BBC hörte. Nach der mit Paukenschlägen verbundenen Ankündigung »Hier ist London« konnte man auf dieser Welle erfahren, was man in den Nachrichten des Reichssenders nicht hörte: wie es um Deutschland wirklich stand, wie die Front im Osten und später im Westen tatsächlich verlief und was mit den Menschen geschah, die von den Nationalsozialisten verschleppt wurden.

Ich war alt genug, um zu begreifen, was Krieg bedeutete. Ich hatte in einem Bildband über den Ersten Weltkrieg aus Großmutters kleiner Bibliothek Fotos gesehen, die mich erschreckten: Kanonenrohre, aus denen dunkle Rauchwolken kamen, Soldaten, die sich die Ohren zuhielten, wenn eine Salve abgefeuert wurde, ein Offizier mit blutiger Stirn, der beide Hände Hilfe suchend einer Schwester in Rot-Kreuz-Kleidung entgegenstreckte.

»Das steht uns alles wieder bevor«, sagte die Großmutter, als sie mich wieder und wieder im Kriegsbuch blättern sah, und griff zum Rosenkranz.

Ein Bild, das nicht in Großmutters Fotoband war, das ich erst Jahrzehnte später bei meinen Recherchen im Archiv der Kleinen Stadt am Rhein entdeckt habe, lässt mich vermuten, dass der neue Krieg die Kleine Stadt rasch aus der Stille und Behaglichkeit herausgerissen hat. Das mit den Jahren verblichene Foto zeigt eine Ansammlung von Männern in graugrünen Uniformen mit Tornistern und Stahlhelmen und Frauen, die offensichtlich von ihren Männern Abschied nehmen. Möglicherweise war der Vater auch darunter. Er ist jedenfalls in den ersten Kriegstagen oder vielleicht sogar schon vorher eingezogen worden. Er war damals um die vierzig Jahre alt. Den Einberufungsbefehl habe ich nach seinem Tod im Keller in einem Karton gefunden, den die Mäuse schon so zerfleddert hatten, dass man auf den Papieren nicht mehr viel entziffern konnte, auch nicht das Datum. Nur der Name Olmütz war noch zu lesen.

Der Vater hat sich später geweigert, über die Militärzeit zu sprechen. Wenn ich ihn danach fragte, verschränkte er seine Hände auf dem Rücken und fertigte mich mit dem Satz ab: »Im Krieg geht alles drunter und drüber, ich kann mich an nichts mehr richtig erinnern.«

Ich kann nur vermuten, dass er in den Tagen, in denen er eine Uniform trug, mit Dingen konfrontiert wurde, die seine Abneigung gegen den Hitler-Staat verstärkten und ihn schließlich in die totale Ablehnung trieben.

Ich habe auch nie aus ihm herausbekommen, ob er vielleicht nicht wie die meisten Deutschen am Anfang, als Hitler die Autobahnen baute und sechs Millionen Arbeitslose von der Straße holte, der NSDAP einige Sympathie entgegengebracht hat – wie sein Vater. Er war gleich bei Hitlers Machtübernahme 1933 in die Partei eingetreten und trug das runde Abzeichen mit dem Hakenkreuz am Revers des Sonntagsanzugs.

War es noch im Winter 1939 oder schon Frühling des folgenden Jahres, als der Vater überraschend wieder nach Hause kam? Er hatte zwar in einem dieser grauen Feldpostbriefe geschrieben, dass er im Lazarett liege, aber nicht wo und warum.

Niemand hatte mit ihm gerechnet. Die Mutter hantierte am Herd, und die Großmutter las im »Heimatboten«, als er aus dem Halbdunkel des Flurs in die Küche trat. Er nahm die Mütze ab und sagte: »Ich bin wieder da.« Er wirkte fremd. Die Haare waren ihm ausgefallen, er war bis auf die Knochen abgemagert, er hustete furchterregend. Noch in der Küche sackte er in sich zusammen. So hat es mir jedenfalls die Großmutter erzählt. Die nächsten Monate verbrachte er vorwiegend im Bett. So gut es ging, steuerte Doktor Gutenberg, der alle zwei Tage nach ihm sah, mit Medikamenten der lebensbedrohenden Rippenfellentzündung entgegen, die er im Lazarett nicht richtig auskuriert hatte. Sie war auf dem Heimweg wieder voll ausgebrochen. Es dauerte und dauerte, bis er wieder auf die Beine kam. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen.

