Radikalisierung

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Die Initiationsreise

Was den angehenden Dschihadisten endgültig von der Legitimität der Sache überzeugt, für die er kämpfen will, ist eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens, zu den Schauplätzen des Heiligen Krieges. Mohammed Merah war in Pakistan und Afghanistan; Mehdi Nemmouche ist in die Türkei gereist und steht im Verdacht, 2012 ein Jahr an der Seite von Dschihadisten in Syrien verbracht zu haben; die Brüder Kouachi waren im Jemen, wo sie eine militärische Ausbildung bei „al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ genossen haben. Der Fall von Amedy Coulibaly mag die Ausnahme sein, obgleich sich Spuren von ihm in der Türkei finden und man vermutet, dass er sich in Syrien aufgehalten hat.

In der Mehrheit der Fälle bestätigt die Initiationsreise den jungen Dschihadisten in seiner neuen Identität: Sie erlaubt es ihm, mythische Bande zu den muslimischen Gesellschaften zu knüpfen, obwohl er ihre Sprache nicht spricht und mit ihren Sitten und Gebräuchen nicht vertraut ist. Eine solche Reise bietet ihm zudem die Möglichkeit, sich im Umgang mit Waffen zu schulen. Vor allem aber dient sie dazu, gegenüber der eigenen Gesellschaft zum „Fremden“ zu werden. Der junge Dschihadist lernt, „mitleidslos“ zu werden, Geiseln oder inkriminierte Personen (Polizisten, Soldaten, Juden, „schlechte Muslime“) ohne Gefühlsregung professionell zu exekutieren, alle moralischen Bedenken über Bord zu werfen, kurzum: zum hartgesottenen Kämpfer in einem bis zum Äußersten gehenden Heiligen Krieg zu werden.

Ein negativer Held werden

In diesem Stadium verspürt der junge Dschihadist das unwiderstehliche Bedürfnis, gegen seine eigene ungeliebte Gesellschaft mit der Neo-Umma eins zu werden. Der dschihadistische Islam stellt ihm den Status des absoluten Helden in Aussicht. Als Mudschahed (Glaubenskrieger, vom selben Wortstamm wie Dschihad) wird er ein Märtyrer sein. Er wird töten und Angst verbreiten. Der Hass, der ihm entgegenschlägt, wird ihm Größe verleihen und ihn mit Stolz erfüllen. Umso mehr wird er alles daransetzen müssen, dass die anderen und vor allem die Medien sein Bekenntnis zum Dschihadismus als solches erkennen und anerkennen. Und es sind in der Tat die Medien, in denen die Kunde von seinen Untaten um die ganze Welt geht, die seinen Ruhm verbreiten, ihn zum Weltstar machen werden. Mit ihrer Hilfe wird er aus der Anonymität und Bedeutungslosigkeit heraustreten und zum „negativen Helden“ werden. An die Stelle der Verachtung, die ihm die weißen arrivierten Franzosen entgegengebracht haben, tritt Todesangst. Seine Überlegenheit bemisst sich daran, dass die anderen um ihr Leben fürchten. Im Übrigen fühlt er sich von den Medien anerkannt, wenn er tagelang die Nachrichten und die Schlagzeilen beherrscht. Mohammed Merah und Amedy Coulibaly wussten sehr gut, dass die Kameras der Welt auf sie gerichtet waren.

Eine neue Gruppe: Jugendliche aus den Mittelschichten

Die regressive Utopie der Neo-Umma übt kombiniert mit der Rolle des furchtlosen Ritters im Dschihad eine unwiderstehliche Faszination auf bestimmte Jugendliche in den Vorstadtgettos aus. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2013 gibt es indessen einen zweiten Rekrutierungspool für den Dschihadismus: Jugendliche aus den Mittelschichten, die in einer Sinnkrise stecken.

Vor 2014 mehr oder weniger unbekannt, machen sie inzwischen neben Jugendlichen aus der Banlieue einen nicht unbedeutenden Teil der angehenden Dschihadisten aus, die nach Syrien aufbrechen, um sich in den Dienst des „Islamischen Staates“ (Daesh) oder anderer, aus dem Umfeld von al-Qaida stammender dschihadistischer Gruppen wie der al-Nusra-Front (Jabhat al-Nusra) zu stellen.

