Buch lesen: «Am Meer dieses Licht»

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Über dieses Buch

Die Erzählerin Laura sitzt im Krankenhaus am Bett ihrer Großmutter. Die ­Großmutter sieht ihrem Ende entgegen, da machen sich die beiden nichts vor. Auf sanfte und überraschende Weise verschworen, gehen die beiden diesen Weg gemeinsam.

Tag für Tag fährt Laura nach der Arbeit ins Krankenhaus, setzt sich an Großmutters Bett, geht ein paar Schritte mit ihr, liest ihr vor, hört ihr zu, wenn sie die wichtigen kleinen Geschichten aus ihrem ­Leben erzählt. Ihr Leben lang hat sie gear­beitet, sich gefügt, bloss nicht lästigfallen, nichts aufrühren. Am Ende wird sie zu einer sanften Rebellin.

Wenn Großmutter schweigt, erzählt Laura von England. Sie wurde von ihrem Chef dahin geschickt, er hat was vor mit ihr. Sie hat Englisch gelernt und die Liebe ausprobiert.

In leichter und poetischer Sprache ­erzählt Fanny Wobmann von zwei Frauen, die sich in einer zwischen Leben und Tod schwebenden Zeit einander öffnen und an die wesentlichen Dinge rühren.

Die französische Originalausgabe wurde mit dem Terra Nova Literaturpreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.


Foto Ayşe Yavaş

Fanny Wobmann, geboren 1984 in La Chaux-­de-Fonds, studierte Soziologie an der Universität ­Neuchâtel. Sie ist ­Gründungsmitglied des Autorenkollektivs Ajar und der Theaterkompanie ­Princesse Léopold, für die sie schreibt, spielt und Regie führt. «Am Meer dieses Licht» ist ihr zweiter ­Roman, er wurde mit dem Terra Nova Literaturpreis 2017 der Schweizerischen Schillerstiftung ­ausgezeichnet.

Lis Künzli, geboren in Willisau, studierte ­Germanistik und Philosophie in Berlin und lebt heute in Toulouse. Die Überset­ze­rin von Amin Maalouf, Atiq Rahimi, ­Camille Laurens, Pierre ­Bayard, Pascale Hugues, Marivaux, S. Corinna Bille u. a. wurde 2009 mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Fanny Wobmann

Am Meer dieses Licht

Roman

Aus dem Französischen von Lis Künzli

Limmat Verlag

Zürich

WIR, DIE WIR VON DER WELT AUFGEGEBEN WURDEN

1

Großmama, was sagst du? Du verziehst so deinen Mund, als müsstest du dich übergeben, aber dann sprichst du. Es entstehen Knacklaute, wie Tropfen, die auf ein Wachstuch fallen. Es ist ein kleines bisschen eklig. Wie der trockene, säuerliche Geruch dieses Krankenhauszimmers. Diese verbissene Sauberkeit, du weißt schon, man des­infiziert und spricht ganz leise. Man verhüllt und man seufzt.

Ich habe dir Blumen mitgebracht, erst hast du nicht recht begriffen, dachtest, du hättest sie selbst gekauft, und es wäre mein Geburtstag.

«Es schneit, Laura?», fragst du mich. Oder du behauptest es, ich weiß es nicht. Aber es schneit nicht. Die Sonne steht tief, sticht die obersten Stockwerke der Häuser scharf heraus, und die Stadt steht schief. Sie ist wild und stolz, mit den Weiden ringsum zu verschmelzen. Der Winter hat sämtliche Wege verwischt, alles ist weiß, grau und blau, wie deine Hände, deren krumme Finger unmerklich auf das straff gespannte Laken klopfen.

«Die Krankenschwester ist eine Schwarze, ich habe bald keine Haut mehr, so heftig wie sie mir den Rücken reibt. Sie ist nicht besonders freundlich, weißt du, ein bisschen brüsk, wie sie manchmal sind. Die anderen Krankenschwestern sind freundlich, aber sie lassen mich nachts nicht schlafen. Mir ist es lieber, wenn es ein Mann ist, hast du Thibaut schon getroffen? Laura, hast du gesehen, meine Zimmernachbarin ist weg. Sie ist nicht gestorben, hm, nein, sie ist nach Hause gegangen, glaubst du das? Ich hätte ihr keine zwei Wochen mehr gegeben, als sie ankam, der Geifer ist ihr aus dem Mund gelaufen, weißt du, schrecklich ist das, schrecklich. Und sie hat gerochen, weißt du. Ich musste an Papa denken, wenn er vom Schweinefüttern kam. Ich habe mich nie an diesen Geruch gewöhnen können. Und dabei bin ich damit großgeworden. Versprich mir, du lässt nicht zu, dass es mit mir so weit kommt?»