Die Mutter hatte es nicht leicht mit ihm. Wenn der Vater nach ihr rief, weil er Durst hatte oder auf die Toilette musste, sprang sie sofort auf. Sie seifte ihn, auch wenn er es nicht wollte, mit ihren kräftigen Händen ab. Sie wechselte einmal am Tag das durchgeschwitzte Bettlaken. Ich habe ihr dabei einmal zugeschaut und an ihren Händen die vielen Schrunden gesehen, die noch aus den Tagen stammten, als sie auf dem elterlichen Bauernhof im Renchtal hart anpacken musste. Sie war Tag und Nacht um ihn. Nur am Sonntag verließ sie das Haus, um in die Messe zu gehen. Dafür legte sie die Kittelschürze ab, zog das dunkelblaue Kostüm an, das sie im örtlichen Bekleidungshaus gekauft hatte. Dann flocht sie ihre tiefschwarzen Haare zu einem mächtigen Zopf, den sie unter einem Kapotthütchen nur mühsam verstecken konnte.

Der Aufenthalt in der Kirche und der anschließende Gang auf den Friedhof zu den Gräbern der Familie war nicht nur eine Verschnaufpause im aufreibenden Alltag, der Weihrauch, der Sing-Sang der lateinischen Messe, das Gold des Hochaltars waren auch gut für das ramponierte Seelenheil.

Die Pflege des Vaters hat sie nicht nur körperlich erschöpft, sondern auch seelisch. Der Vater zeigte so gar keine Dankbarkeit für das, was die Mutter tagein, tagaus rund um die Uhr leistete. Im Gegenteil. Wenn ihm etwas nicht passte oder sie nicht schnell genug war, fing er sofort an zu schimpfen und zu fluchen, er versetzte ihr richtige Seelenhiebe.

»Ja, geht’s denn nicht schneller?« Oder: »Bist du denn zu gar nichts fähig?« Und so ging’s weiter.

Die Mutter hat nie dagegen aufgemuckt. »Um des lieben Friedens willen«, wie sie sich später einmal rechtfertigte.

Manchmal habe ich an der Tür zum Schlafzimmer gelauscht, aus dem ein lustvolles Stöhnen kam, hinter dem ich in meiner kindlichen Naivität etwas Harmonisches vermutete. Es war ein geheimnisvolles Spiel, das ich noch nicht zu deuten wusste. Da war der Vater schon einigermaßen hergestellt und arbeitete wieder in der Werkstatt. Ein anderes Mal schnappte ich beim Lauschen ein Wort auf, unter dem ich mir nichts vorstellen konnte: »Konzentrationslager«. Was es damit auf sich hatte, hat er nur geflüstert. Ich konnte nur so viel verstehen, dass es sich um Häuser handeln musste, in die man Menschen einsperrte. Als ich ihn Tage später fragte, was ein Konzentrationslager sei, das Wort hatte ich mir gemerkt, schüttelte er mürrisch den Kopf. »Weiß ich nicht, wo hast du denn das her?«

Die vierziger Jahre schritten voran. In meinem Gedächtnis läuft da vieles zusammen, was sich zu einem Gefühlsgebirge auftürmt, Wolkenwülsten vergleichbar, die aussehen, als habe Rubens sie an den blauen Sommerhimmel des Jahres 1942 gemalt. Der Vater hatte wieder zurück ins Alltagsleben gefunden, ganz erholt hat er sich jedoch nie mehr. Das lässt sich schon an den immer wiederkehrenden Infektionen und den vielen Arztbesuchen ablesen, von denen er stets abgeschlagen und mutlos zurückkehrte.

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