Diese Jugendlichen, oft Heranwachsende mit Entwicklungsstörungen, verstärken die Reservearmee des Dschihad, nachdem sie zum Islam konvertiert sind. Unter ihnen finden sich ernüchterte Christen auf der Suche nach starken Erlebnissen, wie sie der institutionalisierte Katholizismus nicht bieten kann, ebenso wie säkularisierte Juden, die eines Judentums ohne religiöse Verankerung müde sind, und Buddhisten, die mit der friedfertigen Spielart dieser Religion in Europa brechen, um nach einer im Dienste des Heiligen Krieges erstarkten Identität zu suchen …

In der Horde der Dschihad-Aspiranten sind auch junge Mädchen aus gutem Hause auf der Suche nach einer postfeministischen Erfahrung, die mit dem Reiz des Fremden lockt und geeignet scheint, einem zu prosaisch gewordenen Leben neuen Sinn zu verleihen. Oft zieht es sie zu den jungen Männern, die ihre Männlichkeit und Verlässlichkeit unter Beweis stellen, indem sie dem Tod ins Auge blicken. Bei ihnen glauben sie Schutz zu finden, ohne ihre Würde als Frau preisgeben zu müssen. Und sie stellen sich auch selbst in den Dienst des Heiligen Krieges: Mit ihrem Bekenntnis zum radikalen Islam werden sie zu Gefährtinnen der Glaubenskrieger und erleben in dieser freiwilligen Knechtschaft ein Vertrauensverhältnis zu Männern, die nichts mit den von Unreife und Lebensangst geprägten Jungen aus ihrer Umgebung gemein haben, die unbeständig sind und nach Lust und Laune ihre Freundinnen wechseln.

Anti-68er

Anders als die Dschihadisten aus der Banlieue beseelt diese Jugendlichen aus den Mittelschichten nicht der Hass auf die Gesellschaft. Und anders als diejenigen, die ihre Ausgrenzung durch die Gesellschaft verinnerlicht haben, ist ihr Leben auch vom Drama der Viktimisierung verschont geblieben. Ihr Problem ist eines der Autorität und der Normen. Die Patchwork-Familie hat in dieser Generation zu einem Autoritätszerfall geführt, und das erstarkte Recht des Kindes hat einen Typus des „früherwachsenen“, aber häufig zugleich unreifen Jugendlichen auf den Plan gerufen. Die Kombination aus Rechtsansprüchen, der Aufsplitterung der Autorität zwischen verschiedenen Elterninstanzen sowie einer Aufweichung von Normen (republikanische eingeschlossen) lässt im Gegenzug den Ruf nach unverbrüchlichen Regeln und starken Autoritäten laut werden. Eine Minderheit dieser neuen Generation leidet darunter, es mit mehreren diffusen Erziehungsinstanzen, aber mit keiner klar definierten Autorität zu tun zu haben. Daher ihr Wunsch nach trennscharfen Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Die islamistischen Normen bieten eine solche unzweideutige Abgrenzung, die das Verbotene in aller Schärfe namhaft macht. Der radikale Islamismus erlaubt es dieser Jugend, das spielerische Wagnis mit dem tödlichen Ernst dschihadistischer Glaubenssätze zu verknüpfen. Er gibt ihnen das Gefühl, sich nicht allein unverrückbaren Normen zu beugen, sondern mit deren Durchsetzung in der Welt betraut zu sein, das Verhältnis von Heranwachsendem und Erwachsenem umzukehren und derjenige zu sein, der die heiligen Normen aufrichtet und sie den anderen auferlegt.

Die sich für den Dschihad begeisternde Jugend verkörpert Ideale, die denen des Mai ’68 diametral entgegengesetzt sind. Ging es damals um Steigerung der Lust in der Unendlichkeit eines gegen gesellschaftliche Zwänge zurückeroberten Begehrens, so ist es dieser neuen Generation im Gegenteil darum zu tun, dem Begehren strikte Regeln aufzuerlegen: Im Bekenntnis zu einem strenggläubigen Islamismus wird es Einschränkungen unterworfen, die ihm in den Augen der Jugendlichen eine neue Würde verleihen. Und wollte man sich damals von Einschränkungen und illegitimen Hierarchien befreien, so wünscht man sie heute herbei und sehnt sich nach sakralen Normen, die dem freien Willen des Menschen entzogen sind. Damals war man Anarchist und vom Hass auf patriarchale Mächte durchdrungen. Heute rehabilitiert sich der radikale Islamismus, indem er sich gegen die Gleichheit von Mann und Frau wendet, eine verquere Form des Patriarchats im Rekurs auf einen unversöhnlichen und ungnädigen Gott – Widerpart sowohl eines verweichlichten Republikanismus als auch eines allzu humanisierten Christentums. Der Mai ’68 war ein ununterbrochenes Fest, das sich im Rausch der Reisen nach Kathmandu und Afghanistan fortsetzte. Heute folgt die dschihadistische Initiationsreise dem Streben einer Reinheit, die sich in einem dem Tod ins Auge sehenden Märtyrertum erfüllt.

