Bambis Kinder

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III

Als Faline mit den Kindern wieder einmal schlafen ging, saß auf der kleinen Blöße, die sich im Dickicht öffnete, der Hase.

Er hielt das Haupt schräg empor, seine Schnurrhaare bebten unablässig, so stark witterte er beständig. Er sah kummervoll und nachdenklich aus.

»Zum Gruß, Freund Hase«, sprach ihn Faline an.

Er schnellte beide Löffel hoch. »Zum Gruß! Zum Gruß!« klang seine Antwort mit leiser gepreßter Stimme. Es war, als risse er sich aus seinen versorgten Gedanken und suchte Fassung zu erlangen.

»Das sind deine Kinder?« fragte er tief ergeben. Immer leise fügte er hinzu: »Schöne, gesunde Kinder.«

»Gefallen sie dir?« Faline vergnügte dieses Lob.

»Die jungen Herrschaften müssen jedem gefallen.« Der Hase ließ die Löffel sinken.

Geno und Gurri standen dabei und betrachteten den Hasen aufmerksam.

Der redete zu ihnen: »Nehmt euch nur in acht, meine Verehrten, daß euch nichts Böses geschieht. Auch ihr gehört zu den Guten, zu den Edlen, zu den Unschuldigen und gerade die werden immer verfolgt. Am meisten hütet euch vor dem grausamen Fuchs.« Der Hase war ergriffen. »Ihr dürft nicht beleidigt sein, weil ich euch warne. Ich sehe euch heute zum erstenmal.«

»Gehst du nie auf die Wiese?« mengte sich Faline ein.

»Du merkst«, entgegnete der Hase, »ich sitze hier ganz nah am Saum der Dickung. Ein Ruck und ich verschwinde. Mit der Wiese ist es vorbei. Ich traue mich nicht mehr hinauszugehen.«

»Deshalb habe ich dich so lange nicht getroffen.«

»Ach«, klagte der Hase, »wenn du wüßtest, was ich durchgemacht habe!«

Plötzlich schlug er die Löffel hoch, richtete sich steil auf, daß die kurzen Vorderbeine in der Luft tasteten und sein weißwolliger Bauch sichtbar wurde. »Hörst du nichts?« Er witterte leidenschaftlich, seine Schnurrhaare bebten heftig.

Faline warf das Haupt empor, breitete die Lauscher, zog prüfend den Atem ein: »Alles ist ruhig. Alles. Du bist gar zu ängstlich, Freund Hase.«

Geno hatte gleich der Mutter gelauscht und geschnuppert, denn er war erschrocken. Jetzt meinte er schüchtern: »Man kann nie zu ängstlich sein.«

»Klug gesprochen, mein junger Prinz, sehr klug«, stimmte der Hase zu. »Ich will dir erzählen, Faline, was mir passiert ist. Etwas Furchtbares! Mich hat der Fuchs überfallen! Wirklich, man weiß schon gar nicht mehr, wo man sitzen, wo man essen soll, nah am Rand des Gebüsches oder mitten in der Wiese. Du kennst mich, du weißt, wie vorsichtig ich bin; jedenfalls war ich nur zwei Hopser von der Dickung entfernt. Da, auf einmal stürzt der Räuber hervor, genau an der Stelle, wo ich herausgegangen war. Er ist sicherlich meiner Fährte gefolgt.«

»Wäre es nicht besser gewesen, weiter in die Wiese zu gehen?« fragte Faline.

»Das habe ich früher immer getan«, erklärte ihr der Hase, »und auch damit habe ich schlimme Erfahrungen gemacht. Einmal, es war schon fast hell, bin ich beinahe der großen Eule in die Fänge geraten, in die mörderischen Krallen. Drei Kinder hat sie mir vor meinen Augen weggeschnappt, drei reizende kleine Kinder. Dann wieder kam mir der spitznasige Schleicher ganz nahe, ohne daß ich ihn hörte. Himmel, bin ich gerannt, vor der Eule und vor dem Fuchs! Ich sage ja, man weiß nie, wo man sitzen und einen Bissen in Ruhe essen kann.«

Er richtete sich wieder mit hochgeschlagenen Löffeln kerzengerade auf, horchte und schnupperte.

»Keine Gefahr!« beschwichtigte Faline, nachdem sie und Geno gleichfalls geschnuppert hatten.

»Erzähle weiter«, bat Gurri voll Gespanntheit.

