Buch lesen: «Überall Wurst.»

Schriftart:

Inhalt

Felix Lindner Überall Wurst Ein Literaturspot um 1900

Der Autor

Impressum

Felix Lindner

Überall Wurst

Ein Literaturspot um 1900

1923, erzählt der Romanist Ernst Curtius, habe er für sein Buch über die Rezeption Honoré de Balzacs in Johann Wolfgang Goethes Tagebüchern recherchieren wollen. Doch die Bände seien partout nicht aufzutreiben gewesen. »Aber als ich mir eine Wurst kaufte«, schreibt er, »wurde sie in ein Stück Makulatur gewickelt, das aus einem Bogen der Weimarer Ausgabe bestand und den gesuchten Text enthielt.« 1 Wer fleißig ist, dem kommen die Dinge von alleine, soll das heißen. Wie Fleischreste zu Druckresten finden und wie die Metzgerei zum Produktionsgehilfen wird, das erklärt er leider nicht. Obwohl die Verbindung gar nicht selten ist. Wo Literatur entstehen soll, da ist oft erst einmal: Wurst.

Robert Walsers »Wurstpoetik«, Friedrich Nietzsches »Schinkenbriefe«, Franz Kafkas Selbstbild als »gestopfte Wurst«, als »Aufschnitt«: Immer wieder werden Schreibszenen von Koch- und Brühwaren aus bewertet, kommentiert und angeleitet. Schreiben und Körper, Faulheit und Arbeitsstimmung, Genialität und Banalität treffen in der Wurst aufeinander und zeigen Momentaufnahmen künstlerischer Produktion, die mit Diätetik scheinbar mehr zu schaffen haben als mit Wortkunst.

Warum also wird beim Schreiben übers Schreiben so oft über Wurst gesprochen? Was ist an der Wurst, das sie zu einem Stellvertreterobjekt für Schriftstellerdiäten macht; für das Dressurversprechen, besser, schneller, mehr schreiben zu können? Wie hilft sie dabei, die Problemlagen zu artikulieren, die Stockungen und Widerwilligkeiten? Man muss ein paar Ebenen unterhalb des »Werks« ansetzen, um diese Konstellation historisch und diskursiv sichtbar werden zu lassen: dort, wo Literatur noch gar nicht da ist, sondern nur das Schreiben.

»Selbst-Régime« und Schinkenauswahl

Ende August 1887 schreibt Nietzsche an seinen Freund Franz Overbeck in Dresden, es reiche erst mal mit den Büchern. Schreiben natürlich will er weiterhin, nur sich dabei »absolut auf [s]ich zurückziehn«: »Keine Erlebnisse, nichts von außen her; nichts Neues – das sind für lange jetzt meine einzigen Wünsche.« 2 Ein paar Tage später geht eine Karte aus Sils-Maria ab, ein Wunsch des Sohnes an die Mutter: »Ich brauche eine ganz feine Schinkenwurst; was ich aus der Schweiz mir besorgt habe, ist fett und bekommt mir nicht. Kannst du mir nicht umgehend etwas schicken? Es ist eine rechte Frage der Gesundheit.« Und kleiner, in einer Ecke steht: »(Nichts Andres als die Wurst!)«. Eine Woche später bedankt sich Nietzsche für die »deliziöse Wurst« und verspricht: »Andre Jahre werde ich das Herumexperimentieren mit Schinken lassen und gleich … eine feste Bestellung auf solchen Schinken machen.« 3 Es werden trotzdem Jahre des Herumexperimentierens mit Schinken.

Vom Logistikzentrum Naumburg aus versorgt Franziska Nietzsche den Vagabundensohn noch bis 1889 mit »Freßkistchen« 4 voll Wurstwaren und Süßigkeiten. Der ist enttäuscht, wenn die Bestellung schlecht war, mit der Gesundheit »abgebüßt«, nur noch die »runde dicke Lachsschinken-Wurst«, bitte, sechs Kilo für vier Monate, er wolle doch vernünftig und ohne Experimente sein, denn »riskiren« darf er »absolut nichts mehr«.5 Und wieder kommen die Würste. Sie sind zu klein, sie sind zu trocken, sie heißen »Milchschinkli« und seien fürchterlich versalzen, sechsmal müsse er nachts Wasser trinken, sie sind zu fett, zu faserig, die Leute hätten »keinen Begriff davon, was ein Schinken zum Gebrauch von Kranken ist«. Und dann wieder: »Der Schinken sieht äußerst delikat und stattlich aus: ich blicke mit neuem Vertrauen in die Zukunft.«

In der Korrespondenz findet sich konzentriert, was Nietzsche andernorts ähnlich, nur unter erheblich geringerem Aufwand etwa an Zwieback, Eiern, Käse und Kakao erprobt: ein diätetisches Experimentalsystem zum Zweck der Schreiboptimierung. Seine »Hauptsache«, so schreibt er, sei die »militärische Genauigkeit im Kleinsten der Lebensweise«, ein »Selbst-Régime« der »größte[n] Gleichmäßigkeit in der … Ernährungsweise«.6 Allein so könne er arbeiten, und allein so könne man auch sicher sein, dass aus einer Magenverstimmung keine Philosophie wird und man nicht, wie es ihm einst passierte, durch »Leipziger Küche« und Schopenhauer-Lektüre seinen Willen zum Leben verliert.7

An diesem Schinken wird aber nicht nur ideengeschichtlich transparent, was Philosophie für Nietzsche ist, nämlich »Diätetik … als Erkenntnis- und Moralkritik« 8, sondern vor allem, wie viel Schreibarbeit es braucht, um mit dem Schreiben zu beginnen. Nietzsche legt Klimatabellen des Wetters in Italien an, erstellt Unverträglichkeitslisten und diätetische Imperativregister.9 Alles steht inmitten seiner Werknotizen, und auch der Schinken taucht dort wieder auf. Es ist ein Zusammenschreiben der Dinge 10 – »fetter, weißer Käse« 11 ist nicht wichtiger als Ethik und Moralphilosophie. Wie der Schinken aber in die Briefe kommt und warum es dringend Schinken sein muss, das ist damit noch nicht erklärt.

1875, mehr als ein Jahrzehnt vor diesen Briefen, lässt sich Nietzsche in Steinabad im Schwarzwald vom Kurarzt Joseph Wiel behandeln, der seinen Magen »interessant« findet. Er stellt eine Magenerweiterung fest, verordnet Diät, zeigt Nietzsche eine »Fleischhackmaschine« (einen Fleischwolf) und kocht sogar mit ihm.12 Im selben Jahr erscheint Wiels Tisch für Magenkranke, ein Diätkochbuch, in dem die fünf kleinen Mahlzeiten am Tag gelistet sind, die nicht blähen und die »Zusammenziehung des Magens« fördern sollen. Die Hauptrolle spielt besonders mageres Fleisch: Braten, Schinken, Hackfleischklopse, auf Emaille serviert, 50 Gramm, ein wenig angewärmt. Gegessen werden soll, was »schon in kleinen Quantitäten zur Ernährung« 13 ausreicht und was der Ernährungsphysiologie und Diätetik des 19. Jahrhunderts vor allem Eiweiß war. Die Kalorienversprechen des Jahrhunderts – Liebigs Fleischextrakt, Knorrs Erbswurst – sind nichts anderes als Eiweißkondensate, eine Ableitung vom Nährgehalt des Fleischs 14 und der Entdeckung, dass der Mensch nicht Nahrung, sondern »Energie« braucht, die man berechnen und auf ein Gramm genau ermitteln kann.15

Der kostenlose Auszug ist beendet.

0,99 €