Der Niedergang des Politischen

Neben den Phantasmen einer sakralisierten Normativität spielt auch die internationale Situation eine nicht unerhebliche Rolle. Zahllose Jugendliche treibt die Forderung nach Gerechtigkeit für Syrien an, wo ein blutrünstiges Regime 200 000 Menschen getötet und Millionen anderer in die Flucht geschlagen hat. Sie wähnen sich auf einer humanitären Mission, die sich mit einem sich selbst als gutwillig verstehenden Dschihadismus verbindet. Wo der Westen sein Unvermögen gegenüber einer verbrecherischen Diktatur unter Beweis gestellt hat, kämpfen jene Jugendlichen, mit einem naiven Glauben gerüstet, gegen das Böse – im Namen eines Dschihad, dessen monströsen und entmenschenden Charakter sie häufig nicht ermessen. Der Übergang kann sich schleichend vollziehen, wie das bei bestimmten Mitgliedern der Roubaix-Gang der Fall war, etwa bei Christophe Caze, der sich in den 1990er Jahren humanitären Projekten gewidmet hatte, bevor er zum radikalen Islamisten wurde.

Dass Jugendliche aus den Mittelschichten sich der nach Syrien exportierten Spielart des Dschihadismus anschließen, wirft die Frage nach dem Unbehagen auf, das diese Jugend empfindet. Sie leidet am Niedergang des Politischen, sie ist empört über die Ungerechtigkeit in einem durch die Medien nähergerückten Syrien, dessen Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit in monströsen Ausmaßen verübt. Und sie sucht nach etwas, das ihrem Dasein einen Sinn verleiht. Die Jugend aus den Vorstadtgettos hat in der Regel eine infra- oder suprapolitische Einstellung. Die Abschottung, der Rückzug ins Getto oder die Gewalt in ihrer vulgären (Kriminalität) oder sakralisierten Gestalt (Dschihadismus) sind Haltungen sei es diesseits, sei es jenseits des Politischen. In den Mittelschichten hat das Politische als Bezugspunkt seit den 1980er Jahren eine tiefe Krise durchlaufen und für eine ganze Generation seine identitätsstiftende Kraft verloren. Für sie ist der Dschihadismus eine Konsequenz, die sie aus dem Niedergang des politischen Projekts als kollektiven Hoffnungsträgers zieht.

 

Von den Anschlägen auf die Pariser Regionalbahn (RER B) zu den Terroranschlägen vom 13. November 2015: Zwanzig Jahre Terrorismus in Frankreich

1994-95: Frankreich wird Opfer einer Anschlagswelle. Begonnen hat alles mit dem Militärputsch von 1992 in Algerien, der den Front islamique du salut (FIS), die Islamische Heilsfront, Sieger der Parlamentswahlen von 1991, stürzte. Der FIS verwandelt sich daraufhin allmählich in eine terroristische Vereinigung. Die von ihm abgespaltene GIA (Groupe islamique armé) und andere Splittergruppen wollen Frankreich für seine Unterstützung der Militärs bestrafen. Der Imam Sahraoui, der dem gemäßigten Flügel des FIS angehört, wird am 11. Juli 1995 in Paris getötet. Am 25. Juli desselben Jahres fordert eine in der Linie B des RER (Réseau express régional) deponierte Bombe an der Station Saint-Michel/Notre Dame 8 Tote und 117 Verletzte. Am 17. August findet an der Place de l’Étoile in Paris ein weiterer Anschlag statt, bei dem 17 Personen durch eine selbstgebaute Bombe verletzt werden. Ein weiterer Sprengkörper wird am 26. August 1995 im TGV Paris–Lyon entschärft.

Ein junger Mann algerischer Herkunft, Khaled Kelkal, ist in die Anschläge verwickelt. Am 29. September 1995 wird er in einem Feuergefecht mit den Ordnungskräften getötet. Mehrere Kleingruppen treten in seine Fußstapfen, wie die Roubaix-Gang, deren Mitglieder größtenteils während des Bosnienkriegs 1994/95 an der Seite muslimischer Milizionäre gekämpft hatten. Unter ihnen sind mehrere konvertierte Franzosen, wie Lionel Dumont und Christophe Caze, und weitere junge Männer wie Omar Zemmiri, Mouloud Bouguelane, Hocine Bendaoui … Am 29. März 1996 stürmt die Polizei ihr Appartement in Roubaix. Die Gang wird zerschlagen.