»Also, wie ich nahe an der Dickung saß, stürzt der rote Halunke hervor«, berichtete Freund Hase, »stürzt hervor mit gefletschten Zähnen. Ich sehe den grimmigen Rachen, die gierigen Augen; sein übler Geruch weht mich an, und zuerst faßt mich lähmendes Entsetzen. Aber ich mache ganz von selbst ein paar ratlose Sprünge in die Wiese. Er mir nach, dicht hinter mir. Ich halte mich für verloren und beginne zu laufen. Er immer hinter mir drein. Jetzt schlage ich scharf einen Haken; er rennt geradeaus, und ich gewinne endlich einen kleinen Vorsprung. Doch das nützt mir wenig. Er hetzt mich, hetzt mich, daß mir der Atem ausgeht und der Schädel hämmert. Drei Haken habe ich vollführt, bis ich das Dickicht erreichte. Mir schwirrt es vor den Augen. Renne, was du kannst, denke ich, es geht um dein Leben! Doch ich fühle, daß ich nicht mehr viel weiter kann. Dort in den Hartriegelbüschen drüben kenne ich eine Grube. Drauflos ohne Haken! Ich lasse mich hinunterfallen, liege erschöpft da, mit rasendem Herzklopfen, habe noch sein Keuchen im Gehör; ich zittere und erwarte mein Ende. Um nichts wäre ich imstande gewesen, mich zu regen. Mir ist alles gleichgültig, mag er kommen, sage ich zu mir. Doch er kommt nicht! Er kommt nicht! Langsam fasse ich das Glück, er kommt nicht! Wehrlos bin ich, und er ist stark; aber ich bin schneller als er, und ich habe ihn müde gemacht! Heute noch, wenn ich mich daran erinnere, schüttelt mich das Grauen.«

Der Hase schwieg, die Löffel eng an den Rücken geschmiegt.

»Deine Geschichte werde ich nie vergessen«, versicherte Geno erschüttert, um dann die Mutter zu drängen: »Komm endlich schlafen.«

Faline nahm Abschied: »Gesundes Wiedersehen, Freund Hase.«

»Ein Wunsch für uns alle«, erwiderte der trübselig.

Gurri blieb eine Sekunde zurück, beugte sich nieder, küßte die Stirne des Hasen und flüsterte: »Ich danke dir für deine Erzählung.«

Sie sprang davon.

»Möge dich der Fuchs nie erwischen, kleine Prinzessin«, rief ihr der Hase nach.

Mutter und Kinder begaben sich zur Ruhe.

Allein heute sollte noch mehr, sollte Wichtiges geschehen.

Etliche Stunden später war es. Die Sonne sandte schon heiße Strahlen durch das Laubgitter der Wipfel; die Blätter, die Kräuter, die reifenden Früchte dufteten unter der Sonnenglut; der harzige Geruch des warmen Holzes strömte scharf und kräftigend durch den Wald. Es schwatzten die Meisen, der Pirol schwang sein Jauchzen von Baum zu Baum, der Specht hämmerte und lachte gellend, die Elstern schakerten, der Häher kreischte, Finken, Rotkehlchen, Zeisige sangen ihre Lieder, dazwischen rief der Kuckuck, gurrten die Tauben.

Da wurde Faline mit eins hell wach, erhob sich und weckte die Kinder.

»Auf, Geno! Gurri, auf!«

»Was soll's?« Erschrocken stand Geno gleich auf seinen Läufen, fluchtbereit.

»Keine Gefahr!« herrschte Faline ihn an. »Der Vater ist da!«

»Der Vater!« rief Gurri; sie war noch ganz schlaftrunken, doch es riß sie empor.

Nun riefen beide sehnsüchtig: »Vater! Vater!«

»Wo bist du, Vater?« sagte Gurri zärtlich.

Und Geno fügte hinzu: »Wir sehen dich ja nicht ...«

»Still!« befahl die Mutter, »ihr dürft den Vater nicht anreden! Ihr müßt warten, ob er zu euch spricht! Seid nur bescheiden und schön geduldig ...!«

Sie wendete sich dorthin, wo das Gebüsch am undurchdringlichsten war: »Zum Gruß, Bambi!«

Eine tiefe Stimme antwortete: »Faline, zum Gruß!«

»Die Kinder wünschen sich's so sehr, daß du dich ihnen zeigst.«

»Wenn sie können, werden sie mich sehen.«

Vom Blattwerk verhängt, undeutlich war Bambis Haupt erschienen; stolze, ernste Züge, große, dunkel leuchtende Augen und eine mächtige Krone, die braun geperlt mit langen, hellen Zacken sein Haupt zierte.