Ich weiß nicht, was ich antworten soll, ich lache. Denn ich kenne von dir nur dein Schweigen, deine Geheimnisse, diese Zurückhaltung, die dein Leben durchzogen hat. Bloß nicht lästigfallen. Nichts aufrühren. Nicht zu tief bohren. Schauen, dass man klarkommt, ohne viel Aufhebens zu machen.

Jetzt sprichst du mit mir und dein Mund läuft über.

Du darfst ein wenig aufstehen, solltest gehen, damit deine Muskeln sich nicht ganz zurückbilden. Also bringe ich dich in die Cafeteria. Deine Pantoffeln sind zwei ängstliche kleine Nagetiere, deren Fell über einen gefrorenen See schleift. Wie langsam du vorankommst. Der Kiosk ist geöffnet, und du verlangst ein Tribolo, erzählst mir, dass diese Rubellose 1985 aufgekommen sind, dass du seither jede Woche eins kaufst und noch nie mehr als fünfzig Franken gewonnen hast. Du benutzt deine Nägel, um die Zahlen zum Vorschein zu bringen, trittst dabei von einem Fuß auf den anderen und regst dich auf, weil du zitterst und es nicht schnell genug geht. Du lässt die Niete auf deine Füße fallen und sagst, «ich wüsste sowieso nicht, was ich mit dem Geld jetzt noch anfangen sollte, das wäre ja noch der Gipfel», und fängst wieder an zu rutschen. Das Scheuern deiner Füße auf dem abgenutzten Boden hat etwas Beruhigendes. Ich bin froh zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die dich trägt, dass ich den Druck auf deinem mageren Arm etwas mindern kann, ohne dass du plötzlich in eine unbekannte und brutale Welt entschwindest.

«Laura, es schneit.» Du bleibst nicht stehen, um hinauszusehen, bist ganz auf deine Schritte konzentriert. Aber es stimmt, diesmal schneit es. Der Winter hat seine Kräfte entfesselt, die Stadt ist wieder weiß, da, wo ihre Fluchtlinien sich verwirren, grau, sie unterwirft sich. Die Symmetrie der Straßen ergibt keinen Sinn mehr, die Flocken wirbeln durcheinander, das Chaos von draußen und deine scheuernden Füße, fch, fch, fch, fch, ein präziser Rhythmus, ich marschiere mit und weiß nicht so recht, wohin wir gehen.

Das Scheuern und der Geruch deines Nachthemds. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich das aushalten werde.

Aber ich bin da, ich stütze dir den Arm und bringe dir den Kakao, auf den du ungeduldig gewartet hast. Du pustest über das Getränk, braune, fette kleine Wellen schlagen am Tassenrand auf, du machst dir die Finger voll. Ich hole eine Serviette und betrachte dich von Weitem, eine weiße Gestalt, von der man nicht mehr weiß, wohin mit ihr. Du nimmst so viel Platz ein und bist doch winzig klein, zusammengesunken über dem Plastiktisch, die durchsichtigen Haare am Schädel plattgedrückt.

Wir wissen nicht, was sagen. Das Schweigen bringt die Flocken in Rage, und du schaust mir in die Augen. Da fange ich an, dir zu erzählen.

Er war nackt und rosig.

Ich beobachtete ihn aus meinem linken Augenwinkel. Auf dem Kiesstrand.

Die Hitze, die vom Boden aufsteigt, macht die Sicht immer irgendwie verschwommen und irreal. Alles, was auf den Kieselsteinen liegt, ist nur noch ein flimmernder Farbfleck, ein schleimiger Quallenkörper, der im Meer planscht.

Schleimige Körper sind erlaubt an den Stränden. Auf meinem drückt sich langsam die Form der Steine ab.