Die Dschihadistenzelle von Buttes-Chaumont ist eine andere Gruppe, die sich um den jungen Guru Farid Benyettou im Umkreis der Addawa-Moschee in der Rue de Tanger gebildet hat. Der junge Prediger bildet Anhänger aus, trainiert sie im Park von Buttes-Chaumont und schickt sie dann in den Irak, wo sie gegen die amerikanischen Streitkräfte kämpfen. Drei kommen dort ums Leben. 2005 wird das Netzwerk zerschlagen. 2008 werden mehrere dieser jungen Dschihadisten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Planung terroristischer Akte zu Haftstrafen verurteilt. (Eines der Mitglieder, Chérif Kouachi, wird gemeinsam mit seinem älteren Bruder Saïd Urheber des Anschlags auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015.)

Seither sind in Frankreich mehrere Anschläge von den Ordnungskräften vereitelt worden. Erst im März 2012 sieht sich das Land wieder mit erfolgreichen Attentaten konfrontiert, deren Urheber ein junger Franzose algerischer Herkunft ist, Mohammed Merah. Er ermordet in Toulouse und Montauban sieben Personen, sechs werden verwundet. Unter ihnen sind drei Soldaten, zwei von ihnen Muslime, und vier Juden. Zwei Jahre später, am 24. Mai 2014, werden im Jüdischen Museum in Brüssel vier Personen von Mehdi Nemmouche getötet.

Um Journalisten zu bestrafen, die durch ihre Karikaturen den Propheten beleidigt haben sollen, richten am 7. Januar 2015 die Brüder Saïd und Chérif Kouachi bei ihrem Anschlag auf Charlie Hebdo ein Massaker an, dem zwölf Personen zum Opfer fallen. Amédy Coulibaly, der mit den Brüdern in Verbindung steht, deren jüngeren er im Gefängnis kennengelernt hat, tötet am 8. und 9. Februar fünf Personen, eine Polizistin und vier Juden.

Weniger als ein Jahr später, am 13. November 2015, fallen in Paris 130 Personen acht koordinierten Anschlägen zum Opfer. Unter den Terroristen sind mindestens vier Franzosen: Bilal Hadfi, zwanzig Jahre alt und wohnhaft in Belgien, sprengt sich vor dem Stade de France in die Luft; Samy Amimour, 28, und Omar Ismaïl Mostefaï, 29, gehören zum Mordkommando im Club Bataclan, wo 89 Menschen den Tod finden. Ein weiterer Franzose, Brahim Abdelam, 31, zündet seinen Sprengstoffgürtel in einem Restaurant am Boulevard Voltaire.

Drei Generationen von Dschihadisten

Seit den 1980er Jahren hat der Dschihadismus mehrere Phasen durchlaufen:

• Die „Afghanen“: Der Ursprung von al-Qaida geht auf die Zeit zurück, in der sich Islamisten mit Unterstützung des Westens nach Afghanistan aufmachen, um gegen die sowjetische Besatzung zu kämpfen.

1989 kehren diese Veteranen – unter ihnen Osama bin Laden – in ihre Heimatländer zurück, um den Dschihad dort „von innen“ zu führen. Sie bilden den ersten harten Kern derjenigen, die andere im Umgang mit der Waffe und in Kampftechniken schulen.

• Terrornetzwerke im Internet: in der Folge tritt eine neue Generation auf den Plan, die weniger vor Ort als vielmehr im Internet ausgebildet wird. Diese Generation verfügt über genaue Kenntnisse des Internet, das sie als Propagandamittel nutzt.

• Die syrische Front: Eine dritte Generation erhält ihre Ausbildung in den vom Staatszerfall gezeichneten arabischen Ländern: im Jemen, in Libyen, an der algerisch-tunesischen Grenze und vor allem, seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2013, in Syrien. Mehr als 10 000 ausländischer Dschihadisten kämpfen derzeit in Syrien, darunter ungefähr 2000 Europäer.

Die Neo-Umma, eine gefährliche Utopie

Historisch gesehen war die muslimische Gemeinschaft (die Umma) eine Bezugsgröße, um lokal, regional oder national (gegen den westlichen Kolonialismus) zur islamischen Solidarität aufzurufen. Aufgrund der Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten schloss die Umma indessen nie die Gesamtheit der Muslime ein. Die radikalislamistische Bewegung hat das Phantasma einer weltweiten Neo-Umma ins Leben gerufen. Die historische Entwicklung der muslimischen Gesellschaften wird im Begriff der Neo-Umma geleugnet, ihr Ursprung schlicht und einfach auf die Salaf (Gefährten des Propheten) zurückgeführt und in einer Form gepredigt, die Praktiken wie die Sklaverei wieder zum Leben erweckt: Die Jesiden im Irak werden versklavt und ihre Frauen und Töchter verkauft, das Gesetz der Vergeltung (qisas) und das Standrecht werden unter Berufung auf die vermeintliche Transparenz der islamischen Rechtsprechung wieder eingesetzt.