Es dauerte eine Weile, bis Geno ganz leise sprach: »Ich sehe dich, Vater ...«

»Wo? Wo?« drängte Gurri, »ich finde dich nicht, Vater.«

Die tiefe Stimme klang: »Suche und schaue.« Dann redete sie weiter: »Sind die Kinder, wie sie sein sollen?«

Faline gab Bescheid: »Gut sind sie und brav. Nur Geno fürchtet sich zu viel.«

»Recht, mein Sohn«, lobte ihn Bambi, »so bleibst du lange am Leben.«

»Aber«, wandte Faline ein, »er bringt sich um das Vergnügen, das er haben soll, und er ist unfreundlich.«

»Zu dir? Oder zu seiner Schwester?«

»Oh nein, zu uns nicht! Doch zu den anderen.«

»Jetzt sehe ich dich, Vater!« rief Gurri glücklich und ganz ohne Scheu, »jetzt sehe ich dich!«

»Mein kleiner Geno«, sprach Bambi, »es ist recht von dir, wenn du vorsichtig, wenn du furchtsam bist. Das gehört zu unserer Art. Einstweilen bin ich zufrieden mit dir. Du wirst jedoch lernen müssen, Achtsamkeit mit Frohsinn zu vereinen. Du wirst es später von mir lernen. Dann wird sich deine Furcht vermindern, deine Laune wird sich aufhellen, und du wirst allen Waldgenossen so liebenswürdig begegnen, wie es sich für unsereinen geziemt. Bis dahin vertraue deiner Mutter.«

»Ich bin zu allen im Walde sehr nett«, pries Gurri sich naiv an, »ich verlasse mich auf die Mutter, und ich habe immer frohe Laune.«

Bambi antwortete ihr nicht. »Faline«, ermahnte er, »die Kleine ist leichten Sinnes, du mußt sie sehr hüten.«

»Vater«, bat Gurri, »Vater!«

Nichts regte sich.

»Vater!« flehte Gurri noch einmal, scheu und leise.

»Er ist fort«, sagte Faline.

Die drei, Mutter und Kinder, horchten, angespannt mit regen Lauschern in das Dickicht.

»Fort«, wiederholte Faline nach einer Weile abschließend.

»Wann kommt er zu uns?« Gurri begehrte Auskunft.

»Bald«, tröstete die Mutter, »schlafen wir jetzt.« Sie tat sich nieder.

Gurri legte sich an ihre Seite und versank sofort in Schlummer.

Nur Geno blieb noch stehen, eifrig horchend. »Unbegreiflich!« bewunderte er den Verschwundenen, »unbegreiflich! Nichts war zu hören! Nichts! So lautlos ist der Vater weg! Von ihm kann man lernen. Von keinem als von ihm!«

Aber Faline und Gurri vernahmen Geno nicht mehr. Da streckte auch er sich hin, doch er fand lange keinen Schlaf.

 

* * *

IV

Seit Wochen herrschte die Sonne.

Die Kinder hatten Regen noch nie erlebt.

Zogen hie und da Wölkchen herauf, konnten sie das glühende Tagesgestirn nicht verdunkeln; sie waren dünn, waren schmächtig, und sie wurden von der Sonne immer wieder zerstreut, zerstört, aufgelöst.

Die Luft kochte vor Hitze.

Selbst des Nachts trat kaum eine Abkühlung ein. In den Dickungen blieb es dumpfig schwül, und es gab fast keinen Tau mehr, die durstigen Geschöpfe des schmachtenden Waldes ein wenig zu laben. Das Wiesengras begann sich gelb zu färben. Die Farne, der Lattich, alle Kräuter am Boden des Dickichts wurden matt und dürr.

Von den Sträuchern, von den Bäumen hing das Laub schlaff, ermüdet hernieder. Ein beizender, unangenehmer Geruch schwebte manchmal über dem Ganzen, als erstickte der Wald.

Durch das Schilf des Ufers schlich der Fuchs.

Die Enten, die träg auf dem Wasser lagen, flüchteten tief ins raschelnde Röhricht.

»Dummes Volk«, knurrte der Fuchs, »ich habe keinen Hunger, nur einen entsetzlichen Durst habe ich. Quälenden Durst!«

Nahe beim Schilf hielt der Reiher auf dünnen, hohen Ständern, ohne sich zu bewegen; er schaute in die schlammigen, langsam hingleitenden Wellen.

Der Fuchs zuckte zurück, als er den Reiher sah.

»Du bist's«, sagte der Reiher, der den winzigen Kopf zur Seite drehte, »komm nur ruhig heraus.«

»Ich will nichts als ein wenig Wasser trinken«, versprach der Fuchs.