Kleine rote Ringe auf der trockenen Haut. Gänsehaut. Wie eine stille See. Raue und fremdartig anmutende Unebenheiten, die ich mit den Fingerspitzen abtaste. Und dann ist er aufgestanden.

Nackt und rosig.

Ich wollte wissen, ob er behaart ist, aber hatte nicht die Kraft, mich zu rühren, um besser sehen zu können. Er ging ans Wasser. Es war zu kalt, er schüttelte die Zehen, um sie aufzuwärmen. Dann fotografierte er seinen Hund. Mehrmals. Vor dem Meer, auf der Düne, liegend, sitzend, rennend. Ich sah von meinem trägen Posten aus die Schnauze des Tieres bellen, hörte aber nichts. Auch die Geräusche sind verschwommen am Strand. Es bleiben nur die des Meeres und des Winds. Die Schritte auf den Kieseln.

Er mochte seinen Hund. Das sah man. Das Tier war schwarz-weiß, und seine kurzen Pfoten versanken zwischen den Kieselsteinen. Der Hund sah aus, als würde er lachen. Er lief mit raschen, unverfrorenen Schritten davon, über die breite Düne, die die Nudisten vor dem Blick der anderen schützen sollte, hinaus. Sein Herrchen stand auf, um ihn zurückzuholen, überquerte den Strand, barfuß über die Kieselsteine, hinkend vor Schmerz. Ich konnte seine Zehen sehen, lang und dicklich zugleich. Er blieb vor mir stehen. Er war nicht sehr stark behaart. Ein bisschen auf dem Bauch. Und seine Schamhaare waren erstaunlich glatt, ich musste mit der Hand meine Augen beschatten, um ihn richtig sehen zu können. Dabei hatte ich gedacht, alle Schamhaare seien gekräuselt.

Das Tier hatte einen Haufen auf den Nudistenstrand gesetzt. Der rosige Mann lief weg, um ihn aufzusammeln. Seine Hinterbacken zuckten auf und ab, zwei rote zappelnde Bälle. Ein alter Mann betrachtete sie, sein fetter Bauch wabbelte in den Sonnenstrahlen. Ich war immer noch nicht aufgestanden.

Ich stellte mir vor, wie ich von oben aussah. Eine totale Auslieferung meines Anblicks und meines Körpers, ein Hingefläztsein. Sich wirklich hinzufläzen braucht Übung. Mein Körper nimmt Raum ein, spiegelt sich im Blick der Leute und hallt dort als Provokation wider. Auch die Provokation braucht Übung.

Ich drehte mich auf den Bauch, es wurde zunehmend kälter. In der Nacht hatte sich ein kräftiger Wind erhoben, er hatte das Rauschen der Wellen bis an mein Bett gebracht. Es war Flut. Auf meinen Lippen der Geschmack von Salz und der Geruch von Algen. Die so weißen Möwen. Ich war nicht rasiert. Ich las nicht, hörte nicht Musik, ich tat nichts.

Es war salzig und nass, hin und wieder warm, ich schaute auf die Kiesel und lauschte ihrem Kreischen in der Bewegung der Brandung, dem Ächzen aneinanderschlagender Steine.

Es war wirklich kalt. Meine Füße waren eisig. Etwas weiter weg teilten sich ein paar Nudisten die beige, graue Weite, ein Badender schnaubte.

Der rosige Mann war in der diffusen Atmosphäre verschwunden, aber hatte eine Spur hinterlassen. Ich konnte noch seine Sonnencreme riechen und seine verblüffen­de Schamlosigkeit. Die Steine unter den Brüsten taten weh, aber der Druck hatte etwas Beruhigendes. Auch etwas Sexuelles. Ich rutschte in meinem Bikini hin und her, zählte bis zehn und stand auf, in mein riesiges Tuch gehüllt. Ich lief gewandt über die knirschenden Kiesel, meine nackten Füße waren daran gewöhnt. Wozu sollte ich mich anziehen, mein Bed and Breakfast lag nur zwei Schritte entfernt. Der Teer war kühl und rau, bei Grün überquerte ich die große Straße, meine Schlüssel klimperten in der Tiefe meiner Tasche, die Haustür war nie abgeschlossen, die meines Zimmers wellte sich wegen der Feuchtigkeit.