Bedeutung und Tragweite des Begriffs der Radikalisierung

Vor den Attentaten vom 11. September 2001 spielte der Begriff der Radikalisierung in den Sozialwissenschaften und in Untersuchungen, die dem gesellschaftlichen, religiösen oder politischen Extremismus auf den Grund gehen wollten, keine tragende Rolle. Die Literatur zu den terroristischen1 Bewegungen seit dem 14. Jahrhundert kommentierte weniger den Prozess, der zum Einsatz von Gewalt führt, als vielmehr die unterschiedlichen Formen eines Gewalthandelns, das den einen als Akt des Terrors, den anderen als Widerstand gegen Unterdrücker, Besatzer oder Feinde gilt. Erst nach den Angriffen vom 11. September hat man in den Vereinigten Staaten Forschungen gefördert, die sich dem Terrorismus im Hinblick auf diejenigen Phänomene widmen, die ihn hervorrufen können. Und erst damit wurde Radikalisierung zu einem Schlüsselbegriff für die Frage, wie gewaltbereite Gruppierungen entstehen.

Als Radikalisierung bezeichnet man den Prozess, der dazu führt, dass ein Individuum oder eine Gruppe zu einer Form der Gewaltausübung greift, die unmittelbar an eine sozial, politisch oder religiös motivierte Ideologie geknüpft ist, von der die herrschende politische, soziale oder kulturelle Ordnung abgelehnt wird (Borum 2011; Wilner & Dubouloz 2010). Im Kontext seiner derzeitigen Konjunktur ist die Beschäftigung mit den praktischen Implikationen dieses Begriffs unleugbar von Sicherheitsbedürfnissen geleitet und antwortet auf Fragen des Typs: Wie können Städte, Individuen, Länder (zunächst einmal die westlichen, dann die anderen2) vor Anschlägen geschützt werden? Oder: Wie kann man terroristische Netzwerke innerhalb und außerhalb nationaler Grenzen bekämpfen? Wie lassen sich Allianzen mit anderen Ländern schmieden, um diesen Netzwerken, die häufig transnational operieren, Einhalt zu gebieten? Wie können sie und ihre Führer dingfest und unschädlich gemacht werden?

Welche Prozesse bringen Einzelne dazu, sich extremistischen Gruppen anzuschließen? Wie kann man der Anziehungskraft radikaler Ideologien (in erster Linie des dschihadistischen Islam, aber auch gewaltträchtiger Weltbilder rechts- und linksextremer Provenienz) und vor allem dem begegnen, was man „hausgemachten“ Terrorismus (homegrown terrorism) oder Terrorismus von innen nennt? Ein Terrorismus also, dessen Keimzelle nicht in fernen Ländern (im Nahen und Mittleren Osten), sondern in Europa oder, seltener, in den Vereinigten Staaten, Australien oder Kanada liegt?

Eine weitere Reihe von Fragen betrifft das Persönlichkeitsprofil derer, die den Weg der Radikalisierung einschlagen. Was sind die typischen Profile derjenigen, die dem Terrorismus neuerer Prägung in die Arme laufen? Wie bilden sich die einzelnen Gruppen, was stiftet ihren Zusammenhalt, was lässt sie zur Gewalttat schreiten? Wie und wo rekrutieren sie ihre Mitglieder? Welche Merkmale müssen sie aufweisen, um die Anhänger ihrer radikalen Auffassungen dazu zu bringen, sich aktiv an Anschlägen zu beteiligen? Kurzum: Wie werden Sympathisanten zu Terroristen? Und welche Maßnahmen zur Deradikalisierung gibt es, wenn jene der Anziehungskraft der Terroristen einmal erlegen sind?

In Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Norwegen hat man ebenso wie in einer Reihe von muslimischen Ländern „Deradikalisierungsverfahren“ ersonnen, die Gruppentherapie und Belehrung durch „kompetente Autoritäten“ (im Fall der radikalen Islamisten sind das Imame) mit polizeilicher und psychologischer Nachsorge verbinden, um vormals Radikalisierte zu gewaltfreiem Verhalten hinzuführen.