»Wenn du dich anständig benimmst«, entgegnete der Reiher geringschätzig, »darfst du meinetwegen trinken; ich werde dich sicherlich nicht forttreiben.«

Die zwei hatten schon früher ihre Waffen aneinander gemessen. Der Reiher ging damals gegen den Fuchs, der ihn erbeuten wollte, so wild-zornig los, er zielte mit dem langen, spitzen Dolch seines Schnabels so scharf nach den Augen des Feindes, daß der Fuchs entsetzt davonlief. Seither war, so oft sie sich trafen, ein gehässiger Friede zwischen ihnen. Der Reiher verachtete den Besiegten, hütete sich jedoch vor ihm, während der Fuchs einen tiefen Respekt vor dem jähzornigen, wehrhaften Reiher nicht mehr loswurde, zugleich aber ebenso stark die Wut des Gedemütigten empfand.

Jetzt trank der Fuchs gierig; der Reiher ließ keinen Blick von ihm.

»Lächerlich, daß ich mich vor ihm fürchte«, dachte der Fuchs, »ich bin doch keine Nahrung für ihn; warum habe ich Angst vor diesem widerlichen Burschen?«

Der Reiher dachte: »Er soll es nur wagen, er soll sich nur unterstehen, dann hat er keine Augen mehr, dieser rote Kerl! Ich wäre ein Bissen für ihn, das glaube ich. Aber mit mir ist nicht zu spaßen.«

Der Fuchs hatte den Durst gelöscht; mühsam barg seine Stimme die Scheu, die ihn beschlich, doch er rang um ein anständiges Abgehen und sagte: »Das Wasser ist trüb und warm. Ueberhaupt, es wird immer ärger.«

»Findest du?« warf der Reiher gleichgültig hin, indessen seine Blicke funkelten, »... ich kann nicht klagen.«

»Zum Gruß«, empfahl sich der Fuchs.

Er bekam keine Antwort.

Am Saum der kleinen Blöße hockte wieder der Hase, als Faline mit den Kindern vorbeischritt. Er jammerte: »Was werden wir anfangen? Wie soll man das aushalten?«

»Aber dafür sind wir von den Mücken verschont«, redete ihm Faline zu.

Er war jedoch nicht beruhigt. »Merkst du nicht, wie schlecht das Essen schmeckt, bitter, saftlos, halb welk?«

»Aber es gibt keine Mücken«, wiederholte Faline.

»Und wie man sich beim Wittern täuscht«, beschwerte er sich weiter, »bald spüre ich nichts – bald aufregende Gefahren. Eines so schlimm wie das andere.« Er sah elend aus, hatte die Löffel verzweifelt heruntergeklappt und hob sie nicht ein einziges Mal.

»Du bist undankbar, Freund Hase«, mahnte Faline, »es gibt keine Mücken; wir haben unsere Ruhe.«

»Auch im Winter gibt es keine«, widersprach er trübselig, »sollen mich die Mücken stechen! Ich bin daran gewöhnt. Mich peinigt die Hitze, der Durst, das falsche Wittern! Das läßt mich gar nicht zur Ruhe kommen. Ich werde ganz krank davon.«

»Du bist ungeduldig«, Faline ging weiter.

»Ich – ungeduldig?« sagte der Hase hinter ihr drein, »wer hat so viel Geduld wie ich?«

Geno meinte zur Mutter: »Du hast recht; man muß sich freuen, daß diese Lästigen einem nicht mehr um die Augen summen, und daß es einen nicht mehr juckt.«

»Auch der arme Freund Hase hat recht«, meinte Faline, »es ist wirklich nicht angenehm, wenn das Essen schlecht schmeckt, wenn man Hitze und Durst leidet.«

»Ich leide nicht unter der Hitze«, erklärte Geno, »mir tut sie wohl.«

»Ja, du«, antwortete Faline, »du bist noch ein Kind, und Kindern ist es gesund, wenn sie warm haben.«

»Warum, Mutter, gibt es keine Mücken? Ich bin ja froh, daß es keine gibt, aber warum gibt es keine?« Das war die wißbegierige Gurri.

»Weil sie so klein sind«, wollte Geno die Schwester belehren, »und da sterben sie an der Hitze.«

»O nein, mein Sohn«, setzte Faline die Sache auseinander, »die Mücken leben überhaupt nur ganz kurze Zeit. Höchstens eine Reihe von Tagen, dann sterben sie unter allen Umständen, ob es nun heiß ist oder nicht. Aber sie legen ihre Eier in den feuchten, am liebsten in den nassen Boden. Und wenn es wie jetzt überall nur trockenen Staub gibt, kann die Brut nicht ausschlüpfen. Deshalb sind keine Mücken da.«

Niedergetan, hörte Geno, während Mutter und Schwester schliefen, ein paar Fledermäuse flattern, hörte, wie die eine zur anderen sich beschwerte: »Keine einzige habe ich geschnappt.«

Die andere jammerte: »Nicht einmal hier findet man welche! Sonst fliegen sie einem geradezu in den Mund.«

»Ob uns die Vögel alle wegfangen?«

»So viel essen die Vögel unmöglich.«

»Dann verstehe ich das Ganze nicht.«

»Mir ist das Verstehen gleichgültig«, piepte die zweite, »ich habe Hunger.«

Die erste erwiderte: »Rätselhaft! Rätselhaft! Suchen wir Käfer und Schmetterlinge!«

Nun flatterten sie beinahe taumelnd fort.