Du bist über dem Tisch eingeschlafen, glaube ich. Du hast die Augen nur halb geschlossen, es scheint fast, als würdest du mich ansehen. Ich bin versucht, dich hier dir selbst zu überlassen, in dein Schnarchen und die Winzigkeit deiner Hände versunken. Ich weiß nicht, was ich mit dir anfangen soll. Genauso wenig wie die andern. Aber ich bin da. Ich fasse dich unter den Armen, flüstere dir ins Ohr, im Bett sei es bequemer zum Schlafen, und bringe dich ins Zimmer. Wir torkeln durch die menschenleeren Gänge, wie zwei Freundinnen im Ausgang. Du bist viel leichter als ich und dennoch eine so große Last für uns.

Ich bitte die Krankenschwester, mir zu helfen, dich ins Bett zu legen. Ich stoße mir am Nachttisch den Ell­bogen. Du gehst mir auf die Nerven.

«Madame Favre, es ist bald Zeit zum Abendessen, Sie dürfen jetzt nicht schlafen. Soll ich Ihnen den Fernseher einschalten? Um diese Zeit kommt doch Ihre Serie, nicht? Und Ihre Enkelin ist hier.»

Sie zwinkert mir zu und schaltet den Fernseher ein.

Deine neue Zimmernachbarin stellt die Rückenlehne ihres Bettes hoch.

Du beachtest mich nicht mehr, und so streife ich meine Daunenjacke über. Meine Mütze habe ich zwischen den Falten deiner Bettwäsche verloren, ich lasse sie da.

Draußen ist es dunkle Nacht. Unter den Straßenlampen ist der Schnee gelb.

2

«Pst, Laura, komm mal gucken.»

Ich sitze an deinem Bett und lese dir vor, aber es sieht nicht so aus, als würdest du zuhören. Du richtest dich auf und lachst, zeigst auf den Becher, in den du die Nacht über dein Gebiss einlegst und der nun umgestürzt in einer Pfütze auf deinem Schoss schwimmt.

«Laura, schau, ein Schäfchen, es ist heute Nacht auf die Welt gekommen, genau wie Papa gesagt hat, es ist lustig, nicht, ganz stramm, es ist das Junge von der Lolotte, von der mit den schmerzhaften Zitzen, man wird sie gut massieren müssen, sonst wird sie es nicht säugen lassen. Schon drei von ihnen sind gestorben dieses Jahr, das ist nicht normal. Dem da darf ich einen Namen geben, es sieht mir kräftiger aus, Papa sagt, es wird durchkommen.»

Es klopft an die Zimmertür. Von Valeries und Hervés Mänteln tropft es, der Schnee schmilzt in der Wärme. Deine Tochter und ihr Mann schauen dich an, du merkst es nicht, du lachst wieder, sprichst mit deinem Becher. Vale­rie entrüstet sich, geht auf und ab, ruft nach der Krankenschwester, damit sie dich saubermacht, hängt ihre Jacke über die Lehne meines Stuhls, sucht im Badezimmer nach einer Blumenvase, zieht den Vorhang zu, der dich von deiner Nachbarin trennt, murmelt vor sich hin und küsst mich zur Begrüßung auf die Wangen. Hervé hat sich nicht gerührt, er tropft noch immer, scheint nie wieder trocken zu werden. Valerie will den Arzt sehen, doch der hat zu tun, die Krankenschwester sagt, er komme später vorbei. Valerie will, dass du ihr zuhörst, dass du ihr sagst, es sei alles in Ordnung.

Du lässt sie machen. Klein und sauber liegst du im Bett vergraben. Du scheinst nicht ganz zu verstehen, wer diese Leute sind, die mit dir über den Winter reden, der früh dran ist dieses Jahr und hart, über Madame Robert, die gestorben ist, über ihren Mann, der entschieden hat, zu Hause zu bleiben, und über ihre Tochter, die sich tagtäglich um ihn kümmert, welch ein Wahnsinn, über den Schlussverkauf, der bald zu Ende sein wird, und die zu eng anliegenden Hosen, über Marie, der es noch immer nicht besser geht, die ihre Lehrstelle aufgegeben hat und sich plötzlich für Tierfotos begeistert. Doch du hörst zu, und ich finde dich auf einmal schön, weil du so weit weg zu sein scheinst von all dem Klatsch, nah beim Winter und seiner rebellischen Kraft.