Vor allem in den Vereinigten Staaten, in geringerem Ausmaß aber auch in Europa, in den häufig autoritären Regimen des Nahen und Mittleren Ostens und anderswo haben die Regierungen die Dienste der akademischen Welt in Anspruch genommen, um Persönlichkeitsprofile erstellen zu lassen, die anfällig dafür machen, unter dem Einfluss radikaler Ideologien (hauptsächlich des dschihadistischen Islam) zum Gewalttäter zu werden. Um darüber Aufschluss zu erhalten, sind Milliarden Dollar investiert worden, entweder direkt (von den amerikanischen Geheimdiensten, namentlich der Homeland Security, aber auch durch Eigenmittel von Städten wie New York) oder indirekt (durch Forschungsförderung). Radikalisierung, zuvor ein eher randständiges Thema, wurde zu einem Gegenstand ersten Ranges, dessen Erforschung die westlichen und auf deren Betreiben auch die muslimischen oder muslimisch geprägten Staaten vorantrieben, um Informationen zu sammeln, die es zur Eindämmung dieser von kleinen Gruppen ausgeübten Gewalt braucht.

Man spricht inzwischen von einer neuen Art von Kriegen mit niedriger Intensität, deren Vervielfältigung nach dem Ende der bipolaren Welt, wie es vom Berliner Mauerfall symbolisiert wird, einen tiefgreifenden Wandel in der Natur der Konflikte anzeigt. Für solche Kriege, in denen eine Guerilla oder Terroristen mitgeführte Sprengladungen in den Städten zur Explosion bringen, sind traditionelle Streitkräfte ohne grundlegende Modifikation ihrer Kriegsführung und Informationsbeschaffung nicht gerüstet.

Seit den 1990er Jahren ist der Westen mit Gewalttaten von „hausgemachten Terroristen“ konfrontiert, also von radikalen Islamisten, die in Europa oder den Vereinigten Staaten aufgewachsen sind (so der in Frankreich zur Schule gegangene Khaled Kelkal, auf dessen Konto der Anschlag auf die Linie B der Pariser Regionalbahn RER geht, bei dem 8 Menschen zu Tode kamen und 148 verletzt wurden). Aber mitunter halten sich auch Mitglieder ausländischer Netzwerke im Westen auf, wie etwa in Deutschland die al-Qaida-Mitglieder, von denen der Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme ausgeführt wurde. Diese beiden Typen von Terroristen ausfindig zu machen stellt die Geheimdienste jeweils vor ganz unterschiedliche Anforderungen.

Der Bedarf an Information über diese Terroristen, hausgemacht oder nicht, und über die Wege, auf denen sie sich Ideologien anschließen, die Gewalt predigen, um schließlich zur Tat zu schreiten, ist größtenteils dafür verantwortlich, dass Radikalisierung zu einem Schlüsselbegriff wurde, wenn es darum geht, die Etappen der Heranbildung terroristischer Akteure zu verstehen.

 

Ein Minderheitenphänomen

Radikalisierung ist ein Phänomen, das in den westlichen und selbst in den islamischen Gesellschaften eine Minderheit, ja eine verschwindend kleine Minderheit betrifft. Es mag viele geben, die einer radikalen Ideologie anhängen, und viele, die aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen Gewalt ausüben (Kriminalität, Verbrechen aus Leidenschaft). Aber es gibt nur sehr wenige, die beide Dimensionen verknüpfen, um daraus ein Mittel der Selbstverwirklichung zu machen – solange sie nicht in Staaten leben, in denen eine suprematistische Ideologie herrscht (das heißt eine, die die Überlegenheit einer Rasse oder gesellschaftlichen Gruppe propagiert), oder sich zu Repräsentanten einer Klasse (wie der Arbeiterklasse im Falle der Sowjetunion unter Stalin) oder einer Nation aufwerfen (radikaler Nationalismus wie im nationalsozialistischen Deutschland). Der Begriff der Radikalisierung, wie wir ihn definieren, schließt indessen den Staat nicht ein, sondern beschränkt sich auf Bewegungen von unten, die von Individuen oder Gruppen ausgehen, die im Namen einer ex­­tremistischen Ideologie Gewalt anwenden. Der Begriff der Radikalisierung ist dem des Terrorismus in mancher Hinsicht verwandt, aber er unterscheidet sich von ihm darin, dass er sich auf die Akteure und die Formen, in denen sie sich der Gewalt verschreiben, auf ihre Motive, kurzum: auf die subjektive Dimension ihres Handelns konzentriert – in Verbindung mit den typischen Organisationen, die sich ihrer annehmen und zu deren Entstehung sie auf ihre Weise beitragen.