Geno wollte jetzt auch schlummern.

Da vernahm er das Gespräch der Büsche und Bäume.

»Aus der Erde«, klagte der Haselstrauch, »kriege ich keine Nahrung mehr, meine Nüsse werden taub.«

»Und meine Beeren«, wimmerte die Holunderstaude, »schrumpfen; sie sind ohne Saft.«

Die Eiche seufzte: »Wie ist mir schwer zu Sinn! Die Spitzen meiner Äste dorren. Jeder Windhauch knickt sie mir vom Leib.«

»Aber es regt sich ja kein Lüftchen«, bedauerte die alte Esche daneben.

»Ich dringe mit den Wurzeln tief in die Erde«, ächzte die hohe Buche, »allein, was ich dort trinke, ist viel zu wenig.«

»Wir kommen um«, stöhnte der Ahorn, »mit uns ist es aus!«

Ein schmächtiger, niedriger Eichbaum, den die anderen beschatteten, weinte leise: »Wenn ihr Großen verzagt, bin ich noch früher hin.«

Die hohe Pappel entschied: »Niemand kommt um! Niemand darf verzagen! Es ist eine Zeit der Not, da muß man aushalten und den Mut nicht sinken lassen. Erinnert euch doch, welche Stürme, welche bitteren Entbehrungen wir durchgemacht haben, und wie wir trotzdem gewachsen, trotzdem stark geworden sind. Hört auf zu jammern! Tragt das Leid mit stummer Zuversicht, mit ruhig ergebener Geduld, dann ist es nicht halb so schwer. Und eh ihr's denkt, wird auch die Not vorüber sein.«

Alle schwiegen.

Am Boden der Lattich, die Farne, der Lauch, die anderen Kräuter flüsterten im Chor: »Ihr dort oben könnt leicht reden. Aber uns bleibt nur das Verderben. Wir sind die Armen, und wir ertragen nichts, weil wir arm sind.«


»Still, ihr da unten in der Tiefe«, befahl die Pappel, »gerade die Armen ertragen am meisten, gerade die Armen haben die zäheste Daseinskraft. Das haben wir doch alle oft genug erlebt.«

Ein schüchternes Murren antwortete: »Das sagt man uns immer. Aber von den Unzähligen unter uns, die erliegen, die im Elend sterben, ist nie die Rede!«

»Wer zugrunde geht, geht eben zugrunde!« herrschte die Pappel. »Es ist euer Schicksal, in der Tiefe zu leben. Findet euch damit ab! Nicht alle können groß, hoch und edel sein. Wir haben das nicht so gemacht; es wurde von selbst so.«

Ein höhnisches Kichern ertönte.

»Ihr dort oben«, rief der Hartriegel, »seht ihr nichts? Schaut euch um!«

Der Schlehdorn übertönte ihn: »Wir verschmachten! Du stolze Pappel, vielleicht kannst du uns statt guter Lehren ein wenig Hoffnung spenden!«

Nach einer Weile gab die Pappel Bescheid: »Die Sterne über mir funkeln, doch weiter weg verschwinden sie; wahrscheinlich werden sie von Wolken gedeckt.«

Der Holunderstrauch flüsterte: »Mag sein, daß etwas kommt.«

Alle Büsche raunten durcheinander: »Hoffnung ... mag sein ... Hoffnung!«

Und die Kräuter am Boden bebten unmerklich: »Ja ... Hoffnung ... wenn die uns Armen helfen könnte, wären wir gerettet ...!«

»Unser aller Leben ist Hoffnung!« wies die Pappel sie streng zurecht.

Geno schlief ein.

Als er ein paar Stunden später wach wurde, da war es nicht mehr Tag und noch nicht wieder Nacht. Er meinte, er habe zu lange oder zu kurz geschlafen, fühlte sich verwirrt, denn Mutter und Schwester standen schon auf ihren Läufen; doch sie traten unruhig am Ort umher. Geno wurde bange. »Was geht denn vor?«

»Blick doch hinauf«, riet Gurri. Ihre kleine Stimme hörte sich wie geklemmt an.

Geno hob die Augen. Doch er begriff noch nichts.