«Tierfotos sind doch was Gutes, oder nicht?»

Valerie schaut dich an, als hätte sie vergessen, dass du sprechen kannst. Sie scheint unschlüssig.

«Darum geht es nicht, Mama. Es ist schon das dritte Mal, dass sie aufgibt, was sie angefangen hat. Sie braucht Stabilität. Und sie braucht einen Beruf.»

Sie schaut dich wieder an, wie du strampelst, um deine Zehen aus dem Laken zu befreien, das dich wie eine Mumie umhüllt.

«Ich möchte gern eine Pedicure. Könnte das jemand für mich organisieren? Karminrot.»

Wieder zögert Valerie ein wenig, bevor sie antwortet. Sie scheint eine Falle zu wittern, dreht sich zu Hervé um, der eher amüsiert ist, macht sich nicht die Mühe, sich zu mir umzudrehen, betrachtet ihre eigenen Nägel, von denen der Perlmuttlack absplittert.

«Das kann ich dir doch selbst machen, Mama, so kommt es billiger.»

«Nein, ich will eine Fachperson. Und sag ihr, sie soll alle ihre Farben mitbringen, vielleicht überlege ich es mir anders.»

«Es schneit wieder», sagt Hervé, «wir sollten vielleicht nicht zu lange bleiben, ich habe schlecht geparkt.»

Du schaust den Flocken zu, es sieht aus, als würdest du sie verschlingen und kosten, dein Mund ist jetzt ganz entspannt. Du wartest, bis du sicher bist, dass alle ge­gangen sind, dann möchtest du auf den Toilettenstuhl gesetzt werden und flüsterst mir zu:

«Ich weiß nicht einmal, was das ist, Karminrot.»

Ich bin noch nicht wirklich bereit zu gehen, ich verlasse das Zimmer, während die Krankenschwester dich wäscht, ich helfe dir, dich auf dem Bett bequem einzurichten, und nehme meine Geschichte da wieder auf, wo ich stehengeblieben bin.

Der nächste Tag fing verkehrt an. Der Wind blies in die falsche Richtung, und der widerliche Geruch von Bratspeck lag in der Luft. Die Sonntage sind mir schon immer unstimmig vorgekommen. Das Meer war weit weg, kein übermütiger Gesang mehr, bloß noch das Plätschern ei­ner zu kleinen Flut, die sich lustlos zurückzog. Am Abend würde der Zug nach London überfüllt sein und die Stadt so groß, dass ihr die Einzelheiten abhandenkämen, eine Silhouette aus Beton und Bewegungen, eine schwindelerregende Ansammlung von Bahnen, die alle in dieselbe Richtung führen.

Der Strand war noch fast leer, als ich ankam. Es war wärmer, der Wind hatte nachgelassen. Die Steine fühlten sich lebendig an unter den Füßen, vielleicht nicht mehr ganz so weich, es war, als wollten sie etwas sagen. Ich ging über zahlreiche Grenzen.

Ich nahm seit vier Monaten Englischunterricht, im dritten Stock eines kleinen Londoner Hauses, dessen Teppich mir Lust machte, mich im Treppenhaus hinzulegen. Ich sah mich von oben, in der Mitte einer plattgedrückten und ausgeleierten Weltkarte voller Klebeband und unzählige Male falsch zusammengefaltet.

Das Meer erlaubt es, Verbindungen herzustellen. Zwi­schen den Orten und den Dingen. Zwischen den Leuten. Auch an Regentagen durchquerte ich den riesigen Bahnhof, stieg in den Zug, der in einer vibrierenden Flut seine Fahrgäste ausspuckte, und lief stundenlang über die Kiesel. Ich brauchte das, den Schrei der Möwen und den Wind, die Leute, die über das Wetter redeten, als hätten sie noch nie zuvor darüber gesprochen, und die nackten Hinterbacken eines exaltierten Strandbesuchers.