Radikalisierung ist also, aus dieser Perspektive betrachtet, ein Phänomen, das nur bei einer sehr kleinen Minderheit zu beobachten ist, ob im Westen (wir denken an dschihadistische Täter, aber auch an gewalttätige Rechtsextreme wie den Norweger Breivik) oder in anderen Teilen der Welt (in der muslimischen Welt mag sich die dschihadistische Bewegung der Sympathie einer mehr oder weniger großen Zahl von Personen erfreuen, aber die dschihadistischen Täter im strengen Sinne sind, selbst in Pakistan, ein kleine Minderheit).

Die Zahl der Mordopfer, die auf das Konto eines Dschihadismus, der einer extremistischen Version des Islam verpflichtet ist, oder auf das des Terrorismus überhaupt geht, den rechtsextremen oder linksextremen eingeschlossen, ist seit dem Juli 2005 vergleichsweise gering. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben 2793 Opfer und 6291 Verwundete gefordert, die 19 Luftpiraten, von denen die Flugzeuge in die Zwillingstürme gelenkt wurden, nicht eingerechnet. Den Anschlägen der Dschihadisten in den Vorortzügen von Madrid vom 11. März 2004 fielen 191 Menschen zum Opfer, 1858 wurden verwundet. Und bei den Anschlägen vom 7. Juli 2005 in der Metro und im Bus in London gab es neben den vier Selbstmordattentätern 52 Tote und 700 Verwundete. Nach diesem Datum forderte nur noch das Attentat von Anders Breivik am 22. Juli 2011 eine große Zahl von Opfern (77 Tote und 151 Verwundete).

Die Zahlen, die Europol über die Jahre 2011 und 2012 für Frankreich und Europa veröffentlicht hat, zeigen, dass der dschihadistische Terror dort in den letzten Jahren deutlich in der Minderheit ist, sowohl der Zahl der Anschläge als auch der Zahl der verhafteten Personen nach, selbst wenn die Zahlen von einem Jahr zum anderen stark schwanken.

Tabelle 1


FrankreichEuropa
2011Anzahl der terroristischen Anschläge85 separatistische Anschläge;keine dschihadistischen Anschläge174 Anschläge in7 Ländern (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien, Dänemark, Griechenland), darunter kein erfolgreicher dschihadistischer Anschlag
Anzahl der wegen Terrorismus verhafteten Personen174davon 46 wegen Dschihadismus,126 wegenSeparatismus484davon 122 wegen religiös motivierten Terrorismus
Anzahl der wegen Terrorismus verurteilten Personen45316
2012Anzahl der terroristischen Anschläge125 Fälledavon 4 dschihadistische, 126 separatistische219 Fälledavon 6 dschihadistische, 167 dschihadistische, 18 linksex­treme, 2 rechtsextreme
Anzahl der wegen Terrorismus verhafteten Personen186davon 91 wegen Dschihadismus, 95 wegen Separatismus537davon 159 wegenDschihadismus257 wegen Separatismus, 24 Linksextreme,10 Rechtsextreme, 87 nicht spezifizierte

Quelle: Europol Te-Sat 2012 und 2013

Bei der Zahl der Todesopfer sind die Verhältnisse ähnlich. Gleichwohl fürchtet sich die Öffentlichkeit vor allem vor radikalen Islamisten. Der (zurückgehende) korsische oder baskische, aber auch der rechtsextreme Terrorismus (der Fall Breivik oder die extreme Rechte in Griechenland, in Deutschland, ja in Frankreich) erzeugen nicht solche Ängste wie der radikale Islamismus. Es gibt ganz offenbar eine Angst, die sich spezifisch auf den Dschihadismus richtet und die sich auch in der überproportionalen Berichterstattung ausdrückt, die ihrerseits die in der Öffentlichkeit herrschenden Ängste verstärkt.