Tiefschwarz und drohend hingen die Wolken vom Himmel herab, bedrückend nahe.

Er ließ bestürzt das junge Haupt sinken und trat zur Mutter.

Auch Faline zeigte sich verzagt: »Es kann furchtbar werden.«

»Müssen wir sterben?« drängte Geno.

»Wohl möglich ...«, sagte Faline dumpf.

»Warum denn sterben?« widersprach Gurri, »wieso denn?«

Aber sie wurde nicht gehört. Allen stockte der Atem.

Denn in die lautlose, angespannte Stille, die geherrscht hatte, brach mit einem Mal der Sturm.

Wie ein unsichtbarer Riese fiel er über den Wald her, zornig, erbittert, wild.

Gleich einer Meeresbrandung rauschten die Wipfel, brüllten, ächzten, wimmerten, wie sie gezaust, geschüttelt, gepeitscht wurden.

Blätter wirbelten, von ihrem Wachstum losgerissen, umher, als wären sie von irgendeiner Eile oder von irgendeinem Wahnsinn getrieben. Aeste splitterten mit lautem Knallen oder mit leisen Seufzern und stürzten nieder. Dünnere Baumstämme klirrten jämmerlich aneinander.

Wütend tobte der Sturm, brauste, wie wenn er den Wald vernichten wollte.

Kein lebendes Wesen war zu sehen.

Geno glaubte, alle wären schon tot, und nun müsse er gleichfalls sterben.

Ihm selbst verwunderlich, erfüllte ihn gefaßte Bereitschaft, sich in sein Schicksal zu fügen.

Da erschien plötzlich Bambi vor den Seinen.

»Ruhig, Kinder«, sprach er, »ruhig bleiben, Faline!«

Geno und Gurri starrten ihn wortlos an.

Mitten im Rasen des Orkans stand er, das gekrönte Haupt hoch aufgerichtet, ein Herrscher, ein Beschützer, ein Tröster.

So wunderbar deutlich hatten die Kinder den Vater noch nie erschaut.

Und sein Wort durchdrang das Sausen des Sturmes, das wüste Rauschen der Wipfel und Sträucher.

»Keinen Feind habt ihr jetzt zu fürchten«, redete er weiter, »niemand wird euch etwas zuleide tun. Solange das Wetter dauert, raubt und mordet weder Fuchs noch Habicht, noch sonst jemand.«

Gurri wollte rufen: »Danke, lieber Vater!« Doch sie war unfähig, einen Laut hervorzubringen.

»Meidet die Bäume!« befahl Bambi, »meidet die Pappel vor allem! Haltet euch in den niederen Büschen!«

Er verschwand so plötzlich, wie er gekommen war.

Faline eilte mit den Kindern weg von den hohen, nun hin und her schwankenden Dächern der Wipfel, barg sich und ihre Jungen im Strauchwerk.

Ein greller Feuerstrahl fuhr herab, dem augenblicklich solch ein betäubender Donner folgte, daß die Kinder und sogar Faline entsetzt und geblendet die Augen schlossen. Dicht an die Mutter schmiegten sich Geno und Gurri.

 

Der Blitz hatte die Pappel getroffen, hatte sie gespalten, von oben bis unten.

»Ich bin hin ...«, stöhnte der ragende Baum.

Aus seinem trockenen Leib schlugen Flammen empor, züngelten an den Aesten, die immer aufwärtsgestrebt hatten und die nun, dürr, mit Knistern loderten.

Die Kinder wollten, von Panik ergriffen, fliehen.

»Ruhig bleiben, wo ihr seid!« gebot Faline.

Die Kleinen drängten sich schaudernd noch enger an die Mutter. Nie erlebtes Grauen hielt sie gebannt!

Aber jetzt stürzte, klatschte, prasselte, trommelte der Regen herab, durchdrang die mächtigsten Baumwipfel, überflutete im Nu den Boden und löschte dann den Brand der Pappel.

Der Sturm schwieg. Nur das gewaltige Regenrauschen war vernehmlich. Es wurde empfindlich kühl.

Doch Blitz zuckte auf Blitz; Donner nach Donner rollte grimmig über den Wald.

Still empfingen alle die Flut, die der Himmel niederschüttete; ergeben und furchtsam hörten die Bäume den majestätischen Zorn, der sich unter Blitz und Donner kundgab.

Denn sie hielten das für Zorn.

Geno und Gurri waren ganz naß. Beide froren ein wenig; auch Faline triefte vor Nässe, doch sie fror nicht.

Im Buschwerk standen die drei, ohne sich zu bewegen.

Nach einer Weile wurde es heller, bald darauf ganz hell.