Hinter der Düne richtete sich unter den Sonnenschirmen der Tag ein, brachte seine Thermosflaschen mit Tee zum Vorschein und tauchte vorsichtig die Zehen ins Wasser. Die weißen Geschlechter wurden ausgepackt, zu weit voneinander entfernt, um sich zu bespähen. Wie würde ich mit der Landschaft verschmelzen, wenn ich mich dazugesellte? Meine Brüste sähen aus wie zwei weiche Steine, von einer Welle voller Abscheu ausgespuckt.

Der Hund vom Vortag war wieder da. Ich erkannte ihn an seinen kurzen Pfoten, die zwischen die Steine rutschten. Er schien älter heute, bedachter. Ich richtete mich auf und zog den Bauch ein. Mein Nackedei war diesmal bekleidet. Mit einem weißen Trainingsanzug, der ihn merkwürdigerweise elegant aussehen ließ. Seine Haare hatten dieselbe Struktur wie die seines Hundes. Er wäre beleidigt gewesen, wenn ich es ihm gesagt hätte. Aber es war hübsch. Ich fragte mich, ob er den Titel des Buches sehen konnte, das ich las, The Power of the Dog von Thomas Savage, und ob er es schon gelesen hatte. Ich hätte ihm erzählen können, dass es ein Geschenk meines Vaters sei, eine Geschichte über den Zorn und das weite Land, über Männer, die einander aus dem Weg gehen, und von nicht existierenden Frauen. Ich hätte ihm lachend sagen können, dass dies in gewisser Weise meinem eigenen Leben entsprach. Und ihn fragen, welches das weite Land und die Frauen in seinem Leben waren. Ich war froh, dass er etwas anhatte, so konnte ich mich auf seine langen, weißen Hände konzentrieren, die von unsichtba­ren Fäden ruckartig bewegt wurden. Ich konnte auf den flirrenden Linien seiner Umrisse verweilen. Und beim Gefühl eines leichten Ungleichgewichts, das von seiner Haltung ausging, von seinen zu dünnen Beinen und den Armen, die sich auf und ab bewegten, um das Taumeln auszubalancieren. Ein in Verwesung begriffenes Exem­plar. Fast war ich überrascht, dass sich seine Zehen im Salzwasser nicht auflösten.

Er ging an mir vorbei. Er sagte «It’s a beautiful day, isn’t it? It really feels like summer.»

3

Ich sehe dir beim Schlafen zu. Ich betrachte dich so lange, dass ich am Ende beinahe eine Ahnung davon habe, wer du wirklich bist. Du rührst dich kaum. Ich mache mit meinem Handy ein Foto von dir. Du liegst auf dem Rücken, die Hände sind gefaltet, das Gebiss hängt herunter wie bei einer Toten. Außer dass man bei Toten den Mund verschließt, damit sie friedlich aussehen im Sarg, so als schliefen sie. Vielleicht fändest du das genauso absurd wie ich, wenn ich mit dir darüber spräche. Vielleicht müsstest du lachen. Ich mag dein Lachen, es ist verschmitzt und echt.

Ich stöbere im Nachttisch. Ein Stofftaschentuch, gebügelt und gefaltet, Kreuzworträtsel, aus Zeitungen ausgeschnitten, zwei Bücher (Die Säulen der Erde von Ken Follet, das dir gut gefallen hat, und Rhapsodie der Nacht von Blaise Cendrars, das du in seinem zerrissenen Umschlagpapier gelassen hast, ich frage mich, wer dir das geschenkt haben mag, mein Vater vielleicht), zwei graue, perfekt ge­spitzte Bleistifte, ein Anspitzer, ein Gummi, drei Kassenzettel, ein Apfel, ein Kettchen und ein goldenes Kruzifix, vier Schokoladenstängel, eine Tafel Nougat mit Karamell. Du isst deine Süßigkeiten nie, du gibst sie den Kran­kenschwestern oder vergisst sie in deiner Schublade, bis ­Valerie sie findet und mitnimmt, um sie anderweitig zu verteilen. Ich esse einen Schokoladenstängel, einen grünen, und stecke einen blauen ein.

Beim Ausatmen strömt die Luft durch deine Lippen und lässt sie erzittern mit dem leisen Geräusch eines kaputten Schlauchs.

Ich langweile mich. Ich kann den Fernseher nicht einschalten, deine Zimmernachbarin findet, er sei zu laut, und hat dich gebeten, um diese Tageszeit nicht fernzusehen.