Die dschihadistische Radikalisierung wird nicht auf eine Stufe mit derjenigen im Namen eines regionalen Separatismus gestellt, da die von ihr ausgehende Bedrohung nicht auf die gleiche Weise wahrgenommen wird. Der Separatismus wird als innergesellschaftliches Phänomen betrachtet, der radikale Islamismus dagegen als etwas erfahren, was von außen kommt, da der Islam der großen Mehrheit als nichteuropäische Religion gilt. In dieser Hinsicht sind im Übrigen die islamistischen Terroristen, die „von innen“ kommen, noch sehr viel beunruhigender. Sie stellen nicht nur eine Bedrohung dar, sondern auch einen Verrat an der europäischen Identität. Das Missverhältnis zwischen realer Bedrohung und subjektiv empfundener Angst hängt zusammen mit der Ausbreitung des Dschihadismus in der muslimischen Welt und den dort verübten Gräueltaten, den Blutbädern und hohen Opferzahlen, die auf die Verhältnisse im Innern projiziert werden. Man kann natürlich behaupten, es sei der erhöhten Wachsamkeit der Geheimdienste und der Polizei, also auch ihrer Konzentration auf diese Art des Terrorismus, zu danken, wenn der Dschihadismus größtenteils neutralisiert wird und die Zahl dschihadistischer Anschläge in Europa relativ gering bleibt. Wie immer es sich damit verhält – die symbolische Dimension des Islamismus ist von fundamentaler Bedeutung. Mohammed Merah hat sieben Personen getötet, darunter drei Kinder, aber die Wirkung dieser Morde bemisst sich nicht an der Zahl der Opfer. Die Tat hat ein sehr viel tieferes Gefühl der Unsicherheit hervorgerufen als der linksextreme oder rechtsextreme Terrorismus in Europa. Auch der „unmenschliche“ Charakter des radikalen Islamismus und seine schwer zu akzeptierenden Motive spielen eine Rolle. Die erklärte Absicht, die „Ungläubigen“ zu töten, steht in scharfem Kontrast zu den „innerweltlichen“ Motiven anderer Terroristen (Klassenkampf bei den linksextremen, Krieg gegen einen invasorischen Islam bei den rechtsextremen Bewegungen, der Wille zur Abspaltung von den Vereinigten Staaten bei den ultrakonservativen Aktivisten in Amerika ...).

Der Begriff der Radikalisierung in den Sozialwissenschaften

Um sich der Radikalisierung zu nähern, reicht ein von Sicherheitsbedürfnissen diktierter Zugang nicht aus, so sehr diese Dimension durch die Besorgnis der Staaten auch in den Vordergrund treten mag. Für den Soziologen geht es darum, die Frage nach den Formen des Aktivismus in einen weiteren Horizont zu rücken und namentlich die tieferen Beweggründe des extremistischen Täters zu analysieren. Der Wissenschaftler wird insbesondere nach den langfristigen Effekten der Stigmatisierung, der Demütigung, den unscheinbaren Formen der Ablehnung und Exklusion fragen müssen, denen der Täter in der Gesellschaft ausgesetzt ist. In den Aufklärungs- und Eindämmungsstrategien wird diese Dimension häufig vernachlässigt. Die Aufgabe des Soziologen besteht aber gerade darin, den Fokus von einer nur in polizeilicher Absicht geführten Auseinandersetzung mit dem Phänomen zu erweitern, um in einer umfassenderen Perspektive dessen wirtschaftliche und politische, ja sozioanthropologische Gesichtspunkte freizulegen. Radikalisierung darf nicht unter bloßen Sicherheitsaspekten betrachtet werden, sie muss zu einer Problemstellung der soziologischen Erkenntnis werden. Die klassischen Arbeiten über den Terrorismus streifen die Frage nur, ohne sie ausdrücklich ins Auge zu fassen, während das neu erwachte Interesse an der Radikalisierung sehr viel größeren Nachdruck auf die institutionellen, organisationellen Ursachen, aber auch auf die subjektiven Formen legt, die mit ihnen verknüpft sind. Dabei treten insbesondere neue Formen der symbolischen Akkulturation durch das Internet oder die Vernetzung innerhalb geschlossener Gruppen in den Blick, aber auch Formen der Abschottung des Individuums, das sich „autoradikalisiert“, indem es alle Beziehungen zu „normalen Menschen“ kappt, die neuen Bindungen vor Familie und Freunden geheimhält und über die sozialen Medien (Facebook, Twitter) Kontakte zu anderen Personen knüpft, die es nur über das Netz kennt. Schließlich lenkt das Interesse an der Radikalisierung die Aufmerksamkeit auf die Modalitäten des Übergangs zur Gewalt im Zuge ideologischer Beeinflussung und auf Entscheidungen, die von einer gewissen Unschlüssigkeit und Ungewissheit getragen sein können (wenn die Logik der Gruppe überwiegt, der das Individuum sich anschließt aus Furcht, allein und ohne Stütze dazustehen) oder im Gegenteil durch die feste Entschlossenheit, mit der Gesellschaft die Klingen zu kreuzen. Es lenkt, anders gesagt, die Aufmerksamkeit auf Formen der Subjektivierung, die für Täterkarrieren entscheidend sind, deren Modalitäten die klassische Soziologie des Extremismus aber nicht hinreichend Rechnung getragen hat.