Faline sagte: »Nun wird kein Feuer mehr herunterfahren und kein Brüllen mehr sein.«

Die Kinder antworteten nicht; sie vernahmen die Ankündigung beruhigt, doch sie zitterten vor Nässe.

Alle Bäume tranken durstig. Mit ihren Blättern, mit den Zweigen saugten sie das Wasser ein, das sie nährte; ihre Stämme schöpften Belebung aus den Wurzeln.

Es tranken die Sträucher und Büsche. Die Kräuter auf dem Boden tranken, der Rittersporn, die entblätterten Blumen, Waldmeister, Spitzwegerich und die andern, die sich arm genannt hatten, die Farne, die Lattiche rollten sich auf.

Ein erfrischtes »Ah!« schwang durch den Wald, als befreites Atmen. Auch die Kinder fühlten Befreiung.

»Endlich!« raunten die Bäume.

»Labsal!« flüsterten die Büsche.

Von unten her stimmten die vorhin noch Verzagten dankbar den leisen Chor an: »Gerettet!«

Wunderbarer Duft erhob sich überall; Duft nach Laub und Holz, nach erquickten winzigen Blüten; süßbitterer Geruch nach Erde, mächtig und voll keimenden Lebens.

Einzig die Pappel ragte schwarz, entstellt und gestorben trübselig zum Himmel, der sich wieder erheiterte.

Man vermied es, sie anzusehen.

»Es wäre gut«, lispelte die Birke, »es wäre gut, wenn Er sie wegschaffen würde ...«

Niemand antwortete.

»Schade um sie ...«, begann die Birke wieder, »sehr schade ...«

Das war der ganze Nachruf.

Schweigen.

Jählings flammte die Sonne auf, brennend heiß wie rasches Feuer. Sie überstrahlte den Wald versöhnend, drang mit dem Funkelschimmer ihrer Lichtspeere in die Wipfel, traf die Spitzen der Büsche, erreichte als goldenes Gitter da und dort den Boden.

Sofort fing der Pirol zu jauchzen an; die Finken, die Rotkehlchen, die Zeisige schmetterten ihre Jubelstrophen.

Der Kuckuck ließ sein Rufen hören. Der Specht trommelte seinen Wirbel. Die Tauben wiederholten unausgesetzt ihr zärtliches Liebeswerben; die Meisen führten ihr Wispergespräch.

Und oben auf den höchsten Zweigen der Bäume sangen die Amseln.

Gurri tat ein paar leichtsinnige Hüpferschritte.

»Halt! Wohin?« rief Faline; sie war sehr erschrocken.

»Auf die Wiese!« sagte Gurri. »In die Sonne! Kommt doch mit, du und Geno. In der Sonne werden wir schnell trocken und werden uns wärmen.«

»Nicht weiter!« befahl die Mutter.

Gurri blieb stehen. »Warum denn? So schön ist es draußen! Gerade jetzt so schön wie nie! Und mich friert!«

»Friere du nur«, sprach Faline ernst. »Gerade jetzt droht Gefahr wie nie! Gerade jetzt lauert Er da draußen! Das hat dein Vater mich gelehrt. Und dein Vater weiß ein wenig mehr als du.«

»Immer will Gurri etwas Dummes«, tadelte Geno, »sie denkt an gar nichts.«

Zweimal kreischte der Häher.

Die Elster schäkerte warnend.

Schon peitschte ein scharfer Knall von der Wiese her.

»Das war Er!« verkündete Faline. Sie hatte ihr Haupt gesenkt. »Dort draußen liegt jetzt einer von uns im Blut. Den hat Er mit seiner Feuerhand niedergeworfen.«

»Nun siehst du, Gurri«, bebte Geno, »nun siehst du, was deine Gedankenlosigkeit angerichtet hätte!«

Gurri gab keine Antwort; sie stand ohne Regung, das schöne junge Haupt in den Nacken geworfen, mit spielenden Lauschern. Sie horchte.

Das Singen, Zwitschern, Rufen und Wispern der Vögel, das eine kurze Weile erschrocken geschwiegen, begann wieder, als wäre nichts geschehen.

Von ferne, schwächer vernehmbar, tönte ein zweiter Knall.

»Noch einmal Er!« stellte Faline fest.

»Ich habe Hunger«, klagte Gurri.

Aber heute mußte sie warten.

Erst als es ganz finster, als es völlig Nacht wurde, trat Faline mit den Kindern hinaus in die Wiese.

Etliche Wochen gingen vorbei.

Die Röckchen von Geno und Gurri zeigten nicht mehr die hellgrauen Sprenkel wie in der ersten Zeit nach ihrer Geburt. Sie hatten jetzt ein gleichmäßig tiefes Rot.