Ich könnte gehen. Dieses Zimmer verlassen und einfach losgehen, egal wohin. Aber es ist kalt draußen.

Ich gehe auf Facebook, lasse Bilder vorbeiziehen, Strände, Berge, Feste, Paare, Babys, ich lese einen Artikel, der erzählt, was aus den Stars von Baywatch geworden ist, noch einen über die terroristische Bedrohung und sage mir, dass niemand Fotos von seinen Großeltern im Krankenhausbett postet.

Mein Telefon klingelt, ich zucke zusammen, fürchte, es könnte dich wecken und ich müsste eine Beschäf­tigung für dich finden, für dich die leere Zeit ausfüllen, doch du rührst dich nicht, deine Lippen geben nur einen etwas lauteren Ton von sich, als hätte dein Schlauch plötzlich ein neues, größeres Loch. Es ist mein Vater, er hat ein paar freie Minuten zwischen zwei Terminen und sich gesagt, es sei schon eine Weile her, dass er mit mir gesprochen habe. Ich sage ihm, ich sei bei dir, er wundert sich, bin ich nicht schon letzte Woche mehrmals da gewesen?

«Ich komme oft.»

«Bist du denn nicht zu beschäftigt dafür? In deinem Alter hat man doch bestimmt Besseres zu tun, als die Zeit mit seiner Großmutter im Krankenhaus totzuschlagen?»

«Nein.»

Er beharrt nicht weiter.

«Es ist nett von dir. Ich würde auch gern öfter kommen, aber es ist schwierig, und manchmal habe ich den Eindruck, sie sei lieber allein. Und außerdem hat Valerie mir gesagt, es gehe ihr besser.»

Er fragt, ob mir England nicht fehle, und lädt mich für nächste Woche zum Abendessen ein, falls ich nicht zu sehr beschäftigt bin. Nein, bin ich nicht, ich komme gerne, ich bringe den Nachtisch mit.

«Auf Nachtische verstehst du dich. Du machst ein leckeres Tiramisu mit Himbeeren, ja?»

«Nein, das ist Valeries Spezialität. Aber ich habe in England gelernt, Cheesecake zu backen.»

«Ah, das habe ich noch nie probiert.»

Ich höre seinen Atem, sein Mund ist nah am Apparat. Er hustet ein wenig, entschuldigt sich, er muss sich schnäuzen.

«Bist du krank?»

«Bloß eine leichte Grippe, die sich hinzieht.»

Wieder sein Atem, dann:

«Und dir geht es gut?»

«Ja, ja, mir geht es gut.»

«Schön.»

«Und dir, geht es dir gut?»

«Ja, es geht. Bei der Arbeit auch. Der Ruhestand rückt näher, es bleibt mir nur noch ein Jahr. Aber das wird bestimmt merkwürdig sein, ich habe mein ganzes Leben gearbeitet, ich bin nicht sicher, ob ich weiß, wie das ohne geht.»

Ich für meinen Teil freue mich bereits auf die Rente, mir kommt es eher eigenartig vor, das ganze Leben zu arbeiten.

Als ich auflege, hast du die Augen geöffnet, lächelst mich an.

Ich frage mich, ob du jemals wieder kochen wirst, ob du noch genug Kraft findest, dieser Leidenschaft nachzu­gehen, die der Teil von dir bleibt, den ich am besten kenne, deine Soßen köcheln, hübsche Rezepte aus der Betty-Bossi-Zeitung ausschneiden, deine Terrinen zubereiten, sie kunstgerecht würzen, voller Hingabe, Tag für Tag, Mahlzeit für Mahlzeit dieselben Gesten wiederholen, dieselben Gemüse und dasselbe Hähnchen schneiden, dieselbe Packung Sahne und dieselbe Tüte Reis, denselben Backofen und dasselbe Fenster öffnen, um den Raum zu lüften.

Du möchtest, dass ich den Fernseher einschalte, aber ich erinnere dich an die Bitte deiner Nachbarin, du murrst ein wenig. «Der Winter ist lang, er ist mir immer lang vorgekommen.»

Der kostenlose Auszug ist beendet.

€17,90

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0+
Umfang:
110 S. 1 Illustration
ISBN:
9783038551393
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Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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