Während einer Nacht – Geno stand ziemlich nahe der Dickung auf der Wiese, er blieb stets gerne dort, wo er mit einem einzigen Sprung Schutz und Sicherheit gewinnen konnte – während einer solchen Nacht also gellte unerwartet über ihm der Schrei des Waldkauzes: »I–jj! U–jj!«

Geno zuckte verstört zusammen.

Der Waldkauz schwebte herab und setzte sich auf einen niedrigen Ast. »Zum Gruß! Habe ich Sie erschreckt?«

Geno empfand Aerger und erwiderte nichts.

»Ob ich Sie erschreckt habe?« wollte der Waldkauz wissen.

»Keine Spur!« leugnete Geno. Barsch fügte er hinzu: »Unsinn! Weshalb sollte ich vor Ihrem Piepsen erschrecken?«

»Ich piepse nicht!« entrüstete sich der Waldkauz.

»Mir ist es sehr gleichgültig, was Sie tun«, meinte Geno. Ihn freute es nun, seinerseits den Waldkauz zu ärgern.

Das war ihm gelungen.

»Sie sind ein kecker Bursche!« schalt der Waldkauz, »ein kecker kleiner Bursche!«

»Sie auch!« gab Geno zurück, »und Sie sind viel kleiner als ich!«

»Ihr Vater«, fuhr der Waldkauz mit zornig gesträubten Federn fort, »Ihr Vater war viel netter. Er ist immer so hübsch erschrocken.«

Geno murrte beleidigt: »Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Nun«, lenkte der Waldkauz ein, »vielleicht ist er gar nicht wirklich erschrocken; dennoch sagte er das jedesmal, und ich hatte mein Vergnügen, aber Sie haben mir den ganzen Spaß verdorben.«

»Wenn Sie keine andern Späße wissen, tun Sie mir leid, alter Herr. Mir gegenüber unterlassen Sie künftig solche Scherze!«

Faline kam herbei. »Was gibt's denn hier?«

»Ach«, der Waldkauz wimmerte beinahe, »diese Jugend ... diese Jugend ...!«

»Diese Jugend«, unterbrach ihn Geno, »diese Jugend, von der verstehen Sie gar nichts. Dazu sind Sie viel zu alt!« Er lief davon.

»Nein!« rief ihm der Waldkauz nach, »diese Jugend, diese neue Jugend verstehe ich nicht! Die will ich nicht verstehen! Diese Jugend versteht sich selber nicht, mein Lieber!«

Er saß da, ganz in seinen Federflaum versunken und schwer gekränkt. Sein ernstes Antlitz, das zuweilen durch einen schalkhaften Ausdruck liebenswürdig schien, war jetzt melancholisch, hatte die schmerzliche Miene des Verschmähten. Der gebogene Schnabel bohrte sich dolchartig in das kurze Kinn, als würde er sich gegen die eigene Brust kehren. Nur die großen, klugen Augen glänzten dunkel vor enttäuschter Empörung.

»Ich muß Ihnen sagen«, fauchte er Faline an, »Sie brauchen auf Ihren Sohn nicht stolz zu sein!«

»Stolz bin ich überhaupt nie«, wehrte Faline ab.

»Ah! Ah!« fiel er ihr in die Rede, »alle stolzen Leute behaupten immer, nicht stolz zu sein. Das kenne ich!«

»Hat Ihnen mein Geno etwas getan, weil Sie so böse sind?«

»Böse? Ich bin nicht böse!« protestierte der Waldkauz zornig. »Der Bursche ist meinen Zorn gar nicht wert!«

Heiter gab Faline zurück: »Alle Leute, die böse geworden sind, behaupten, nicht böse zu sein.«

»Was geht mich Ihr Söhnchen an?« eiferte der Waldkauz, »nicht so viel!« Er knappte mit dem Schnabel, und das klapperte, wie wenn zwei Stückchen Holz aufeinandergeschlagen würden. »Ihr Söhnchen! Hah! Er ist mir nur ein Beispiel für die heutige Jugend! Eine saubere Jugend, fürwahr! Eine Jugend ohne Respekt, ohne Rücksicht auf andere, ohne Manieren ... unhöflich ... anmaßend ... frech!« Der Atem ging ihm aus.

»Ich glaube, Sie irren sich«, entgegnete Faline geduldig, »Sie sind ein wenig ungerecht. Die Jugend von heute ist nicht schlecht. Gewiß nicht. Wir hatten auch unsere Fehler, unsere Schwächen in unserer Jugend. Heutzutage sind sie nicht schlechter und nicht besser, als wir einst waren. Nur anders sind sie; das gebe ich zu.«